Urteil des LSG Bayern vom 25.10.2005

LSG Bayern: vorläufiger rechtsschutz, krankenpflege, versorgung, behandlung, aufenthalt, nacht, hauptsache, pflegepersonal, wohnung, mahnkosten

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 25.10.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 43 KR 146/05 ER
Bayerisches Landessozialgericht L 4 B 336/05 KR ER
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, ab 1. Juli 2005, längstens bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, die
Kosten der Behandlungspflege im Umfang von fünf Stunden täglich gemäß dem Kassensatz zu übernehmen.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
III. Die Antragsgegnerin trägt ein Drittel der außergericht- lichen Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
I.
Streitig ist die Kostenerstattung bzw. die Gewährung von Behandlungspflege.
Der 1963 geborene Antragsteller, der bei der Beklagten versichert ist, erlitt am 30.08.2003 einen Autounfall mit der
Folge einer HWK-3/4-Luxationsfraktur mit kompletter Querschnittslähmung. Er befand sich bis 06.07.2004 in
stationärer Behandlung, zuerst im Klinikum G. , dann in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M ... Von dort
wurde der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 08.06.2004 bestätigt, dass noch keine so sichere Kreislaufsituation
erreicht werden konnte, dass der Antragsteller ohne begleitende Überwachung einer examinierten Pflegekraft gefahrlos
zu stabilisieren wäre. Der Pflegedienst P. GmbH und Co.KG bat die Antragsgegnerin um Kostenzusage für eine 24-
stündige Pflege mit Intensivbetreuung. Es sollten sechs Stunden täglich Behandlungspflege zu einem Stundensatz
von 31,00 EUR geleistet werden. Bei der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI wurde
Pflegestufe III empfohlen. Der Hausarzt des Klägers, der Arzt für Allgemeinmedizin Dr.J. verordnete ab 09.07.2004
24-stündige Pflege, unter anderem sechsmal täglich Katheterisierung, Blutdruckkontrolle, Betreuung und
Überwachung der instabilen Kreislaufsituation. Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 30.06.2004 eine 24-
stündige Überwachung mit der Begründung ab, diese Leistung sei nicht in den Richtlinien genannt und damit auch
nicht genehmigungsfähig. Die Bevollmächtigten des Klägers legten Widerspruch ein, die Notfallsituation sei bereits
eingetreten, am 15.08.2004 habe der Antragsteller einen Herz-Kreislaufstillstand erlitten und habe reanimiert werden
müssen. Das Pflegepersonal wache rund um die Uhr über ordnungsgemäße Atmungs- und Kreislaufstabilität. Der
Antragsteller hat am 11. Oktober 2004 angegeben, seine Pflege beginne um 7.00 Uhr. Mittags besuche er sein Bistro
in M. , ab ca. 20.00 Uhr halte er sich bis 23.00 Uhr in seinem Cafe in P. auf, danach werde er in der Wohnung
kathetert und fahre nochmals ins Bistro bis nach Mitternacht. Nachtruhe sei dann ab ca. 2.00 Uhr. Das Bistro könne
der Antragsteller mit seinem E-Fahrer erreichen. Außerdem stehe ein behindertengerechtes Fahrzeug zur Verfügung,
darin könne er in seinem E-Fahrer sitzend gefahren werden. Er lebe allein in seiner Wohnung. Laut Arztschreiben des
Klinikums M. befand sich der Antragsteller am 16. und 17.08. dort in stationärer Behandlung wegen einer Synkope.
Der von der Antragsgegnerin gehörte Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (Dr.E.) kam nach
Vorlage auch des Abschlussberichtes der Unfallklinik M. vom 08.07.2004 am 20.12.2004 zu dem Ergebnis, das akute
Eintreten eines Herz-Kreislaufstillstandes sei jetzt, 15 Monate nach der Verletzung, nicht mehr zu befürchten. Durch
die Lähmung aller Extremitäten bestehe beim Antragsteller zweifellos Hilfebedarf bei jeglichen Verrichtungen, so dass
schon von daher ständige persönliche Assistenz und Pflege rund um die Uhr benötigt werde. Eine Ausnahme bestehe
gegebenenfalls während der Schlafenszeit. Die ständige Anwesenheit einer hochqualifizierten, intensivmedizinisch
ausgebildeten Pflegekraft erscheine nicht notwendig. Alternativ zu einer Fachkraft lasse sich der Einsatz einer
Hilfskraft vertreten, wenn diese die notwendige Motivation mitbringe, in Erster Hilfe ausgebildet sei und in die
speziellen Belange eingewiesen wurde. Die Antragsgegnerin wies daraufhin den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 13.01.2005 ab. Die Notwendigkeit einer 24-Stunden-Intensivpflege sei nicht erkennbar.
