Urteil des LSG Bayern vom 18.01.2008

LSG Bayern: berufskrankheit, anerkennung, wissenschaft, bevölkerung, rechtsverordnung, anteil, kommission, aussichtslosigkeit, gefährdung, vorrang

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 18.01.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 4 U 78/04
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 137/06
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 08.03.2006 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Der Klägerin werden Kosten gemäß § 192 Abs.1 Nr.2 SGG in
Höhe von 225,00 EUR auferlegt. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung eines Carpaltunnelsyndroms (CTS) als Berufskrankheit (BK).
Die 1959 geborene Klägerin übt seit 1974 den Beruf einer Friseurin aus.
Mit Schreiben vom 11.08.2003 machte sie das Vorliegen eine Berufskrankheit aufgrund starker Schmerzen in der
rechten Hand geltend.
Dr. W./Dr. L./Dr. E., Chirurgen, zeigten mit Schreiben vom 20.08.2003 ein CTS rechts als Berufskrankheit an.
Mit Bescheid vom 18.09.2003 lehnte die Beklagte das Vorliegen einer Berufskrankheit ab. Die Erkrankung - CTS - sei
nicht in der entsprechenden Liste zur BKV aufgeführt. Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung wie eine
Berufskrankheit nach § 9 Abs.2 SGB VII seien nicht gegeben.
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte eine Stellungnahme des Dr. D. , Gewerbearzt des
Gewerbeaufsichtsamtes R., vom 08.01.2004 ein. Dieser wies darauf hin, dass die Diskussion über ein evtl. höheres
berufliches Risiko, in bestimmten Berufen ein CTS zu bekommen, noch nicht abgeschlossen sei. Eine ausreichende
Haftungsbegründung sei beim Beruf einer Friseurin nicht gegeben. Die Anerkennung einer Berufskrankheit werde nicht
empfohlen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 18.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2004 zu
verurteilen, das CTS wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs.2 SGB VII anzuerkennen und entsprechend zu
entschädigen.
Sie machte geltend, sie sei in der Zeit vom 28.07.2003 bis 03.11.2003 und vom 02.11.2005 bis 30.01.2006 an beiden
Händen an dem CTS erkrankt. Als Angehörige der Berufsgruppe der Friseure sei sie durch die versicherte Tätigkeit in
einem erheblich höheren Maß als die übrige Bevölkerung entsprechenden Beeinträchtigungen gesundheitlich
ausgesetzt.
Mit Urteil vom 08.03.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Eine gruppentypische Risikoerhöhung sei nicht
gegeben, da keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Berufsgruppe, der die Klägerin angehöre, in einem höheren
Maße an einem CTS leide als die übrige Bevölkerung.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Durch § 9 Abs.2 SGB VII sollten Härten ausgeglichen
werden, die durch das Listensystem des § 9 Abs.1 SGB VII im Hinblick auf solche Krankheiten entstehen würden, die
nicht oder noch nicht in die BKV aufgenommen worden seien. Auch in der Empfehlung der Kommission von
19.09.2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten sei das CTS als Berufskrankheit angeführt.
Der Senat hat eine Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMA), Ärztlicher
Sachverständigenbeirat, vom 17.08.2007 eingeholt. Das Ministerium hat mitgeteilt, bei der Beurteilung, ob das CTS
als BK anerkannt werden könne, bestünden hohe Anforderungen, vorhandene Studien und andere Erkenntnisquellen
zu prüfen und zu bewerten. Im Beratungsprozess werde die wissenschaftliche Aussagekraft gerade von
epidemiologischen Studien zu dieser Thematik kritisch hinterfragt. Ein nicht unerheblicher Anteil dieser Studien könne
nicht verwendet werden. Die Beratungen seien daher noch nicht abgeschlossen. Angesichts der Kapazitätsgrenzen
der Mitglieder sei mit einem zeitnahen Beratungsergebnis zum CTS nicht zu rechnen.
Die Klägerin beantragt, ein Gutachten nach § 106 SGG einzuholen, dass zwischen der Erkrankung der Klägerin an
einem Carpaltunnelsyndrom und der beruflichen Tätigkeit ein überwiegender Ursachenzusammenhang besteht und die
Berufsgruppe der Friseure/innen ein gruppenspezifisches Risiko der Erkrankung an einem Carpaltunnelsyndrom hat.
