Urteil des LSG Bayern vom 07.08.2002

LSG Bayern: nachzahlung, hinterbliebenenrente, sozialhilfe, arbeitsamt, waisenrente, beigeladener, minderung, bedürftigkeit, arbeitslosenhilfe, bezifferung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 07.08.2002 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 5 Ar 346/94.Vw
Bayerisches Landessozialgericht L 19 RJ 641/95
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 21.07.1994 aufgehoben. Die Klage
wird abgewiesen. II. Die Klägerin hat dem Beigeladenen zu 1. die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu
erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob der Klägerin ein Erstattungsanspruch gegen die Beklagte für Leistungen an den
Versicherten M. H. zusteht.
Der am 1960 geborene Versicherte, der Beigeladene zu 1., stand bei der Klägerin in Leistungsbezug und erhielt ua in
der Zeit vom 08.03.1985 bis 31.10.1985 Arbeitslosenhilfe (Alhi). In dieser Zeit war er auf Kosten des Beigeladenen zu
2. im Rahmen von Eingliederungshilfe in einem Übergangswohnheim untergebracht.
Der Versicherte M. H. (Beigeladener zu 1.) beantragte am 11.03.1985 bei der Beklagten die Gewährung von
Halbwaisenrente aus der Versicherung seines verstorbenen Vaters (H. H., geb. 1934, verst. 21.12.1984). Er verlangte,
die Rente auf das Konto des Landschaftsverbandes Rheinland (Beigeladener zu 2.) zu zahlen. Dieser teilte der
Beklagten mit (Schreiben vom 04.12.1985), dass die Halbwaisenrente als Kostenbeitrag zu den Aufwendungen gemäß
§ 85 Nr 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) festgesetzt werden solle; es werde Erstattungsanspruch nach § 102 ff
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend gemacht. Auch die Klägerin meldete am 27.05.1986
Erstattungsanspruch gemäß § 103 bzw § 104 SGB X an.
Mit Bescheid vom 02.01.1987 bewilligte die Beklagte dem Beigeladenen zu 1. ab 21.12.1984 Halbwaisenrente aus der
Versicherung seines Vaters bis 31.10.1985 (Vollendung des 25. Lebensjahres des Versicherten). Die Nachzahlung in
Höhe von DM 2.854,52 wurde zunächst einbehalten. Mit Schreiben vom 26.01.1987 bezifferte die Klägerin den
Erstattungsanspruch für die Zeit vom 08.03.1985 bis 31.10.1985 wegen gezahlter Alhi auf DM 2.162,40. Mit Schreiben
vom 13.04.1987 teilte der Beigeladene zu 2. erneut mit, dass auf die gesamte gewährte Halbwaisenrente
Erstattungsanspruch gemäß SGB X geltend gemacht werde. Der Erstattungsbetrag belaufe sich insgesamt auf DM
2.711,79; die Alhi sei bei der Bezifferung des Anspruchs bereits berücksichtigt (Schreiben des Beigeladenen zu 2.
vom 02.07.1987).
Mit Bescheid vom 20.07.1987 rechnete die Beklagte die Nachzahlung aus der Waisenrente wie folgt ab: Aus dem
einbehaltenen Betrag von DM 2.854,52 wurden überwiesen an den Beigeladenen zu 2. DM 2.711,79, an die Klägerin
DM 107,16 und an den Versicherten DM 35,57. Die Klägerin und der Beigeladene zu 1. erhielten Abschrift des
Bescheids. Auf Anfrage bzw Mahnung wegen Befriedigung des Erstattungsanspruchs teilte die Beklagte der Klägerin
am 28.07.1988 mit, der Ersatzanspruch sei am 20.07.1987 abgerechnet worden mit der im Bescheid vorgenommenen
Aufteilung. Bei ranggleichen Ersatzansprüchen nach § 104 SGB X sei das Sozialamt vorrangig zu befriedigen. Die
Klägerin vertrat die Auffassung, dass ihr Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X iVm § 106 SGB X vorrangig zu
befriedigen sei (Schreiben vom 15.03.1989 und weitere Schriftsätze aus dem Jahre 1991). Die Beklagte teilte der
Klägerin mit Schreiben vom 28.11.1991 abschließend mit, dass bei Bezifferung des Erstattungsanspruchs bereits die
gezahlte Alhi berücksichtigt worden sei. Es werde weiterhin davon ausgegangen, dass die Klägerin ebenfalls (wie
auch der Beigeladene zu 2.) Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X geltend gemacht habe; gemäß § 106 Abs 2 Satz