Hiergegen hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht München erhoben und am 14.02.2005 Antrag auf einstweilige
Anordnung dahingehend gestellt, dass die Antragsgegnerin verpflichtet werden sollte, Behandlungspflege über 24
Stunden pro Tag à 31,00 EUR abzüglich über die Pflegeversicherung der Beigeladenen zu 1) abgesicherte
Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung zu gewähren. Die Beobachtung und Überwachung des Antragstellers
sei als medizinische Behandlungspflege zu bewerten und anzuerkennen. Sie stehe dem Antragsteller über 24 Stunden
pro Tag zu. Er weist auf die Rechtsprechung des BSG hin, wonach die reine Beobachtung der Beatmung eines
pflegebedürftigen Patienten Bestandteil der Behandlungspflege ist. Beim Antragsteller liege außerdem ein
Schlafapnoe-Syndrom vor, das stationär in der Unfallklinik M. vom 11. bis 13.04.2005 abgeklärt worden war.
Im Erörterungstermin vom 31.05.2005 beantragte der Antragsteller, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ab dem
29.06.2004 die Kosten für die häusliche Krankenpflege in Gestalt von Behandlungspflege in einem Umfang von 24
Stunden täglich abzüglich 329 Minuten pro Tag für die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung gemäß dem
Kassensatz zu übernehmen.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 13.06.2005 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die summarische Prüfung der Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens ergebe, dass ein Anspruch auf Übernahme
der Kosten für die vom Antragsteller begehrte häusliche Krankenpflege durch die Antragsgegnerin nicht bestehe. Auch
die Stellungnahme des neuen Pflegedienstes Life line und insbesondere der Abschlussbericht der
Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. vom 14.05.2005 bestätige die Richtigkeit der Ablehnung der
Antragsgegnerin bezüglich der Notwendigkeit einer 24 Stunden Intensivpflege. Beim Antragsteller liege anders als in
den von seinem Bevollmächtigten zitierten obergerichtlichen Entscheidungen kein Anspruch auf Behandlungspflege
vor. Auch wenn beim Antragsteller Atemschwierigkeiten durch das Schlafapnoe-Syndrom vorliegen, könne dieser
medizinische Umstand alleine noch nicht die Gleichstellung des Antragstellers mit den zitierten Fällen rechtfertigen.
Die ständige Anwesenheit einer hochqualifizierten, intensiv-medizinisch ausgebildeten Pflegefachkraft bzw. die
Notwendigkeit der speziellen Krankenbeobachtung und das regelmäßige Ergreifen von Maßnahmen mit
medizinischem Charakter benötige der Antragsteller nicht.
Hiergegen richtet sich die am 28.06.2005 beim Sozialgericht München eingegangene Beschwerde. Zur Begründung
wird mit Schreiben vom 25.08.2005 ausgeführt, das Sozialgericht verkenne die tatsächliche pflegerisch-medizinische
Lage des Antragstellers. Es wird ein ärztliches Attest des Arzt für Allgemeinmedizin Dr.J. vom 18.08.2005 vorgelegt,
wonach der Antragsteller an einem schweren zentralen Schlafapnoe-Syndrom leidet und ohne regelmäßige Atemhilfe
durch die Atemmaske Schäden am Gehirn erleiden könnte. Weiter wird vorgelegt ein Arztschreiben der Medizinischen
Abteilung der Klinik H., wo sich der Antragsteller vom 19.06.2005 bis 23.06.2005 in stationärer Behandlung befunden
hat. Hierin ist ausgeführt, beim Antragsteller habe sich das Vorliegen eines schwersten zentralen Schlafapnoe-
Syndroms bestätigt, die empfohlene Maskendruckbeatmung sei vom Patienten sofort akzeptiert worden. Die
häusliche Beatmung mit einer Ganzgesichtsmaske sei bei dem völlig hilflosen Patienten sicher problematisch, das
Pflegepersonal halte sich während der Nacht in einem Nebenraum auf. Es sei in die Bedienung des verordneten
Geräte eingewiesen worden. Eine Kontrolluntersuchung am 4. April 2006 wird empfohlen.
