Urteil des LSG Bayern vom 18.04.2007

LSG Bayern: aufschiebende wirkung, vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, prozessfähigkeit, campingplatz, anfechtungsklage, unterkunftskosten, kauf, zivilprozessordnung, obsiegen

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 18.04.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 10 AS 237/06 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 11 B 878/06 AS ER
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 30.10.2006 teilweise
aufgehoben. II. Die aufschiebende Wirkung der vor dem Sozialgericht Würzburg unter Aktenzeichen S 10 AS 279/06
erhobenen Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.07.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 08.04.2006 wird angeordnet. III. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem
Antragsteller ab sofort Leistungen in Höhe von 242,00 EUR monatlich zu erbringen bis zur Entscheidung über den
Antrag des Klägers bei der Beklagten auf Leistungen vom 16.06.2006. IV. Im Übrigen wird die Beschwerde
zurückgewiesen. V. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu einem Drittel zu
erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller (ASt) begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) als Alleinstehender.
Der 1947 geborene ASt bezog vom 01.01.2005 bis 30.06.2006 von der Antragsgegnerin (Ag) Leistungen. Seit der
Zwangsräumung seiner Wohnung im April 2006 lebte der ASt auf einem Campingplatz in K ...
Den Antrag vom 16.06.2006 auf Bewilligung von Leistungen ab dem 01.07.2006 lehnte die Ag mit Bescheid vom
10.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2006 mangels ausreichender Mitwirkung an der
Sachaufklärung gemäß § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ab. Mit Schreiben vom 20.06.2006 hatte die Ag
den ASt vergebens aufgefordert, am 28.06.2006 bei der Beklagten vorzusprechen mit der Begründung "in Ihrer
Leistungsangelegenheit ist eine persönliche Unterredung mit Ihnen notwendig". Mit Schreiben vom 03.07.2006 hatte
die Ag den ASt mit gleichlautender Begründung für eine Unterredung am 10.07.2006 einbestellt, zu der er ebenfalls
nicht erschienen ist. Aufgrund des Nichterscheinens an beiden Terminen versagte die Ag im Bescheid Leistungen ab
dem 01.07.2006.
Hiergegen hat der ASt Klage im Wege der Klageerweiterung bezüglich einer bereits unter Az. S 10 AS 304/06 beim
Sozialgericht Würzburg (SG) rechtshängigen Klage mit Schriftsatz vom 14.07.2006 erhoben und einstweiligen
Rechtsschutz dahingehend begehrt (Az: S 10 AS 374/96 ER), ihm Leistungen ab 01.07.2005 zu bewilligen. Das
Widerspruchsverfahren wurde während des Klageverfahrens nachgeholt mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2006.
Das SG hat die bereits rechtshängigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 10 AS 237/06 ER und S 10 AS 297/06
mit diesem Verfahren verbunden. Das Verfahren S 10 AS 304/06 ist zur Prüfung der Prozessfähigkeit des ASt
ausgesetzt.
Im Verfahren S 10 AS 297/06 ER begehrt der ASt zusätzlich, die Ag im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, ihm einen Betrag von 3.000,00 bis 4.000,00 EUR zum Kauf eines Wohnwagens zu zahlen, ihm alle
Kosten für Krankenhauszahlungen, Medikamente und Fahrten zum Arzt zu erstatten, ihm Verletztengeld gemäß § 46
SGB VII zu zahlen, einen sofortigen Sozialplan zur Wiedereingliederung durch die Ag gemeinsam mit der AOK Bayern
(Geschäftsstelle A.) sowie der Deutschen Rentenversicherung Unterfranken in W. zu erstellen.
Im Verfahren S 10 AS 237/06 ER verfolgt der ASt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes das Ziel, die Ag zu
verpflichten, dem ASt einen Betrag von 2.500,00 EUR zum Kauf eines Wohnwagens sowie von Sachleistungen für die
Unterkunft auf dem Campingplatz in K. zu zahlen. Die Klage war bereits am 06.07.2006 beim SG erhoben worden, der
Widerspruchsbescheid jedoch erst am 04.08.2006 im Laufe des Verfahrens ergangen.
Der Außendienst der Ag stellte - so das Schreiben der Ag vom 03.04.2007 - fest, dass sich der ASt derzeit auf dem
Campingplatz K. befindet und dort gemeinsam mit einer Frau K. in deren Campingwagen lebt.
Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens hat die Ag mitgeteilt, es müsse noch geprüft werden, ob eine
Betreuung bestehe und (ggf) Hilfebedürftigkeit wegen Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft sowie mangels
Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Partnerin zu verneinen sei.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf die Beklagtenakten sowie die Gerichtsakten der
genannten Verfahren.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig; das SG hat
ihr nicht abgeholfen (§ 174 SGG). Das Rechtsmittel erweist sich teilweise als begründet.
Die Entscheidung im Eilverfahren kann auch trotz Zweifeln an der Prozessfähigkeit des ASt ergehen, da dieser bis
zur Klärung der Prozessfähigkeit als prozessfähig anzusehen ist und in der Hauptsache nicht abschließend
entschieden wird.
1. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist im Hinblick auf den Versagungsbescheid vom 10.07.2006 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2006 begründet.
Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vor dem SG Würzburg S 10 AS 304/06 wird nach §86b Abs 1 Satz
1 Nr 2 SGG angeordnet.
Streitgegenstand ist insoweit allein die Ablehnung der begehrten Leistungen mangels Mitwirkung gemäß § 66 SGB I.
