Urteil des LSG Bayern vom 19.10.2004

LSG Bayern: vertretung, hauptsache, beweisanordnung, anerkennung, form, prozessrecht, entschädigung, absicht, bestandteil, gerichtsverfahren

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 19.10.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 2 U 423/00
Bayerisches Landessozialgericht L 17 B 258/04 U PKH
I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 insoweit aufgehoben,
als es den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hat. II. Der Klägerin wird für das
sozialgerichtliche Verfahren antragsgemäß ab 11.07.2001 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt V. M.
beigeordnet.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt mit ihrer Beschwerde die Aufhebung der Ablehnung der Prozesskostenhilfe (PKH) mit Urteil des
Sozialgerichts Nürnberg vom 16.12.2003 und die Beiordnung des Rechtsanwaltes V. M ...
Die Beklagte lehnte nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens des Dr.F. vom 07.12.1999/21.01.2000 und
eines fachchirurgischen Gutachtens des Dr.B. vom 07.04.2000 mit Bescheid vom 16.05.2000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 16.11.2000 die Anerkennung und Entschädigung einer Halswirbelsäulen-Erkrankung als
Arbeitsunfall ab. Im zwischenzeitlich rechtskräftig abgeschlossenen Hauptsacheverfahren S 2 U 423/00 vor dem
Sozialgericht Nürnberg (SG) hat die Klägerin die Anerkennung und Entschädigung einer Schädigung der
Halswirbelsäule auf Grund eines Wegeunfalles vom 12.07.1999 begehrt. Mit Schriftsatz vom 11.07.2001 hat sie die
Gewährung von PKH unter Beifügung des Erklärungsformulars über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
beantragt. Am 17.10.2001, 04.02.2002, 11.03.2002, 23.05.2002 und 27.03.2003 hat die Klägerin die Gewährung der
PKH beim SG moniert. Ein Hinweis des SG, weshalb es über den Antrag nicht entschieden hat, ist an die Klägerin
nicht ergangen. Das SG hat mit Beweisanordnung vom 25.09.2001 ein Sachverständigengutachten des Prof. Dr.L.
vom 25.02.2002/16.06.2002/17.03.2003 eingeholt. Dieser hat das vorübergehend eingetretene Beschwerdebild an der
Halswirbelsäule auf das Ereignis vom 12.07.1999 zurückgeführt. Der beratende Arzt der Beklagten, Prof. Dr.H. , hat
dem Gutachten des Prof. Dr.L. widersprochen. Prof. Dr.L. hat an seiner Beurteilung festgehalten. Das SG hat die
Klage mit Urteil vom 16.12.2003 abgewiesen und ist im Wesentlichen den Bescheiden der Beklagten gefolgt. Die
Bewilligung von PKH hat es im Urteilstenor unter III. abgelehnt. In den Entscheidungsgründen hat es hierzu
sinngemäß ausgeführt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr.L. nicht habe folgen können. Bei richtiger Einschätzung
wäre der Antrag auf PKH auch im Zeitpunkt seiner Antragstellung abzuweisen gewesen. Das Gericht hätte auch
bereits dem Gutachten des Dr.B. folgen können, so dass die Klage von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg gehabt
hätte. Das Gesetz kenne auch keinen Zeitpunkt für den Erlass des PKH-Beschlusses.
Gegen die Ablehnung der PKH hat die Klägerin Beschwerde eingelegt und beantragt, ihr für die erste Instanz
rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung PKH zu gewähren und Rechtsanwalt V. M. beizuordnen. Sie machte
geltend, dass der Antrag auf PKH dann entscheidungsreif sei, wenn sämtliche Unterlagen durch den Antragsteller
vorlägen. Dies sei am 11.07.2001 der Fall gewesen. Der Entscheidung sei der Kenntnisstand zur Zeit der
Entscheidungsreife zugrundezulegen. Im Zeitpunkt der verzögerlichen Entscheidung bereits eingeholte Gutachten
seien bei der Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht des Prozesses nicht zu berücksichtigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Beschwerde der Klägerin zurückzuweisen.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die Beschwerde der Klägerin ist gem. § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Entscheidet das SG über ein PKH-
Gesuch inkorrekt im Urteil anstatt durch Beschluss, ist die Beschwerde das zulässige Rechtsmittel. Die Rechtskraft
eines abschlägigen Urteils steht einer sachlichen PKH-Beschwerdeentscheidung ausnahmsweise nicht entgegen,
wenn das SG über den rechtzeitig und vollständig gestellten PKH-Antrag so spät entschieden hat, dass eine
Beschwerdeentscheidung vor Abschluss der Instanz nicht mehr ergehen konnte (LSG für das Land Niedersachsen,
Breithaupt 1995, 735). Das SG hat über die Frage der Gewährung von PKH nicht durch Beschluss, sondern durch
Urteil entschieden. Danach wäre die Beschwerde unstatthaft. Im Prozessrecht ist jedoch allgemein anerkannt, dass
die inkorrekte Form einer Entscheidung nicht zum Ausschluss eines sonst zulässigen Rechtsmittels führen darf
(Grundsatz der Meistbegünstigung, BSG SozR 3-1720 § 17 a Nr 1 mwN). Die Beschwerde ist auch im Übrigen form-
und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG).
