Urteil des LSG Bayern vom 30.12.2005

LSG Bayern: therapie, label, vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, erlass, behandlung, verordnung, medikament, krankheit, eng

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 30.12.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 9 KR 277/05 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 4 B 613/05 KR ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 22. September 2005 wird als unzulässig
verworfen.
II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe:
I.
Die 1958 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin versichert. Im Jahr 2003 wurde bei ihr ein
Nierenzellkarzinom festgestellt, im Juli 2003 erfolgte eine radikale Tumornephrektomie links. Im Juni 2004 zeigten
sich pulmonale Metastasen. Es erfolgte eine operative Resektion der Metastasen in der Lunge sowie die Einleitung
einer systemischen Immunchemotherapie mit Interferon/Interleukin und Vinblastin. Trotz dieser Behandlung stellten
die Ärzte hinsichtlich der Lungenmetastasen eine Größenprogredienz fest. Die Antragstellerin beantragte daraufhin am
26.06.2005 die inhalative Immuntherapie mit Interleukin-2 (Proleukin). Die Antragsgegnerin hat den Antrag mit
Bescheid vom 07.07.2005 mit der Begründung abgelehnt, bei der beantragten Therapie handele es sich um einen so
genannten "off-label-use", dessen Voraussetzungen nach Auffassung des MDK nicht vorlägen. Hiergegen legte die
Antragstellerin am 13.07.2005 Widerspruch ein. Am 13.09.2005 beantragten die Bevollmächtigten der Antragstellerin,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für eine Immuntherapie mit
inhalativem Interleukin-2 bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen. Die Voraussetzungen für einen off-
label-use seien nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfüllt. Für die Antragstellerin bestehe keine
zugelassene Behandlungsoption mehr. Nach der Datenlage bestehe begründete Aussicht, dass mit der beantragten
Therapie ein Behandlungserfolg erzielt werden könne.
Die Antragsgegnerin hat am 16.09.2005 beantragt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.
Hilfsweise beantragte sie, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin die Kosten für die inhalative
Interleukin-2-Therapie bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu bezahlen.
Auch wenn andere Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die Kassen zu einer Kostenübernahme verpflichtet hätten,
könne diesen Entscheidungen nicht gefolgt werden. Das Grundsatzgutachten des Kompetenzzentrums (KC-
Onkologie) des MDK Niederrhein sehe im Hinblick auf den Wirksamkeitsnachweis die Anforderungen des
Bundessozialgerichts nicht für gegeben an. Diese Position des MDK werde sowohl vom Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als auch von der dort angesiedelten Off-Label-Expertengruppe bestätigt.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 22. September 2005 die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, vorläufig die Kosten für die inhalative Therapie mit Interleukin-2 nach ärztlicher Verordnung bis
zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens zu übernehmen. Ein Anordnungsgrund sei gegeben, da das Leben der
Antragstellerin bedroht sei und ein Zuwarten bis zur Entscheidung über das Widerspruchsverfahren der Antragstellerin
nicht zumutbar sei. Auch ein Anordnungsanspruch liege vor. Dieser bestehe dann, wenn eine summarische Prüfung
der Erfolgsaussichten ergebe, dass ein Anspruch auf die Therapie bestehe. Es seien jedoch nicht allein die
Erfolgsaussichten entscheidend. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wirken, die mit der Versagung des
vorläufigen Rechtsschutzes verbunden seien, umso weniger dürfe das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder
Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2003, NJW 2003, S.1236 ff. wird verwiesen. Interleukin-2 sei zur inhalativen
Therapie nicht zugelassen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei jedoch ein off-label-use zulässig,
wenn es bei einer schweren Krankheit keine Behandlungsalternativen gebe und nach dem Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem Medikament bzw. der jeweiligen
Darreichungsform ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Bei der Antragstellerin liege zweifelsfrei eine
schwerwiegende Krankheit vor, die mit nicht zugelassene Therapieformen behandelt werden könne. Ob auch aufgrund
der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt
werden könne, könne im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nicht abschließend geprüft werden. Jedenfalls könne
nicht von vornherein mit Hinweis auf den Anhörungsentwurf vom 17.11.2004 der Off-Label-Expertengruppe eine
Ablehnung begründet werden. Der Kommentierung durch interessierte Fachkreise zur Anhörungsentwurfversion vom
17.11.2004 könne entnommen werden, dass für Hochrisikopatienten, die für zugelassene Therapieformen nicht
geeignet sind, durch die inhalative Anwendung von Interleukin-2 erstmals ein Langzeitüberleben von 21 % nach fünf
Jahren erreicht wurde, dies sei ein Durchbruch in der Behandlung dieser Patientengruppe. Nach allem spreche einiges
dafür, dass bei der Antragstellerin eine Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 25.10.2005, mit der sie auf den Abschlussbericht der
Off-Label- Expertengruppe hinweist, die einen Off-Label-Einsatz von Interleukin-2 in inhalativer Darreichungsform
derzeit nicht für gerechtfertigt halte. Sie legt zur Untermauerung ihrer Rechtsauffassung ein Urteil des Sozialgerichts
München vom 20. Januar 2004 (S 42 KA 303/00) sowie einen Beschluss des LSG Hamburg vom 30. September 2005
(L 1 B 30/02 ER) vor.