Im Übrigen, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 08.03.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom
18.09.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2004 aufzuheben und festzustellen, dass die bei
ihr vorliegende Erkrankung eines CTS als Berufskrankheit bzw. wie eine Berufskrankheit anzuerkennen ist.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 08.03.2006
zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten und der
Gerichtsakten sowie der vorbereitenden Schriftsätze hingewiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das bei der Klägerin vorliegende CTS kann nicht als BK anerkannt
und entschädigt werden.
Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates als BK bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6
des Sozialgesetzbuches Siebtes Buch (SGB VII) begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs.1 Satz 1 SGB VII). Eine
solche Bezeichnung nimmt die Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) mit den sog. Listenkrankheiten vor.
Nur solche Erkrankungen dürfen kraft Rechtsverordnung in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung
einbezogen werden, bei denen die versicherte Tätigkeit als wesentlich mitwirkende Ursache mit Wahrscheinlichkeit
nachgewiesen ist. Der Nachweis des Zusammenhangs ist durch die medizinische Wissenschaft zu erbringen. Die
Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft hierzu müssen aufgrund von Forschungsergebnissen gesichert, d.h.
überwiegend anerkannt sein. Die Sektion Berufskrankheiten als ärztlicher Sachverständigenbeirat bei dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMA) berät die Bundesregierung bei der Verordnungsgebung. Der
Ärztliche Sachverständigenbeirat ist ein Rat von Ärzten, die in der Arbeitsmedizin besonders erfahren sind (vgl. Nehls
in Hauck/Noftz, SGB VII, § 9 Rdnr.10).
Die Voraussetzungen des § 9 Abs.1 SGB VII sind nicht erfüllt, weil das CTS keine Erkrankung ist, die in der Anlage
zur BKV als BK anerkannt ist. Es handelt sich insbesondere nicht um eine "Druckschädigung der Nerven" im Sinne
der Nr.2106 der Anlage zur BKV. Bis zum 30.09.2002 lautete die Bezeichnung dieser BK "Drucklähmung der Nerven".
Durch Art.1 der Verordnung vom 5. September 2002 (BGBl. I S.3541) wurde die Nr.2106 der Anlage zur BKV mit
Wirkung ab 01.10.2002 neu bezeichnet. Nach der wissenschaftlichen Begründung für die Neufassung dieser BK
(Bekanntmachung des BMA vom 01.08.2001, BArbBl. 9/2001, 59) wird durch arbeitsmedizinische Erkenntnisse und
epidemiologische Untersuchungsdaten belegt, dass Druckschädigungen der Nerven durch eine Vielzahl
arbeitsbedingter Einflussfaktoren verursacht oder wesentlich mitverursacht werden können. In der genannten
Begründung wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das CTS nicht Gegenstand der BK Nr. 2106 ist. Dieser
Hinweis ist bei der Frage, welche Krankheiten unter dem Begriff der "Druckschädigung der Nerven" im Sinne der
Nr.2106 der Anlage zur BKV zu subsumieren ist, zu berücksichtigen, denn insoweit handelt es sich um eine
authentische Auslegung durch den Normgeber. Es wird dadurch deutlich, dass die für die Druckschädigung der
Nerven vorliegenden Erkenntnisse für das CTS gerade nicht zutreffen.
Auch die Voraussetzungen des § 9 Abs.2 SGB VII sind nicht erfüllt. Nach § 9 Abs.2 SGB VII haben die
Unfallversicherungsträger im Einzelfall eine Krankheit wie eine Berufskrankheit anzuerkennen, wenn sie nicht in der
Liste der Berufskrankheiten bezeichnet ist, oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, sofern nach
neuen Erkenntnissen die Voraussetzungen des § 9 Abs.1 Satz 2 SGB VII vorliegen. Erforderlich hierfür wäre, dass
die Klägerin zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die
übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft ein CTS verursachen.
Die Vorschrift ist keine individuelle Härteklausel, sondern bezweckt, solche durch die versicherte Tätigkeit
verursachten Krankheiten wie eine Berufskrankheit anzuerkennen, die nur deshalb nicht in die BK-Liste aufgenommen
worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter
Berufsgruppen bei der letzten Neufassung der Anlage zur BKV noch nicht vorlagen oder nicht berücksichtigt wurden.
