Urteil des LSG Bayern vom 30.09.2010

LSG Bayern: angemessene entschädigung, verwaltungsakt, auszahlung, sozialleistung, form, leistungsanspruch, sozialhilfeleistung, berechtigung, leistungsbezug, kompetenz

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 30.09.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 8 AL 931/03
Bayerisches Landessozialgericht L 10 AL 92/06
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.02.2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe der an den Kläger für die Zeit vom 01.07.2000 bis 30.06.2003 durch die
Beklagte auszuzahlenden Arbeitslosenhilfe (Alhi). Der 1955 geborene Kläger bezog von der Beklagten vom
05.11.1991 bis zu dessen Erschöpfung Arbeitslosengeld (Alg), im Nachgang wurde ihm fortlaufend Alhi bewilligt. Mit
Bescheid vom 05.07.2000 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi für den Kläger ab 09.05.2000 auf. Da er seit der
Entstehung des Leistungsanspruchs Anlass für den Eintritt von Sperrzeiten mit einer Gesamtdauer von 24 Wochen
gegeben habe, sei sein Leistungsanspruch erloschen. Die hiergegen geführten Widerspruchs- und Klageverfahren (S 5
AL 722/00) blieben erfolglos. Vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) schlossen die Beteiligten im Verfahren
L 10 AL 81/01 einen Vergleich, wonach die Beklagte die ab 09.05.2000 eingetretene Sperrzeit auf sechs Wochen
verkürzte und sich nach Ablauf dieser Sperrzeit dem Grunde nach bereit erklärte, dem Kläger wieder Alhi zu
bewilligen. Mit Schreiben vom 28.07.2003 meldete die Beigeladene bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch an,
da der Kläger aufgrund der Einstellung der Alhi seit dem 03.07.2000 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhalten habe. Im Einzelnen seien an Sozialhilfeaufwand Hilfe zum Lebensunterhalt
und Wohngeld in folgender Höhe erbracht worden:
Jahr 2000
Juli 2000 481, 00 DM August 2000 501, 00 DM September 2000 501, 00 DM Oktober 2000 661, 00 DM November
2000 883, 00 DM Dezember 2000 723,00 DM
Gesamt 2000: 3.750.- DM (= 1.917,34 EUR)
Jahr 2001
Januar 2001 358, 00 DM Februar 2001 1.024,75 DM März 2001 839, 00 DM
Gesamt 2001: 2.221,75 DM (= 1.135,96 EUR)
Jahr 2002
März 2002 443,66 EUR April 2002 443,66 EUR Mai 2002 378,86 EUR Juni 2002 378,86 EUR Juli 2002 385,23 EUR
Dezember 2002 146,64 EUR
Gesamt 2002 2.176,91 EUR
Jahr 2003
Januar 2003 314,23 EUR Februar 2003 243,23 EUR Mai 2003 51,37 EUR Juni 2003 385,23 EUR
Gesamt 2003 994,06 EUR
Insgesamt 6.224,27 EUR.
Mit Schreiben vom 31.07.2003 erkannte die Beklagte einen Erstattungsanspruch der Beigeladenen in Höhe von
6.224,27 EUR für die Zeit vom 01.07.2000 bis 30.06.2003 an. Mit Bescheiden vom 31.07.2003 bewilligte die Beklagte
dem Kläger für die Zeit vom 20.06.2000 bis 30.06.2003 Alhi mit folgenden Zahlbeträgen: Beginn/Änderung ab
Zahlbetrag wöchentlich Zahlbetrag täglich
20.06.2000 198,94 DM (101,72 EUR) 28,42 DM 01.07.2000 198,94 DM (101,72 EUR) 28,42 DM 01.01.2001 202,44
DM (103,51 EUR) 28,92 DM 01.07.2001 202,44 DM (103,51 EUR) 28,92 DM 01.01.2002 104,65 EUR 14,95 EUR
01.07.2002 106,05 EUR 15,15 EUR 01.01.2003 105,49 EUR 15,07 EUR
Ebenfalls mit Bescheid vom 31.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2003 teilte die
Beklagte dem Kläger mit, dass die Beigeladene dem Kläger für die Zeit vom 01.07.2000 bis 30.06.2003 Sozialhilfe in
Höhe von 6.223,27 EUR gezahlt habe. Damit sei der Beigeladenen ein Erstattungsanspruch erwachsen, den die
Beklagte zu erfüllen habe. Der Anspruch auf Alhi sei somit in gleicher Höhe erfüllt, dieser Betrag sei nach § 107 Abs.
