Urteil des LSG Bayern vom 09.05.2001

LSG Bayern: berufliche tätigkeit, belastung, anerkennung, bfa, einwirkung, wahrscheinlichkeit, entstehung, versorgung, entschädigung, bandscheibenvorfall

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.05.2001 (rechtskräftig)
S 5 U 188/99
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 168/00
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.02.2000 aufgehoben und die Klage gegen den
Bescheid vom 26.10.1994 in der Gestalt des Widerspruchbscheides vom 16.02.1995 abgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Wirbelsäulenleiden der Klägerin als Berufskrankheit (BK) anzuerkennen
und zu entschädigen ist.
Die am 1940 geborene Klägerin war ab April 1970 als Krankenpflegeschülerin, ab 1973 als Krankenschwester in der
Universitätsklinik W. - Urologischer Bereich - beschäftigt. Sie musste dabei Patienten ebenso wie Kanister für
Spüllösungen und Flaschenkästen heben und tragen. Seit 17.05.1990 war sie arbeitsunfähig krank, ua wegen
Operation eines subligamentär sequestrierten Bandscheibenprolapses bei L4/5 rechts. Zum 30.04.1991 ist sie aus
dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bezieht sie seit
Dezember 1990 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer. Bereits 1980 machte die Klägerin starke
Lendenwirbelsäulen (LWS)-Beschwerden geltend (Befundbericht der Internistin Dr.H.W. [Würzburg] vom 23.01.1981).
Am 08.02.1993 beantragte die Klägerin die Anerkennung ihrer Wirbelsäulenbeschwerden als BK nach Nr 2108 der
Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO). Zur Aufklärung des Sachverhalts zog die Beklagte einen
Befundbericht des Orthopäden Dr.B.H. (Würzburg) vom 04.06.1993, eine Krankheitsauskunft der DAK Würzburg vom
21.10.1993 sowie die medizinischen Unterlagen der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität W. und der
BfA zum Verfahren bei. In der ärztlichen Stellungnahme vom 24.05.1994 sah Dr.H. (Bayer. Landesinstitut für
Arbeitsmedizin) die Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK mangels einer wesentlichen
bandscheibengefährdenden Tätigkeit in der urologischen Station als nicht gegeben an.
Mit Bescheid vom 26.10.1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung einer BK ab, da nicht von
einer häufigen bzw regelmäßigen langjährigen wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit durch schweres Heben oder Tragen
auszugehen sei (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 16.02.1995).
Gegen diese Bescheide hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und beantragt, ihre
Wirbelsäulenerkrankung als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen und mit einer Verletztenrente von
mindestens 20 vH ab frühestmöglichen Zeitpunkt zu entschädigen. Sie hat vorgetragen, dass
Bandscheibenerkrankungen bei Krankenschwestern am häufigsten das Segment L5 beträfen. Ein mehrsegmentaler
Befall trete typischerweise nicht auf.
Auf Anfrage des SG hat die Beklagte nach Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom
18.12.1995 mit Schreiben vom 21.12.1995 die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK Nr 2108
bejaht.
Anschließend hat das SG ein Gutachten des Chirurgen Dr.K.S. (Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus H.)
mit radiologischem Zusatzgutachten des Dr.A.M. eingeholt. In dem Gutachten vom 14.08.1997/14.12.1997 hat dieser
ausgeführt, dass bei der Klägerin eine Bandscheibendegeneration L4/5, Zustand nach zweimaliger Operation eines
Bandscheibenvorfalles L4/L5 sowie Bandscheibendegenerationen mit Spondylosis deformans und mäßiggradiger
Osteochondrose in den Segmenten BWK 12/ LWK 1, LWK 1/2, LWK 2/3, LWK 3/4 und LWK 5/SWK 1 vorliegen. Im
Segment L4/L5 handele es sich um eine bandscheibenbedingte Erkrankung. Die nachgewiesene hohe berufliche
Belastung iVm epidemiologischen Fakten bei fehlenden konkurrierenden Ursachen machten einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen der beruflichen Belastung der Klägerin und der bandscheibenbedingten Erkrankung
wahrscheinlich. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde mit 10 vH eingeschätzt.
In einem nervenärztlichen Gutachten vom 24.10.1997 hat Dr.K.-U.O. (Würzburg) bemerkt, dass sich auf
neurologischem Gebiet lediglich eine diskrete Hypästhesie und Hypalgesie im Bereich des Fußrückens und der
Großzehe rechts finde, die Folgen des 1990 erlittenen Bandscheibenvorfalls seien. Der Bandscheibenvorfall sei nicht
durch die berufliche Tätigkeit iS der BK Nr 2108 verursacht oder verschlimmert worden.
Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr.B.B. (Oberhaching) vom 09.02.1998 sowie
Beiziehung der Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg, der
medizinischen Unterlagen der BfA, der HV-Entlassungsberichte der Klinik H. vom 02.08.1990/08.04.1993 und eines
Befundberichtes des Dr.B.H. vom 10.01.2000 hat das SG Würzburg mit Urteil vom 24.02.2000 die
Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ab 17.05.1990 anerkannt - ohne
rentenberechtigende MdE. Es hat sich vor allem auf das Gutachten des Dr.S. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, die medizinische Zusammenhangsfrage
könne nicht bejaht werden. Eine berufsbedingte Entstehung der lumbalen Bandscheiben-Erkrankung sei aufgrund
konkurrierender Faktoren nicht hinreichend wahrscheinlich.
Der Senat hat nach Beiziehung der einschlägigen Röntgen- und CT-Aufnahmen ein Gutachten des Orthopäden Dr.V.F.
(München) vom 05.03.2001 eingeholt, der ausgeführt hat, zweifelsohne sei eine bandscheibenbedingte Erkrankung
zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbelkörper gesichert. Auch überschreite sie das altersdurchschnittlich zu
erwartende Ausmaß. Das Verteilungsmuster der Bandscheibenschäden, insbesondere stark ausgeprägter
Bandscheibenverschleiß zwischen dem sechsten und siebten Halswirbelkörper sowie Gesundheitsstörungen an der
Brustwirbelsäule sprächen aber gegen eine Korrelation von beruflicher Einwirkung und Lokalisation der
Veränderungen. Auch sei der zeitliche Zusammenhang zwischen Einwirkung und Schadensbild nicht gesichert, da
bereits 1980 Wirbelsäulenbeschwerden aufgetreten seien. Zudem dürften konkurrierende Ursachenmöglichkeiten nicht
übersehen werden. Auffallend sei der etwa gleichmäßige Befall aller drei Wirbelsäulenabschnitte. Mehrfache
szintigraphische Untersuchungen hätten multiple degenerative Veränderungen in vielen Skelettbereichen ergeben.
Danach liege bei der Klägerin eine Neigung zur Entwicklung degenerativer Veränderungen des Skelettsystems ohne
äußere Einflüsse vor. Hinzu komme die mehrfach abgesicherte Fettstoffwechselstörung. Eine asymmetrische
Belastung der letzten Bandscheibe sei durch die Fehlstatik des Beckens nachgewiesen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 24.02.2000 insoweit aufzuheben, als die Beklagte verurteilt
wird, unter Abänderung des Bescheides vom 26.10.1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 16.02.1995 die
Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin als BK ab 17.05.1990 anzuerkennen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 24.02.2000
zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Akten der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die
Akten des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg und der BfA Berlin Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und auch begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung und Entschädigung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der
LWS als BK. Der Bescheid der Beklagten vom 26.10.1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 16.02.1995 ist
entgegen der Auffassung des SG nicht zu beanstanden.
Der Anspruch der Klägerin ist noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu beurteilen, da
eine etwaige BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 01.01.1997
eingetreten wäre (Art 36 des Unfallversicherungseinordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO sind BKen die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit
Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO
benannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der Nr 2108 der
Anlage 1 zur BKVO "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer
Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich
waren oder sein können". Die Feststellung der BK setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK erfüllt sein müssen, zum anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und
dieses iS der unfallrechtlichen Kausalitätslehre mit Wahrscheinlichkeit auf die wirbelsäulenbelastende berufliche
Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl Kasseler Kommentar - Ricke - § 9 SGB VII RdNr 11; Brackmann/Krasney, Handbuch
der Sozialversicherung Bd 3 - Stand 1997 -, § 9 SGB VII RdNr 21 ff). Schließlich muss die schädigende Tätigkeit
aufgegeben sein. Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger
Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht
zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl ua BSG vom 18.11.1997, SGb
1999, 39). Eine Möglichkeit verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-
wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel
hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Schiecke/Mehrtens, Unfallversicherung, § 9 SGB
VII Anm 10.1 mwN). Die Beweislast dafür, dass die Erkrankung der LWS durch arbeitsplatzbezogene Einwirkungen
verursacht worden ist, trägt der Versicherte.
Nach den derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen, um
eine beruflich bedingte Verursachung der Bandscheibenschäden anzunehmen (siehe auch LSG-Rh-Pf. vom
02.02.1999 - L 3/U 276/97): - Belastungstypisches Schadensbild mit von unten nach oben ab nehmenden Schäden
(lokale Korrelation des Schadensbildes mit der beruflichen Einwirkung), - Auftreten der Beschwerden nach einer
beruflichen Belastung von mehr als 10 Jahren sowie eine plausible zeitliche Korre lation der Entwicklung des
Schadensbildes mit den gesicherten beruflichen Belastungen, - altersvorauseilender Verschleiß, - Fehlen
konkurrierender Verursachungsmöglichkeiten statischer, entzündlicher bzw anlagebedingter Genese.