Die Antragsgegnerin beantragt (sinngemäß), den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 22. September 2005
aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Er legte eine Stellungnahme der Prof.Dr.H. zu dem Abschlussbericht der Off-Label-Expertengruppe sowie ein Urteil
des Sozialgerichts Magdeburg vor und weist darauf hin, dass die beantragte Therapie bei der Antragstellerin als ultima
ratio eingesetzt werden müsse. Die Therapie sei bereits im erstinstanzlichen Antragsverfahren ärztlich rezeptiert
worden. Der Abbruch der Therapie sei der Antragstellerin nicht zumutbar.
Beigezogen wurden die Akten des Sozialgerichts, auf den Inhalt wird im Übrigen Bezug genommen.
II.
Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist als unzulässig zu
verwerfen (§§ 173, 174, 176, 202 SGG i.V.m. § 572 Abs.2 ZPO). Es fehlt hier das Rechtsschutzbedürfnis für die
Beschwerde. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung am 08.07.2005 lediglich beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kosten für eine Immuntherapie
mit inhalativen Interleukin-2 "bis zur Entscheidung in der Hauptsache" zu übernehmen. Die Antragsgegnerin hat zwar
im Sozialgerichtsverfahren beantragt, den Antrag abzulehnen, aber hilfsweise sich bereit erklärt, der Antragstellerin
die Kosten für die inhalative Interleukin-Therapie bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu
bezahlen. Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss die Antragsgegnerin lediglich verpflichtet, vorläufig
die Kosten für die inhalative Therapie bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens zu übernehmen. Damit hat es
im Ergebnis der Antragstellerin weniger zugesprochen, als es dem Hilfsantrag der Antragsgegnerin entsprechen
würde. Dieser Hilfsantrag enthält materiell-rechtlich eine die Antragsgegnerin bindende Zusicherung der
Kostenübernahme der streitigen Therapie zumindest im Rahmen des Ausspruchs des Sozialgerichtsbeschlusses (§
34 Abs.1 SGB X).
Selbst wenn die Beschwerde zulässig wäre, wäre das Rechtsmittel der Antragsgegnerin ohne Erfolg. Der
angefochtene Beschluss des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.
Gemäß § 86b Abs.2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte
(Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein
Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben sind, beide Voraussetzungen sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs.2 ZPO). Diese Voraussetzungen sind, wie das Sozialgericht ausführlich und
zutreffend begründet hat, gegeben.