Zulässige Klageart gegen einen solchen Bescheid ist die reine Anfechtungsklage (Beschluss des Senates vom
13.02.2007, Az. L 11 B 51/07 AS ER); die Ag hat nämlich keine Beweislastentscheidung getroffen und ist vielmehr
gemäß § 66 SGB I vorgegangen. Damit kann der ASt hinsichtlich des Versagungsbescheides nicht auf Leistung
klagen, sondern lediglich die Aufhebung des angegriffenen Bescheides begehren. Hat er damit Erfolg, so muss die Ag
abschließend erneut über das Bestehen des Anspruchs entscheiden. Vorläufiger Rechtsschutz kann damit nur im
Wege der Anordnung der aufschiebenden Wirkung gewährt werden (vgl. § 39 Nr 1 SGB II).
Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen, denn eine Versagung von Leistungen ab dem 01.07.2006 wegen fehlender
Mitwirkung war nicht rechtmäßig. Die Schreiben der Ag, mit denen sie den ASt zur Vorsprache aufforderte, waren
nicht hinreichend bestimmt. Nachdem der ASt zahlreiche Leistungen von der Ag begehrte, insbesondere auch
einmalige Leistungen in Bezug auf die Anschaffung eines Campingwagens, war der bloße Hinweis auf die
"Leistungsangelegenheit" in beiden Schreiben nicht klar genug, damit der ASt erkennen konnte, dass es in diesen
Besprechungen um die Bewilligung laufender Leistungen ab 01.07.2006 gehen sollte.
2. Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG ist die Ag in einem zweiten Schritt darüber hinaus zu verpflichten, dem ASt ab dem
Zeitpunkt der Entscheidung im Beschwerdeverfahren vorläufig Leistungen in Höhe von 242,00 EUR monatlich so
lange zu erbringen, bis die Ag über den Antrag des ASt vom 16.06.2006 erneut entschieden hat.
Zur vorläufigen Leistungserbringung kann die Ag aufgrund des Leistungsantrags des ASt vom 16.06.2006 verpflichtet
werden, nachdem unter 1. dieses Beschlusses die aufschiebende Wirkung des Versagungsbescheides angeordnet
wurde. Nunmehr ist eine Entscheidung der Ag über den Antrag auf Leistungen nicht getroffen, über den Antrag ist
noch zu entscheiden. Einstweiliger Rechtsschutz ist insoweit nach § 86b Abs 3 SGG vor Klageerhebung zulässig.
Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.
Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa
dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare
Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so
BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003,
1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl, Rdnr 643).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und
das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den er sein Begehren
stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs
2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8.Aufl, § 86b Rdnr 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und
Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht (BverfG) vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005, Breith 2005,
803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre
eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden
Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der
Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen
in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu
beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen
Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt
BVerfG vom 15.01.2007 -1 BvR 2971/06-).
a) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist dem Kläger vorläufig der Regelsatz anteilig zu gewähren. Nach
Einschätzung der Ag besteht Hilfebedürftigkeit lediglich dann nicht, wenn der ASt, der früher Leistungen bezogen und
damit hilfebedürtig war, derzeit in einer Einstehensgemeinschaft lebt. Angesichts dieser Unsicherheit im Hinblick auf
das Bestehen eines Anordnungsanspruchs sind geringe Anforderungen an den Anordnungsgrund zu stellen. Der
Anordnungsgrund ergibt sich schon daraus, dass der ASt derzeit keine Leistungen bezieht und früher im
Leistungsbezug bei der Ag war.
Allerdings darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Breith 2005, 803) diesbezüglich die
Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Es ist ein Abschlag vom Regelsatz vorzunehmen, wobei regelmäßg 30
% sachgerecht erscheinen (vgl. auch § 31 Abs 1 Satz 1 SGB II, wo der Gesetzgeber eine 30-prozentige Absenkung
für hinnehmbar hält). Bei einem Regelsatz von 345,00 EUR sind demgemäß 242,00 EUR (gerundet nach § 41 Abs 2
SGB II) als vorläufige Leistung zu gewähren.
Leistungen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind dem ASt jedoch erst ab Entscheidung des Senats zu
gewähren, denn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats sind für vergangene Zeiträume keine Leistungen im
Eilverfahren zuzusprechen und besondere Umstände, die eine andere Entscheidung erforderlich machen würden, sind
nicht ersichtlich.
b) Die Bewilligung von Unterkunftskosten scheitert bereits am Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Nach den
Ermittlungen der Ag lebt der ASt derzeit zusammen mit der Eigentümerin des Wohnwagens in einem Wohnwagen. Er
hat bislang nicht glaubhaft gemacht, dass ihm derzeit Unterkunftskosten entstehen.
3. Bezüglich der weiteren, zahlreichen vom ASt verfolgten Ziele hat die Bechwerde keinen Erfolg. Denn hierbei
handelt es sich jeweils um die Bewilligung von einmaligen Leistungen bzw. Beihilfen oder Leistungen ohne
existenzsichernden Charakter, bezüglich derer der ASt zumutbar auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden
kann, nachdem der ASt aufgrund dieses Beschlusses existenzsichernde Leistungen vorläufig erhält.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Dabei ist berücksichtigt, dass der
ASt zahlreiche erfolglose Begehren verfolgt und im Schwerpunkt seines Begehrens, nämlich die Gewährung laufender
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes lediglich bezüglich des Regelsatzes, nicht aber der
Unterkunftskosten Erfolg hat.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.