Urteil des LSG Bayern vom 21.11.2007

LSG Bayern: gegen die guten sitten, vergleich, anfechtung, haus, meinung, beendigung, vollmachten, pflegebedürftigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.11.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 2 P 98/04
Bayerisches Landessozialgericht L 2 P 1/05
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 11. November 2004 in Ziffer II abgeändert; im
Übrigen wird die Berufung der Kläger zurückgewiesen. II. Die Kläger haben die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen. IV. Der Streitwert wird auf 9.600,- Euro festgesetzt.
Tatbestand:
Sreitig ist, ob der vor dem Sozialgericht München (SG) unter dem Aktenzeichen S 2 P 152/03 geführte Prozess durch
Vergleich vom 24.04.2004 beendet worden ist.
Die Kläger sind Brüder des am 29.07.1999 verstorbenen C. R. (nachfolgend CR) und nach dem Erbschein des
Amtsgerichts T. seine gesetzlichen Erben.
CR litt unter Angstzuständen bei Schizophrenie. Seit dem 29.08.1996 war er im Haus H. , einer Langzeiteinrichtung
für psychisch Kranke, untergebracht. Er stand unter Betreuung. Seine Betreuerin beantragte am 18.05.1996 bei der
Beklagten Leistungen aus der Pflegeversicherung. Gegen den nach dem Tod des CR ergangenen Bescheid vom
19.08.1999 i.d.F. des Widerspruchsbescheid vom 10.01.2000 hatten die Kläger vor dem SG am 02.02.2000 Klage
erhoben und eine Verurteilung der Beklagten zu Leistungen aus der Pflegeversicherung bei vollstationärer Pflege nach
der Pflegestufe I für die Zeit vom 21.05.1999 bis 29.07.1999 durch Gerichtsbescheid vom 30.09.2002 erreicht. Das
SG führte darin aus, über die Zeit ab einer behaupteten Antragstellung im Jahre 1996 liege keine
Verwaltungsentscheidung vor, so dass über einen Anspruch vor dem 21.05.1999 nicht zu entscheiden gewesen sei.
Am 09.12.2002 beantragte der Kläger zu 1 Pflegeleistungen für die Zeit vom 29.08.1996 bis 21.05.1999 zu zahlen; ein
entsprechender Antrag sei am 18.05.1996 gestellt worden. Den Akten der Beklagten ist zu entnehmen, dass CR am
13.01.1997 vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet worden war. Pflegebedürftigkeit
war darin verneint worden.
Mit Bescheid vom 19.12.2002 teilte die Beklagte dem Kläger zu 1 mit, ab 21.05.1999 zahle sie Leistungen bei
vollstationärer Pflege nach der Stufe I bis zu 1022,58 Eur (2000 DM) je Kalendermonat, höchstens aber 75 vH des
Gesamtbetrages für die Heimunterbringung, bestehend aus Pflegesatz, Entgelt für Unterkunft und Verpflegung.
Mit weiterem Bescheid vom 19.12.2002 erklärte die Beklagte, auf den Antrag vom 18.05.1996 leiste sie keine Zahlung
für vollstationäre Pflege nach § 43 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI), weil nach dem Gutachten des
MDK vom 13.01.1997 keine Pflegebedürftigkeit vorgelegen habe. Dagegen legte der Kläger zu 1 Widerspruch ein.
Am 04.02.2003 nahm die Beklagte den Bescheid vom 19.12.2002 zurück. Es habe sich herausgestellt, dass das
Haus am H. keine Pflegeeinrichtung i.S. des § 43 SGB XI sondern eine Einrichtung der Behindertenhilfe nach § 71
Abs. 4 SGB XI sei. Es könnten daher nur Leistungen nach § 43a SGB XI, insgesamt 463,13 EUR gezahlt werden.
In einem weiteren Bescheid vom 04.02.2003 erklärte die Beklagte, die Leistungen vom 29.08.1996 bis 20.05.1999
nach § 43a SGB XI betrügen höchstens 255,65 EUR. Sie dürften 10vH des vereinbarten Heimentgelts nicht
übersteigen.