Der Anordnungsgrund liegt hier in der Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung, nämlich der Möglichkeit zur
Fortsetzung der zur Verlängerung des Lebens der Antragstellerin nötigen Krebstherapie (§ 27 Abs.1 Satz 1, 2 Nr.3
i.V.m. § 31 SGB V). Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, hängt im Allgemeinen von einer summarischen Prüfung
der Erfolgsaussicht in der Hauptsache ab. Handelt es sich jedoch um eine komplizierte Sach- und Rechtslage, wie im
vorliegenden Fall, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, um die verfassungsrechtlich geschützten Belange der
Antragstellerin hinreichend zur Geltung bringen. Das Sozialgericht hat bereits auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2002 hingewiesen, wonach auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann
vorläufiger Rechtsschutz verlangt wird, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile
entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
Deswegen sind die Gerichte gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der
Sach- und Rechtslage zu stützen, die, wenn dazu Anlass besteht, auch Fragen des Grundrechtsschutzes
einbeziehen müssen. Aus Art.2 Abs.2 Satz 1 GG folgt die allgemeine Pflicht des Staates, sich schützend und
fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen. Die behördlichen und gerichtlichen Verfahren müssen der
darin enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung gerecht werden. Befindet sich ein Antragsteller nach
Einschätzung der ihn behandelnden Ärzten in einer lebensbedrohlichen Situation, wenn er das fragliche Medikament
nicht (mehr) erhält, kann eine Entscheidung des Gerichts über die Verpflichtung zur vorläufigen Übernahme der
Kosten nicht ohne Berücksichtigung des Art.2 Abs.2 GG erfolgen. Anstelle der hier geforderten besonders intensiven
Prüfung der Erfolgsaussichten kann auch eine Folgenabwägung vorgenommen werden, die die verfassungsrechtlich
geschützten Belange des Antragstellers berücksichtigt. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
kommt auch in dessen weiteren Entscheidungen zum Ausdruck (vgl. Beschluss vom 15.03.2004 u.a.). Die Versagung
einstweiligen Rechtsschutzes darf danach nicht zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führen, wenn das
Abwarten akuter Krankheitserscheinungen zu einem Risiko und nicht reversiblen gesundheitlichen Beeinträchtigungen
führt.
Dieser Rechtsprechung hat sich der Senat z.B. mit Beschluss vom 04.10.2004 (L 4 B 74/04 KR ER) angeschlossen
und bereits dort die Krankenkasse verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig die Kosten für die inhalative Therapie mit
Interleukin-2 nach ärztlicher Verordnung zumindest für einen begrenzten Zeitraum zu erstatten bzw. ihn von diesen
Kosten freizustellen. Bestätigt sieht sich der Senat durch den inzwischen ergangenen Beschluss des BVerfG vom
06.12.2005 - 1 BvR 347/98, wonach bei lebensbedrohenden Erkrankungen, die mit Standardbehandlungen nicht
bekämpft werden können, doch Behandlungen zu erfolgen haben, die zwar vom Bundesausschuss nicht gebilligt
worden sind, bei denen jedoch eine gewisse Erfolgsaussicht besteht. Unter Beachtung der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts zum off-label-use ist auch im vorliegenden Fall festzustellen, dass es bei der Antragstellerin um
die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht, nach Einschätzung der behandelnden Ärzte keine andere
Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden
Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Auch wenn sich die Antragsgegnerin auf
den mittlerweile veröffentlichten Abschlussbericht der Off-Label-Expertengruppe "Feststellung zur inhalativen
Interleukin-2 bei metastasierten Nierenzellkarzinom" (Stand: Juli 2005) beruft, kommt der Senat nicht zu einem
anderen Ergebnis. Der zitierte Abschlussbericht enthält nämlich auch die Feststellung, dass nach der Datenlage bei
Patienten in ausgewählten Fällen durch eine Interleukin-2- Inhalation ein Behandlungserfolg erzielt werden konnte, die
für die zugelassenen Therapieformen nicht geeignet waren oder die auf zugelassene Therapien nicht angesprochen
hatten. Danach sieht der Senat auch im vorliegenden Verfahren keinen Anlass, einen Anordnungsanspruch in Zweifel
zu ziehen.
Im Fall der Antragstellerin sei die Antragsgegnerin noch darauf hingewiesen, dass das Sozialgericht die vorläufige
Kostenübernahmeverpflichtung sehr eng, nämlich bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, begrenzt hat. Es
steht damit allein im Einflussbereich der Antragsgegnerin, die von ihr möglicherweise nicht gewünschte Verpflichtung
zu beenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).