1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht mehr an den Kläger auszuzahlen. Hiergegen hat der Kläger Klage
zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Die Hilfe zum Lebensunterhalt sei ihm mehrfach wegen der Anschuldigung
der Arbeitsverweigerung versagt worden, dadurch seien ihm Schäden in erheblicher Höhe entstanden. Mit Urteil vom
08.02.2006 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 31.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
23.10.2003 für die Monate November 2000 und Februar 2001 aufgehoben, soweit der Erstattungsbetrag höher als die
bewilligte Alhi gewesen sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Erstattungsanspruch sei nach § 104 SGB X
überwiegend gegeben, da die Beklagte für die Zeit vom 20.06.2000 bis Juli 2003 als vorrangig verpflichteter
Leistungsträger zu Unrecht keine Leistungen erbracht habe, der Kläger aber für den fraglichen Erstattungszeitraum
nachrangige Leistungen nach dem BSHG erhalten habe. Soweit diese den Anspruch auf Alhi monatsbezogen nicht
überstiegen, sei ein Erstattungsanspruch begründet. Gemäß § 104 Abs. 3 SGB X richte sich der Umfang des
Erstattungsanspruchs nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften.
Hiergegen hat der Kläger am 06.03.2006 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Die Beigeladene
sei zu einer Leistungserbringung gesetzlich nicht verpflichtet gewesen, dies hätten auch zwei Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht A. bestätigt. Ihm sei Sozialhilfe jahrelang versagt worden. Das an ihn bezahlte Wohngeld in Höhe
von 869,00 EUR und der ausbezahlte Lohn für seine Arbeit im Rahmen der Hilfe zur Arbeit Maßnahme in Höhe von
342,00 EUR sei keine Sozialhilfeleistung und könne somit nicht zu einer Erstattung führen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.02.2006 insoweit aufzuheben, als die
Klage abgewiesen wurde und den Bescheid vom 31.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
23.10.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit vom 01.07.2000 bis 30.06.2003 weitere 6.098,80
EUR Alhi zu zahlen. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf
die Akten der Beklagten und Beigeladenen sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Durch die
Verkündung nach § 132 SGG ist das Urteil aber existent, d.h. wirksam geworden. Eine Berufung kann schon ab dem
Wirksamwerden des Urteils eingelegt werden (allg. Meinung, vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG, 9.
Aufl. § 132 Rdnr. 1d). Dahinstehen kann, dass statthafte Klageart für das Begehren des Klägers eigentlich die "echte"
Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG ist (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 02.12.2003 - Az. L 14 AL 37/01 - veröffentlicht
in juris -). Die Beklagte hat einen Verwaltungsakt erlassen, damit ist das zusätzliche Anfechtungsbegehren des
Klägers nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft (Keller aaO § 54 RdNr. 41b). Die Berufung ist aber nicht begründet. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung von weiteren 6.098,80 EUR (= 6.224,27 EUR - 15,54 EUR - 109,92 EUR)
Alhi gegen die Beklagte. Das SG hat die Beklagte bereits mit Urteil vom 08.02.2006 verpflichtet, die an die
Beigeladene zu Unrecht erstatteten Beträge für November 2000 (15,54 EUR) und Februar 2001 (109,92 EUR)
nachzuzahlen. Nach Lage der Akten ist deren Auszahlung zwar nicht nachvollziehbar. Dies kann jedoch dahinstehen,
denn diese Beträge sind mangels Anschlussberufung der Beklagten nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens.
Im Übrigen gilt nach § 107 Abs. 1 SGB X der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten
Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch eines anderen Leistungsträgers nach den §§ 102 ff SGB X
besteht. Im Anwendungsbereich des § 107 SGB X kann der Leistungsempfänger somit kraft gesetzlicher Fiktion nicht
mehr gegen den endgültig zuständigen Leistungsträger vorgehen. Die Erfüllungsfiktion bewirkt, dass das zwischen
dem Berechtigten und dem endgültig Leistungsverpflichteten bestehende sozialrechtliche Schuldverhältnis erlischt. §
362 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) findet Anwendung (vgl. von Wulffen, SGB X, 6. Aufl., § 107 Rdnr. 8). Sie
tritt unabhängig davon ein, ob der Erstattungsanspruch vom berechtigten Träger geltend gemacht wird oder (z.B.
wegen des Ablaufs der Ausschlussfrist nach § 111 SGB X) noch nicht einmal geltend gemacht werden kann (vgl.
BSG, Urteil vom 06.02.1992 - Az. 12 RK 14/90 - SozR 3-2400 § 26 Nr. 5). Die Vorleistung des nachrangig
verpflichteten Leistungsträgers gilt aufgrund der Erfüllungsfiktion als rechtmäßig erbrachte Leistung des endgültig
verpflichteten Trägers. Hieraus folgt, dass der vorleistende Träger nicht berechtigt ist, die zu einer Leistung des
endgültig verpflichteten Trägers gewordene Sozialleistung durch Verwaltungsakt zu korrigieren. Dies fällt in die
ausschließliche Kompetenz des letztverantwortlichen Trägers (Klattenhoff in Hauck/Noftz, Stand 02/2005 §, 107
RdNr. 8 mwN; Kater in Kassler Kommentar, § 107 SGB X RdNr. 14). Eine Rücknahme der Bescheide über die
gewährte Sozialhilfe oder das Wohngeld durch die Beigeladene war somit nicht notwendig. Die Erfüllungsfiktion setzt
gewährte Sozialhilfe oder das Wohngeld durch die Beigeladene war somit nicht notwendig. Die Erfüllungsfiktion setzt
aber voraus, dass ein Erstattungsanspruch besteht. Dies ist der Fall, wenn der nachrangig verpflichtete
Leistungsträger auch tatsächlich eine Leistung an den Berechtigten erbracht hat (vgl von Wulffen aaO § 107 Rdnr. 3).