Mit Bescheid vom 03.02.2003 teilte die Beklagte mit, sie gehe davon aus, dass die vom SG im Gerichtsbescheid
vom 30.09.2002 festgestellte Pflegestufe I auch im Jahre 1996 vorgelegen habe. Sie gewähre daher ab 1996
Pflegegeld von 400.- DM monatlich.
Auch gegen die Bescheide vom 04.02.2003 legte der Kläger zu 1 Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 25.03.2003 nahm die Beklagte die Bescheide vom 04.02.2003 und den Bescheid vom 03.02.2003
zurück. Es sei richtig, dass das SG Leistungen wegen vollstationärer Pflege zugesprochen habe. Für die Zeit vom
21.05.1999 bis 29.07.1999 bleibe es dabei. Am 02.04.2003 wurde der Gesamtbetrag in Höhe von insgesamt 5067,55
DM an die drei Erben ausgezahlt. Dem Widerspruch half die Beklagte nur insoweit ab, als für die Zeit vom 29.08.1996
bis 20.05.1999 Leistungen nach § 43a SGB XI zugestanden wurden, daneben aber nicht das volle Pflegegeld wegen
häuslicher Pflege von 400.- DM.
Der Kläger zu 1 erklärte sich mit dem Inhalt des Bescheids vom 25.03.2003 bezüglich Leistungen für vollstationäre
Pflege vom 21.05.1999 bis 29.07.1999 einverstanden, nicht jedoch für die davor liegende Zeit ab dem 29.08.1996.
Den Widerspruch gegen den weiteren Bescheid vom 19.12.2002 über Leistungen nach § 43a SGB XI vom 29.08.1996
bis 20.05.1999 und gegen den Bescheid vom 03.02.2003 (häusl. Pflege) wies die Beklagte im Widerspruchsbescheid
vom 10.07.2003 zurück.
Dagegen erhoben die Kläger zu 1 bis 3 am 29.07.2003 Klage zum SG. Das Verfahren erhielt das Aktenzeichen S 2 P
152/03. Die Kläger beantragten, an sie unter Aufhebung der Bescheide vom 19.12.2003 und 03.02.2003 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheid vom 10.07.2003 für die Zeit vom 29.08.1996 bis 20.05.1999 Leistungen der
Pflegeversicherung wegen vollstationärer Pflege nach Pflegestufe I auszubezahlen. Der Kläger zu 1 trat als
Bevollmächtigter der Kläger zu 2 und 3 auf, die ihm schriftliche Vollmacht erteilt hatten.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.04.2004 schlossen die Beteiligten zur Beendigung des Verfahrens
einen Vergleich. Darin verpflichtete sich die Beklagte Pflegegeld nach Stufe I für selbstbeschaffte Pflegehilfen von
monatlich 400.- DM für die Zeit vom 29.08.1996 bis 20.05.1999 zu gewähren. Eventuell nach § 43a SGB XI bereits
erbrachte Zahlungen sollten davon abgezogen werden. Außergerichtliche Kosten seien nicht zu erstatten. In Ziff. III
des Vergleichs wurde festgehalten, dass die Beteiligten darüber einig seien, dass der Rechtsstreit durch den
Vergleich in vollem Umfang erledigt sei. Der Vergleich wurde in die Niederschrift vom 22.04.2004 aufgenommen, vom
Vorsitzenden und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet und laut Protokoll vorgelesen und
genehmigt.
Am 14.05.2004 ging beim SG ein Schreiben des Klägers zu 1 ein, in dem erklärt wurde, die Erben würden den in der
mündlichen Verhandlung vom 22.04.2004 geschlossenen Vergleich anfechten und begehrten die Fortsetzung des
Verfahrens. Entgegen der Behauptung der Beklagten sei mit der Einrichtung, dem Haus am H. , ein Vertrag als
stationäre Pflegeeinrichtung abgeschlossen worden. Es stünden daher Leistungen nach § 43 SGB XI zu. Die Erben
sähen eine faire Lösung darin, wenn die Beklagte 25 Prozent der tatsächlichen Heimkosten übernähme. Das mache
bei einem durchschnittlichen Heimentgelt von täglich 140,01 DM ca. 1.000.- DM pro Monat aus.
Die Beklagte erwiderte, es bestehe keinerlei Grundlage für eine Anfechtung des Vergleichs. Das Haus am H. sei eine
Einrichtung nach § 43a SGB XI.