Die Beschwerde ist begründet. Nach § 73 a Abs 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter,
der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil
oder in Raten aufbringen kann (= persönliche Voraussetzungen) auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (= sachliche Voraussetzung).
Ist eine Vertretung durch Anwälte - wie hier - nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag nach § 121 Abs 2
ZPO ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn u.a. die Vertretung durch einen
Rechtsanwalt erforderlich erscheint.
Diese Voraussetzungen zur Gewährung von PKH waren hier erfüllt. Die Entscheidung des SG ist in mehrfacher
Hinsicht rechtsfehlerhaft.
Die Ablehnung der Gewährung von PKH beruht auf einer Verletzung des Verfassungsgrundsatzes des rechtlichen
Gehörs. Das SG hat diesen Grundsatz dadurch verletzt, dass es über den Antrag auf PKH zusammen mit der Klage
entschieden hat. Es stellt einen von Amts wegen zu beachtenden Mangel im Verfahren dar, wenn ein Gericht einem
Rechtsuchenden die Möglichkeit abschneidet, seine Entscheidung, wie es vom Gesetzgeber vorgesehen ist, durch
das Rechtsmittelgericht überprüfen zu lassen, bevor über die Sache, für deren Durchführung die Entscheidung begehrt
worden ist, entschieden ist (ebenso LSG Hamburg, Urteil vom 05.01.1983 in "Die Sozialversicherung" August 1983, S
216). Sinn und Zweck des PKH-Verfahrens sind nur dann erfüllt, wenn über dieses vorrangig rechtzeitig vor dem
Verfahren in der Hauptsache entschieden wird. Nur so ist gewährleistet, dass es dem Rechtsuchenden noch möglich
ist, das Verfahren durch weiteren Sachvortrag zu seinen Gunsten vorzubereiten (aaO und BayLSG Urteile vom
17.10.2001 Az: L 18 U 121/01 Juris Nr: BYRE030213172 und vom 25.06.2004 Az: L 18 V 8/04 Juris Nr:
BYRE040953377).
Das Vorgehen des SG (Entscheidung über das Gesuch auf Gewährung von PKH nach zweieinhalb Jahren im
klageabweisenden Urteil; keine Benachrichtigung der Klägerin trotz fünfmaligem Monieren der Entscheidung)
widerspricht zugleich einer am Rechtsstaatprinzip orientierten Verfahrensführung und stellt auch aus diesem Grund
einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE
46, 325-337; 49, 220-243; 51, 150, 156) gehört der Anspruch auf eine "faire" Verfahrensführung zu den wesentlichen
Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, wie es in Artikel 20 Abs 3 Grundgesetz verankert ist. Das Prozessrecht der
Sozialgerichtsbarkeit sieht in § 73 a SGG iVm §§ 114 ff ZPO die Möglichkeit der PKH vor, um jedem Bürger ein
gewisses Maß an Chancengleichheit bei der Wahrnehmung seiner Interessen vor Gericht zu gewährleisten. Zu den
Pflichten des Gerichts gehört es aber nicht nur über den Antrag auf Bewilligung von PKH (§ 117 ZPO) zu entscheiden
(§ 127 ZPO), sondern auch dem Antragsteller die Beschwerde gegen eine ablehnende Entscheidung mit dem Ziel zu
ermöglichen, diese durch das Berufungsgericht korrigieren zu lassen. Nur auf diese Weise kann eine durch das
Beschwerdegericht erfolgte Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses und Bewilligung von PKH ihre Wirkung im
Prozess vor dem SG entfalten. Bei der vom SG praktizierten Verfahrensweise kann eine Beschwerde die ihr
zugedachte Funktion, nämlich eine mögliche Korrektur der Ablehnungsentscheidung v o r der Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr erfüllen. Der Rechtsbehelf eines Beschwerdeführers würde daher ins Leere laufen. Eine solche
Vorgehensweise des SG ist mit einer fairen Prozessführung nicht vereinbar (ebenso OLG des Landes Sachsen-Anhalt
FamRZ 2000, 106).