Im vorliegenden Fall erfüllt die Klägerin nach den Angaben des TAD vom 18.12.1995 die arbeitstechnischen
Voraussetzungen zur Feststellung einer BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO. Auch leidet die Klägerin an einer
bandscheibenbedingten Erkrankung, wie sich aus den Gutachten des Dr.S. vom 14.08.1997 und Dr.F. vom
05.03.2001 ergibt. Die Erkrankung der LWS hat auch zur Aufgabe der Tätigkeit der Klägerin geführt.
Ein wahrscheinlicher Ursachenzusammenhang zwischen dem Bandscheibenschaden der Klägerin -
Bandscheibenvorfall mit Reprolaps zwischen dem 4. und 5.LWK, der einen altersvorauseilenden Befund darstellt - und
der beruflichen Tätigkeit ist nach Auffassung des Senats, der der überzeugenden und sich an der wissenschaftlichen
Lehrmeinung orientierenden Auffassung des Dr.F. folgt, jedoch nicht gegeben. Es liegt zum einen kein
belastungstypisches Schadensbild vor. Nach experimentellen Untersuchungen ist zu erwarten, dass von beruflichen
Expositionen die gesamte LWS in von unten nach oben abnehmender Intensität betroffen sein müsste. Gleichmäßig
starke Veränderungen der Bandscheiben über zwei oder drei Wirbelsäulenabschnitte sprechen gegen eine berufliche
Verursachung (Hax in Gutachtenskolloquium Nr 13, NZS Heft 10/2000 Bl 515/516). Bei der Klägerin liegt neben dem
Bandscheibenverschleiß zwischen dem 4. und 5.LWK ein ebenso stark ausgeprägter Bandscheibenverschleiß
zwischen dem 6. und 7.HWK vor. Auch an der Wirbelsäule sind zwei der mittleren Bandscheiben nach Scheuermann
scher Erkrankung eingeengt. Lediglich die Randspornbildungen an der LWS sind stärker ausgeprägt, wobei es sich
höchstwahrscheinlich um ein metabolisches Syndrom handelt. So spricht das Verteilungsmuster der
Bandscheibenschäden der Klägerin nicht für eine Korrelation zwischen beruflicher Einwirkung und Lokalisation der
Veränderung. Der Auffassung des Dr.S. , der sich im Wesentlichen darauf bezieht, dass im Pflegeberuf besonders die
Segmente L4/5 und L5/S1 von Erkrankungen betroffen seien, folgt der Senat nicht. Da auch nach seiner Meinung die
Manifestationsform als auch das Verteilungsmuster von Bandscheibenschäden keine signifikanten Unterschiede
zwischen der berufsbelasteten und der nicht belasteten Gruppe erkennen lassen (K.Seide ua, Ergebnisse der
Begutachtung zur BK 2108 bei Pflegekräften, in: Hierholzer/Kunz/ Peters [Herausgeber], Gutachtenskolloquium 13),
handelt es sich lediglich um eine Bestätigung der Statistik, die auch bei unbelastetenden Personen angetroffen wird.
Keineswegs kann daraus der Schluss gezogen werden, dass speziell Pflegeberufe in den beiden untersten
Segmenten der LWS von Bandscheibenvorfällen in hervorragendem Maße betroffen werden.
Der zeitliche Zusammenhang des Auftretens der Beschwerden nach mehr als zehnjähriger Belastung ist nicht
gegeben, da sich bei der Klägerin erste Wirbelsäulenbeschwerden bereits 1980 bemerkbar machten und zwar
schweren, therapieresistenten Ausmaßes (Befundbericht Dr.V.W. vom 23.01.1981). 1980 stellte die Klägerin
dementsprechend einen Antrag auf Anerkennung von Wirbelsäulenschäden nach dem Schwerbehindertengesetz, die
1981 auch anerkannt wurden.
Hinzu kommen nicht berufsbedingte konkurrierende Erkrankungen der Klägerin. So liegt eine Fettstoffwechselstörung
vor, die als ursächlich für die Entstehung von Verschleißerscheinungen gilt - wie sie bei der Klägerin im Bereich der
Schultern, der Hals- und Wirbelsäule, der Knie- und Sprunggelenke sowie des linken Ellenbogengelenks - wie Dr.F.
darlegt - bestehen. Der Verschleißschaden wird auch gefördert durch den bestehenden Beckenschiefstand mit
eindeutigen fehlstatischen Auswirkungen auf die Kreuzdarmbeinfuge und die Entwicklung einer linkskonvexen
seitlichen Verbiegung vor allem im untersten Abschnitt der LWS.
Da Dr.S. den fehlenden zeitlichen Zusammenhang nicht berücksichtigt hat und konkurrierende
Verursachungsmöglichkeiten nicht diskutiert, hielt der Senat auch aus diesem Grund seine Beurteilung nicht für
überzeugend. Nach alledem konnte das Urteil des SG keinen Bestand haben, sondern es war aufzuheben. Die Klage
der Klägerin gegen den Bescheid vom 26.10.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.02.1995 war
abzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.