Im Verfahren, das das Aktenzeichen S 2 P 98/04 erhielt, entschied das SG mit Urteil vom 11.11.2004, dass der
Rechtsstreit S 2 P 152/03 durch den gerichtlichen Vergleich vom 22.04.2004 erledigt worden sei; außergerichtliche
Kosten seien nach § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht zu erstatten. Obwohl vom Miterben Dr. M. R. keine
Vollmacht vorliege, könne der Vergleich von den übrigen Erben angefochten werden als Ausfluss ihrer Verpflichtung
zur Erhaltung des Nachlasses. Die Anfechtung des Vergleichs sei aber unwirksam, weil Anfechtungsgründe nicht
vorlägen.
Dagegen legten die Kläger Berufung ein. Sie meinten, der Rechtsstreit sei nicht durch den gerichtlichen Vergleich
erledigt worden. Auf den Kläger zu 1 lautende Vollmachten legten die Kläger zu 2 und 3 vor. Sie führten aus, es lägen
die Voraussetzungen für den Widerruf des Vergleichs nach § 779 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vor, da der
zugrunde gelegte Sachverhalt nicht der Wirklichkeit entspreche. Es sei nie um Leistungen der häuslichen Pflege
gegangen, da ihr Bruder in einem Heim untergebracht gewesen sei, sondern nur um die Kosten für die Unterbringung
in der stationären Einrichtung. Beim Vergleichsabschluss seien sie sich über den Inhalt der Erklärung nicht im Klaren
gewesen; sie seien eher verwirrt gewesen. Der Vergleich verstoße auch gegen die guten Sitten nach § 138 BGB, weil
das für einen Vergleich geforderte gegenseitige Nachgeben in einem Missverhältnis zu ihren Ungunsten stehe. Die
Erbengemeinschaft habe mit Leistungen von monatlich 2.000 DM gerechnet; im Vergleich seien aber nur Zahlungen
von monatlich 400.- DM genannt. Darüber hinaus habe die Beklagte zuvor schon 500.- DM nach § 43a SGB XI
zugesagt gehabt. Bei der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11.11.2004 sei auch nicht auf alle ihre Argumente
eingegangen worden.
Die Kläger beantragen, das Urteil des Sozialgerichts München vom 11.11.2004 aufzuheben, das Verfahren
fortzusetzen und ihnen zur gesamten Hand für die Zeit vom 29.08.1996 bis 20.05.1999 anteilige Leistungen für
vollstationäre Pflege in Höhe von - 1.000.- DM abzüglich gezahlter 400.- DM, also ca. 300.- Euro á 32 Monate -
9.600.- Euro zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 11.11.2004
zurückzuweisen.
Im übrigen wird gem. § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Akten
des Sozialgerichts München und der Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Kläger ist zulässig (§§ 143, 151 SGG). Sie ist jedoch unbegründet; das angefochtene Urteil war
lediglich im Kostenpunkt zu korrigieren.
Zutreffend entschied das SG, dass der Rechtsstreit durch den vor der 2. Kammer des SG am 24.04.2004
geschlossenen Vergleich in vollem Umfang erledigt wurde (§ 101 SGG).
Dabei vertritt der Senat die Meinung, dass bereits vor dem SG die Kläger zu 2 und 3 durch den Kläger zu 1 wirksam
vertreten waren. Denn im Ausgangsverfahren zum Aktenzeichen S 2 U 152/03, in dem der Vergleich abgeschlossen
worden war, lagen von den Klägern zu 2 und 3 auf den Kläger zu 1 ausgestellte Vollmachten vor. Bei der Anfechtung
eines Vergleichs handelt es sich um den Antrag der Prozesspartei auf Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens.
Falls der Vergleich wirksam angefochten wird, wird das Ausgangsverfahren fortgesetzt. Aus diesem Grunde genügt
es, dass zum Zeitpunkt des - später angefochtenen - Vergleichs eine wirksame Bevollmächtigung vorgelegen hat.