Die Vorschrift trägt demnach dem Umstand Rechnung, dass die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sich
schneller ändern können, ohne dass gleich eine Änderung der Anlage zur BKV nachfolgt. § 9 Abs.2 ist aber keine
Härteklausel, sondern eine Öffnungsklausel im sog. Mischsystem (BSGE 59, 295; Nehls in Hauck/Noftz, SGB VII, §
9 Rdnr.38).
§ 9 Abs.2 gewährleistet daher nicht eine Lückenlosigkeit für alle Versicherten, die an einer durch die versicherte
Tätigkeit verursachten Krankheit leiden. Es muss sich für eine Anwendung des § 9 Abs.2 ein
berufsgruppenspezifisches Risiko verwirklicht haben. Dies setzt voraus, dass eine bestimmte Personengruppe in ihrer
Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist. Diese
Einwirkungen müssen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sein, Krankheiten
solcher Art zu verursachen und diese medizinischen Erkenntnisse müssen neu sein. Mit wissenschaftlichen
Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen,
eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der
medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen
und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlichen fundierten Meinung gelangt ist. Es muss sich dabei um
gesicherte Erkenntnisse handeln.
Vorliegend ist der Verordnungsgeber mit der Frage befasst, ob das CTS aufgrund neuerer Erkenntnisse in die BK-
Liste aufgenommen werden soll. Für die Dauer dieses Entscheidungsprozesses dürfen weder der
Unfallversicherungsträger noch das Gericht dem Beratungsgremium vorliegende Erkenntnisse beurteilen und daraus
eine Pflicht zu Anerkennung als Quasi-BK ableiten (sog. Sperrwirkung; BSG, 04.06.2002, B 2 U 20/01 R = ZfS 2002,
334). Wie das Ministerium dem Senat mitgeteilt hat, prüft der Ärztliche Sachverständigenbeirat vor allem, ob die
vorliegenden epidemiologischen Studien ein signifikant erhöhtes Erkrankungsrisiko für bestimmte Personengruppen
zeigen. Dabei kann ein nicht unerheblicher Anteil dieser Studien aus unterschiedlichen Gründen nicht verwendet
werden. Die Beratungen verzögern sich daher und ein Ende des Beratungsprozesses kann derzeit nicht bestimmt
werden. Aufgrund der Stellungnahme des Ministeriums ist erkennbar, dass der Verordnungsgeber die Prüfung betreibt
und die Sperrwirkung entstanden ist. Der bisher verstrichene Zeitraum überschreitet die Grenze der sozialen
Verträglichkeit nicht. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sachverständigenbeirat die aufgenommenen
Beratungen nicht fortführt, dass diese ruhen oder ohne erkennbares Ergebnis abgebrochen wurden. Es kann damit
nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber von dem ihm zustehenden Vorrang keinen Gebrauch
machen will. Nur in diesem Fall lebt aber die Pflicht des Versicherungsträgers auf, über geltend gemachte Ansprüche
auf Anerkennung von Quasi-BKen und damit letztlich auch über die Frage des Vorliegens neuer Erkenntnisse zu
entscheiden, wieder auf. Die Sperrwirkung rechtfertigt sich aus gesetzessystematischen und praktischen Gründen.
Die Regelungen werden vom Prinzip des Entscheidungsvorbehalts des Verordnungsgebers getragen. Das bedeutet,
dass im Grundsatz nur vom Verordnungsgeber in die Liste aufgenommene Berufskrankheiten entschädigt werden
können und nur ausnahmsweise eine Anerkennung und Entschädigung wie eine BK in Betracht kommt (BSG SozR 3-
2200 § 551 Nr.14 m.w.N.). (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2002, B 2 U 20/01 R).
Wegen der wirksamen Sperrwirkung besteht daher auch keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen. Den
Beweisanträgen der Klägerin war daher wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit nicht nachzukommen. Der
medizinische Befund eines CTS ist dabei unstreitig. Die Empfehlungen der Europäischen Kommission vom
19.09.2003 über die Europäische Liste der Berufskrankheiten beinhalten keine gesetzlich verbindlichen Regelungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits. Die Klägerin hat
zudem Verschuldenskosten gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGG in Höhe von 225,00 Euro zu tragen. Sie hat sich dabei
das Verhalten ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen zu lassen. Diese hat trotz Hinweises des Vorsitzenden auf
die offensichtliche Aussichtslosigkeit des Rechtsstreits und in Kenntnis, dass eine positive Entscheidung nicht
ergehen kann, auf die Absetzung eines Urteils bestanden und damit weitere Kosten des Rechtsstreits verursacht.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.