Wegen dieser wesentlichen Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung des SG beruht, wäre das Urteil des SG -
wäre es nicht rechtskräftig - aufzuheben und die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung an das SG Nürnberg
zurückzuverweisen gewesen (vgl Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7.Aufl, § 176 RdNr 4). Die
Verfahrensmängel stellen sich als Verstoß gegen das Gerichtsverfahren regelnde Vorschriften dar. Sie sind auch
wesentlich, da die Entscheidung auf einer Verletzung verfassungsrechtlicher Grundsätze beruht. Es ist nicht
auszuschließen, dass das SG bei ausreichender Anhörung und bei einer fairen Prozessführung anders entschieden
hätte. Nachdem die Entscheidung des SG in der Hauptsache aber zwischenzeitlich rechtskräftig ist, kann der Senat
nur noch rückwirkend über die Gewährung von PKH entscheiden.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung des PKH-Antrags war der Rechtsverfolgung durch die Klägerin die
hinreichende Erfolgsaussicht nicht abzusprechen. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht dürfen nicht überzogen
werden; ein günstiges Beweisergebnis darf lediglich nicht unwahrscheinlich sein. Eine gewisse
Erfolgswahrscheinlichkeit genügt (Meyer-Ladewig aaO § 73 a RdNr 7 unter Verweisung auf BayLSG Breith 99, 807).
Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist regelmäßig erfüllt, wenn vor der Entscheidung des Rechtsstreits noch eine
Beweisaufnahme durchgeführt werden muss, z.B. Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens von Amts
wegen (aaO; Beschluss des BayLSG vom 02.07.2002 - L 18 B 281/02 U.PKH Juris Nr: BYRE030212950). Als das
SG die PKH mit Urteil vom 16.12.2003 abgelehnt hat, hatte es die Beweisaufnahme bereits abgeschlossen. Zwar ist
grundsätzlich bei der Prüfung der Erfolgsaussicht auf den Zeitpunkt der PKH-Entscheidung des Gerichts abzustellen.
Ein früherer Zeitpunkt kommt aber dann in Betracht, wenn sich die Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf
PKH verzögert hat und damit Änderungen zum Nachteil des Beschwedeführers eingetreten sind (Meyer-Ladewig aaO
RdNr 7 b). Entscheidet das Gericht nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt, sondern erst nach der Beweiserhebung, so
ist der verspäteten Entscheidung der Erkenntnisstand zugrundezulegen, den das Gericht im Zeitpunkt der PKH-
Entscheidungsreife (also vor Einholung des Sachverständigengutachtens) hatte. Die durch die Beweiserhebung
nachträglich vom SG gewonnenen Erkenntnisse, auch wenn sie - wie hier - für den Beschwerdeführer negativ sind,
müssen demgegenüber unberücksichtigt bleiben (Krasney/Udsching Handbuch des Sozialgerichtlichen Verfahrens,
3.Aufl, S 209; Meyer-Ladewig aaO RdNr 13 d). Andernfalls könnte das Gericht den PKH-Anspruch durch verzögerliche
Behandlung zunichte machen, ohne dass der unbemittelte Beteiligte darauf Einfluss nehmen könnte. Eine
verzögerliche Bearbeitung des PKH-Gesuchs durch das Gericht darf sich nicht zum Nachteil des Beteiligten
auswirken (Beschluss des erkennenden Senats vom 26.08.2003 Az: L 17 B 286/02 U.PKH).
Die Klägerin hatte bereits am 11.07.2001 Antrag auf PKH gestellt und alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt. Das
Gericht hat dann mit Beweisanordnung vom 25.09.2001 Prof. Dr.L. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Zu
diesem Zeitpunkt hätte es bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang bereits über das PKH-Gesuch entscheiden können.
Mit der Beweisanordnung war nämlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife gegeben. Auf Grund der Anordnung der
Beweisaufnahme, also der Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens von Amts wegen, war die
hinreichende Erfolgsaussicht gegeben (Meyer-Ladewig aaO, RdNr 7; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur
Sozialgerichtsbarkeit, 4.Aufl, S 258/8-14/21).
Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist auch erforderlich (§ 121 Abs 2 ZPO). Sie entspricht der Absicht des
Gesetzgebers (vgl § 73 a SGG), kann also nicht unter Bezugnahme auf den in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden
Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden. Der vorliegende Rechtsstreit ist materiell-rechtlich und prozessual nicht
so einfach gelagert, dass eine anwaltliche Unterstützung entbehrlich gewesen wäre. Bei der Frage nach der
Schwierigkeit einer Streitsache spielen nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Fragen (z.B. medizinischer Art)
eine erhebliche Rolle (Jansen Sozialgerichtsbarkeit 5/1982 S 186). Die Sach- und Rechtslage war für die Klägerin
vorliegend schwer zu übersehen. Sie bedurfte anwaltlicher Hilfe, um sachgerechte prozessuale Anträge zu stellen.
Die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH sind gegeben; sie ergeben sich aus der Anlage, die
Bestandteil dieses Beschlusses ist, dem Gegner ohne Zustimmung des Antragstellers aber nicht bekannt gegeben
werden darf (§ 117 Abs 2 Satz 2 und § 127 Abs 1 Satz 3 ZPO).
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar, § 177 SGG.