Die am 14.05.2004 erklärte Anfechtung des Vergleichs vom 24.04.2004 kann weder auf prozessrechtliche noch auf
materielle Gründe gestützt werden, die den Prozessvergleich unwirksam machen würden. Ein Prozessvergleich hat
nach herrschender Meinung (Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer; SGG, 8. Aufl., § 101 Rdnr. 13.) eine Doppelnatur. Er ist
einerseits ein materiell-rechtlicher Vertrag und andererseits eine Prozesshandlung, welche die Beendigung des
Rechtsstreits bewirkt.
Eine prozessuale Unwirksamkeit wird von den Klägern nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Gründe i.S.
des § 779 BGB liegen ebensowenig vor wie für eine Anfechtung nach §§ 119 f BGB oder § 123 BGB.
Nach § 779 BGB ist ein Vergleich unwirksam, wenn der nach dem Inhalt des Vergleichs als feststehend
zugrundegelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht und der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der
Sachlage nicht entstanden sein würde. Die Kläger tragen nicht vor, dass bei Vergleichsabschluss ein Sachverhalt
zugrundegelegt worden wäre, der in Wirklichkeit nicht bestanden habe. Vielmehr gingen beide Vergleichsschließenden
davon aus, dass CR vom 29.08.1996 bis zu seinem Tod im Haus am H. untergebracht war. Lediglich die rechtliche
Einordnung dieses Heims und damit verbunden die Frage, ob frühere Bescheide von der Beklagten aufgehoben
werden konnten, war unklar. Die Anwendung des § 779 Abs. 1 BGB kommt nicht zum Tragen.
Im Übrigen erklärten die Kläger im Schreiben vom 14.05.2004, ihrer Ansicht nach sei das Haus am H. erst zum 1.
Oktober 1998 als Pflegeheim zugelassen worden, so dass sie nur für die Zeit vom 01.10.1998 bis 20.05.1999
Leistungen wegen vollstationärer Pflege begehrten und für den übrigen Zeitraum vergleichsbereit seien.
Damit geben die Kläger zu erkennen, dass sie sich allenfalls im Motiv für den Vergleichsabschluss geirrt hatten. Eine
Anfechtung nach §§ 119 f BGB, der die Folgen eines Erklärungsirrtums regelt, ist somit ausgeschlossen. Für eine
Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB finden sich keine Anhaltspunkte; solche werden
auch von den Klägern nicht vorgetragen.
Im Übrigen wird gem. § 153 Abs. 2 SGG auf das Urteil des SG Bezug genommen, da der Senat die Berufung aus den
Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
Das Urteil war lediglich in Ziff. II zu korrigieren. Darin entschied das SG, dass außergerichtliche Kosten nicht zu
erstatten seien und sah § 193 SGG als maßgebliche Bestimmung an. Im vorliegenden Fall ist jedoch § 197a SGG
anzuwenden. Nach § 197a Abs. 1 SGG werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG)
erhoben, wenn weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört. Nach letzterer
Bestimmung besteht für das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit Kostenfreiheit für Versicherte,
Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, Behinderte oder deren Sonderrechtsnachfolger
nach § 56 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I), soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger
oder Beklagte beteiligt sind. Zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage am 29.07.2003, deren Fortsetzung die Kläger
nach einer für sie erfolgreichen Vergleichsanfechtung anstrebten, gehörten sie nicht zu dem privilegierten
Personenkreis. Sie waren keine Sonderrechtsnachfolger nach § 56 SGB I, weil sie zweifelsfrei nicht bis zum Tode
ihres Bruders mit diesem in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatten. Als Erben sind sie zwar berechtigt, das bereits zu
Lebzeiten des CR eingeleitete Verwaltungsverfahren fortzuführen, was aber nicht gleichbedeutend ist mit
Sonderrechtsnachfolge im oben erläuterten Sinne. Nach § 197a SGG i.V.m. § 154 Verwaltungsgerichtsordnung haben
sie als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens und die Kosten des ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu
tragen. Der Senat war zur Abänderung der Kostenentscheidung befugt, weil insoweit das Verböserungsverbot nicht gilt
(Meyer-Ladewig a.a.O. § 193 Rdnr. 16).
Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Der Streitwert war auf 9.600.- Euro gem. § 13 Abs. 2 GKG a.F. i.V.m. § 72 Nr. 1 GKG i.d.F. vom 05.05.2004
festzusetzen.