Vorliegend hat die Beigeladene - was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist - kongruente Sozialleistungen i.H.v.
6.098,80 EUR für den Kläger erbracht. Damit stand ihr grundsätzlich ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X
gegen die Beklagte zu. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die
Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der
Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat,
bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein
Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers
selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangige
Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen
müssen (§ 104 Abs. 1 SGB X). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Beigeladene hat als nachrangig
verpflichteter Leistungsträger gegenüber dem Kläger Sozialleistungen in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt und
pauschalierten Wohngeld erbracht, obwohl (vorrangig) ein Leistungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten
auf Bewilligung von Alhi bestand. Die von § 104 Abs 1 SGB X vorausgesetzte Nachrangigkeit der Ansprüche eines
Hilfesuchenden gegenüber dem zuständigen Sozialhilfeträger ergibt sich für die von der Beigeladenen gezahlten
Sozialhilfe aus der in § 2 BSHG (in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung) normierten Systemsubsidiarität dieser
Leistung. Danach erhält Sozialhilfe nicht, wer sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen,
besonders von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (vgl. BSG, Urteil vom 03.12.2002 - Az. B 2
U 12/02 R - SozR 3-5910 § 76 Nr 4). Zu den von der Beklagten zu erstattenden Sozialleistungen gehört die von der
Beigeladenen an den Kläger nach § 1 Abs. 1 BSHG gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt. Dies ist zwischen den
Beteiligten auch grundsätzlich nicht im Streit. Entgegen der Auffassung des Klägers stellt aber auch der an ihn
ausgezahlte "Lohn" für seine Arbeit im Rahmen der Hilfe zur Arbeit eine zu erstattende Sozialleistung dar, denn diese
wurde dem Kläger als angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen im Rahmen des § 19 Abs. 2 BSHG (in der
bis 31.12.2004 geltenden Fassung) bewilligt. Die Entschädigung nach § 19 Abs. 2 BSHG ist Teil des zweiten
Abschnitts des BSHG "Hilfe zum Lebensunterhalt" und ist damit nach § 104 SGB X erstattungsfähig.
Entgegen der Auffassung des Klägers besteht der Erstattungsanspruch der Beigeladenen gegen die Beklagte aber
auch hinsichtlich des bewilligten pauschalierten Wohngeldes nach § 32 Abs. 1 WoGG (in der hier maßgeblichen
Fassung). Das Wohngeld für laufende Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt war für den streitgegenständlichen
Zeitraum durch die Beigeladene auszuzahlen. Seiner Rechtsnatur nach blieb es Wohngeld nach dem
Wohngeldgesetz, wurde also nicht zur Sozialhilfeleistung (vgl. Schelhorn BSHG 15. Aufl. § 12 RdNr. 24a;
Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 14.11.2002 - Az. 5 C 58/01 - FEVS 54, 319ff). Nach § 32 Abs. 1
WoGG bemisst sich das vom Kläger bezogene pauschalierte Wohngeld abhängig von den anerkannten laufenden
Aufwendungen für die Unterkunft im Sinne des BSHG. Es war damit unmittelbar von der - daneben - bestehenden
Berechtigung des Bezugs von Sozialhilfeleistungen abhängig. Damit findet auch für das pauschalierte Wohngeld das
in § 2 BSHG für die Sozialhilfe normierte Nachrangigkeitsprinzip Anwendung. Es besteht also auch hinsichtlich dieser
Leistungen ein Erstattungsanspruch der nachrangig verpflichteten Beigeladenen gegen die Beklagte. Die von der
Beigeladenen an den Kläger gezahlten Leistungen sind auch rechtmäßig erfolgt (zu der Notwendigkeit dieser
Voraussetzung: Roos in von Wulffen aaO § 104 Rdnr. 8 mwN). Hieran vermögen die vom Kläger zitierten Urteile und
Beschlüsse des Verwaltungsgerichts A. nichts ändern. Zutreffend ist, dass der Kläger zeitweilig nicht im
Leistungsbezug bei der Beigeladenen stand und für diese Zeiträume damit auch ein Erstattungsanspruch der
Beigeladenen ausscheidet. Diese Zeiträume wurden von der Beklagten aber auch nicht im Rahmen der Erstattung
geltend gemacht. Weitere Bedenken hinsichtlich der Höhe des Erstattungsanspruchs der Beigeladenen gegen die
Beklagte und damit auch hinsichtlich der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X gegenüber dem Kläger hat dieser
nicht geltend gemacht und sind dem Senat auch nicht ersichtlich. Die Berufung war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG
zuzulassen, sind nicht ersichtlich.