2 SGB X sei deshalb der Anspruch des Landschaftsverbandes Rheinland vorrangig zu befriedigen gewesen.
Am 23.12.1991 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben, die durch Beschluss vom
03.05.1994 an das SG Nürnberg verwiesen wurde. Sie hat weiterhin die Befriedigung ihres Erstattungsanspruches in
Höhe von DM 2.162,40 geltend gemacht und die Auffassung vertreten, ihr Erstattungsanspruch sei vorrangig nach §
103 SGB X zu behandeln und zu befriedigen. Mit Urteil vom 21.07.1994 hat das SG die Beklagte verpflichtet, den
Erstattungsanspruch der Klägerin in Sachen des Versicherten M. H. in Höhe von DM 2.162,40 zu befriedigen. Der
Erstattungsanspruch der Klägerin sei nicht verjährt. Die Beklagte habe bei der Befriedigung dieses Anspruchs nicht
die Rangfolge des § 106 SGB X beachtet. Der Anspruch der Klägerin richte sich nicht nach § 104 SGB X, sondern
nach § 103 SGB X. Damit habe er Vorrang vor dem Erstattungsanspruch des Beigeladenen zu 2., der sich auf § 104
SGB X stütze. Bei der im Hinblick auf § 106 SGB X erforderlichen Abgrenzung von Erstattungsansprüchen nach §§
103 und 104 SGB X seien folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: § 104 SGB X sei in erster Linie für Fälle
bestimmt, in denen für den gleichen Zeitraum ein Anspruch auf mehrere Sozialleistungen bestehe, für die aber das
Gesetz von vorneherein eine materiell-rechtliche Regelung der Rangfolge getroffen habe, während § 103 Tatbestände
erfasse, in denen nachträgliche Ereignisse eine andere Beurteilung der Rechtslage verlangten. Die nachträglich
gewährte Rente an den Versicherten hätte von vorneherein zu einer Minderung des Anspruches gegen das Arbeitsamt
führen müssen. Insoweit sei zumindest hinsichtlich eines Teils der Alhi die Verpflichtung der Klägerin nachträglich
entfallen. Da sich der Erstattungsanspruch des Beigeladenen zu 2. nach § 104 SGB X richte, sei der Anspruch der
Klägerin nach § 103 SGB X gemäß § 106 SGB X vorrangig zu befriedigen gewesen.
Gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des SG hat die Beklagte am 26.09.1994 Beschwerde eingelegt. Mit
Beschluss vom 15.11.1995 hat das Bayer. Landessozialgericht die Berufung gegen das Urteil des SG Nürnberg vom
21.07.1994 zugelassen. Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass sich der Erstattungsanspruch des Arbeitsamtes
immer dann nach § 104 SGB X richte, wenn bei der Bedürftigkeitsprüfung nach § 138 Arbeitsförderungsgesetz (AFG)
zunächst Bedürftigkeit angenommen und Alhi gezahlt wird, durch eine nachträgliche Rentengewährung aber
rückwirkend eine Minderung oder ein Wegfall der Alhi eintritt. Für Zeiten des Zusammentreffens von Sozialhilfe und
Alhi sei der Träger der Sozialhilfe aus einer Nachzahlung von Hinterbliebenenrenten nach § 106 Abs 2 Satz 2 SGB X
vorrangig vor der Bundesanstalt für Arbeit zu befriedigen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 21.07.1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die
Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen; hilfsweise beantragt sie, die Revision zuzulassen.
Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Klägerin wie auch die der Beklagten und die Prozessakte des SG
Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zugelassene Berufung der Beklagten erweist sich im Ergebnis als begründet. Zunächst ist festzustellen, dass es
nicht darauf ankommt, auf welche Rechtsgrundlage der Erstattungsberechtigte seinen Anspruch stützt und wie er
diese Grundlage bezeichnet, insbesondere, ob ein Anspruch gemäß § 103 oder § 104 SGB X geltend gemacht wird.
Entscheidend ist vielmehr die objektive Wertung und Einordnung des Anspruchs, die durch die Stelle vorzunehmen
ist, die die geltend gemachten Ansprüche zu befriedigen hat.
Hat ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und ist der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise
entfallen, ist der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht
bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 103 Abs 1
SGB X). Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen
von § 103 Abs 1 vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen
Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des
anderen Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung
der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104
Abs 1 SGB X). Nach Auffassung des Senats richtet sich der Erstattungsanspruch des Arbeitsamtes vorliegend nach
§ 104 SGB X. Maßgebliches Einordnungsmerkmal für den Erstattungsanspruch beim Zusammentreffen von Alhi mit
Hinterbliebenenrente sind die Anrechnungsvorschriften der §§ 137, 138 AFG (in der damals geltenden Fassung; jetzt §
190 ff SGB III). Die Anrechnungsvorschrift des § 138 Abs 1 Nr 1 AFG ist nach ihrer Funktion des
Einkommensausgleichs bei Bedarfssituationen ein wesentliches Merkmal, das zu einem Erstattngsanspruch nach §
104 SGB X führt (vgl dazu von Wulffen, SGB X, 4.Auflage, Rdnr 6 zu § 104 und auch Kasseler Kommentar, SGB X,
Rdnr 73 zu § 104). Dabei ist es unerheblich, ob das Arbeitsamt in Kenntnis eines Antrags oder Anspruchs auf
Hinterbliebenenrente die Arbeitslosenhilfe nach § 140 Abs 1 (gleichwohl) gewährt hat oder aus anderen Gründen, denn
es ist immer eine einkommensabhängige, von Anfang an subsidiäre Leistungsverpflichtung gegeben. Die Anwendung
des § 103 SGB X würde dagegen zweckidentische Doppelleistungen voraussetzen, was beim Zusammentreffen von
Alhi (dem Einkommensausgleich dienend) und Hinterbliebenrente (dient dem Ersatz von Unterhalt) nicht der Fall ist.
Zudem ist der Anspruch des Versicherten auf Alhi durch die Gewährung von Waisenrente nicht rückwirkend
weggefallen (der Bezug von Hinterbliebenenrente ist bei der Prüfung des Alhi-Anspruchs nur im Rahmen der
Bedürftigkeit zu berücksichtigen). Der infolge des Zusammentreffens von Alhi mit Hinterbliebenenrente entstehende
Erstattungsanspruch der Arbeitsverwaltung ist demnach in § 104 SGB X einzuordnen. Da beim Zusammentreffen von
Sozialhilfeleistungen und Alhi der Träger der Sozialhilfe seinerseits einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X
gegen das Arbeitsamt hat, ist der Träger der Sozialhilfe aus einer Nachzahlung von Hinterbliebenenrente nach § 106
Abs 2 Satz 2 SGB X vorweg zu befriedigen. Die mit Bescheid der Beklagten vom 20.07.1987 vorgenommene
Abrechnung der Nachzahlung aus der Waisenrente ist damit zu Recht erfolgt. Auf die Berufung der Beklagten war die
Klage gegen diesen Bescheid abzuweisen. Die Klägerin hat dem Beigeladenen zu 1. die außergerichtlichen Kosten für
beide Rechtszüge zu erstatten; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten, § 193 Abs 1 und Abs 4
Sozialgerichtsgesetz. Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Streitsache grundsätzliche Bedeutung
beimisst.