Auf telefonische Anfrage bestätigt der Bevollmächtigte des Antragstellers nach Rücksprache mit dem Antragsteller,
der Antragsteller benütze die verordnete Atemmaske regelmäßig, er habe sie sich unmittelbar nach dem Aufenthalt in
der Klinik besorgt. Zur Begründung der Eilbedürftigkeit wird darauf hingewiesen, das Rechenzentrum für Heilberufe
habe dem Antragsteller mit Schreiben vom 25.08.2005 eine letzte Mahnung mit Zahlungsaufforderung über offene
Vergütungsansprüche häuslicher Krankenpflege einschließlich Mahnkosten und Verzugszinsen in Höhe von
123.176,29 EUR zugestellt.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 13.06.2005 aufzuheben und
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ab dem 29.06.2004 die Kosten für die häusliche Krankenpflege in Gestalt von
Behandlungspflege in einem Umfang von 24 Stunden täglich abzüglich 329 Minuten pro Tag für Grundpflege und
hauswirtschaftliche Versorgung gemäß dem Kassensatz zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Auch das zur Beschwerdebegründung angeführte Schlafaponoe-Syndrom
rechtfertige keine 24-stündige hochqualifizierte intensiv-medizinische Überwachung. Auf das Schreiben des MDK vom
26.09.2005 wird hingewiesen. Danach habe sich die medizinische Situation insoweit verändert, dass der Versicherte
während des Schlafens über eine Vollgesichtsmaske an ein Atemgerät angeschlossen wird. Durch einen Ausfall des
Geräts würde es zwar nicht zu einer lebensbedrohlichen bzw. tödlichen Situation kommen, es sollte jedoch eine
Pflegeperson, die allerdings nicht hochqualifiziert sein müsse, eingreifen können. Auch ein Anordnungsanspruch sei
nicht gegeben, es sei nicht vorgetragen, dass der Antragsteller die Kosten bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens selbst tragen könne.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Beigezogen wurden die Akten der Antragsgegnerin und des Sozialgerichts, auf deren Inhalt im Übrigen Bezug
genommen wird.
II.
Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig (§§ 172,
173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Sie ist insoweit begründet, als die Antragsgegnerin verpflichtet ist, Kosten der Behandlungspflege für fünf Stunden
täglich ab 01.05.2005 zu übernehmen.
Gemäß § 86b Abs.2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den
Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des Zustandes die Verwirklichung
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung).
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der
Antrag einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben
sind. Der Anordnungsgrund liegt in der Eilbedürftigkeit (Dringlichkeit) der begehrten Sicherung oder Regelung; der
Anordnungsanspruch bezieht sich auf das materielle Recht, für das vorläufiger Rechtsschutz beantragt wird. Beide
Voraussetzungen sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs.2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 ZPO).
Aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen und pauschalen Prüfung der
Sachlage geht der Senat davon aus, dass der Antragsteller ab dem Zeitpunkt der Benützung der Atemmaske
Anspruch auf Behandlungspflege gemäß § 37 Abs.2 Satz 1 SGG hat (Behandlungssicherungspflege). Der
Antragsteller ist zwar nicht wie die in der Entscheidung des BSG vom 28.01.1999 (B 3 KR 4/98 R) und in den Urteilen
des Senats vom 14.09.2002 (L 4 KR 107/02) und vom 9. März 2005 (L 4 KR 270/03) betroffenen Versicherten 24
Stunden täglich auf Beatmung angewiesen, er benötigt (und benützt) das ihm wegen der schweren zentralen
Schlafapnoe im Juni 2005 verordnete Gerät nur während der Schlafenszeit. Während dieser Zeit ist er auf
Beobachtung angewiesen. Dies ergibt sich aus der völligen Bewegungsunfähigkeit des Antragstellers und wird auch
vom MDK bestätigt.
Der Senat hat keine Bedenken, der Angabe des Antragstellers zu folgen, er habe sich das Beatmungsgerät
unmittelbar nach dem stationären Aufenthalt beschafft. Es wird deshalb von einem Beginn der Verpflichtung der
Beklagten 1. Juli 2005 ausgegangen. Auch zur täglichen Dauer der Behandlungspflege folgt der Senat den Angaben
des Antragstellers. Nachtruhe beginnt bei ihm um 2.00 Uhr, die Pflege beginnt um 10.OO Uhr. Es ergeben sich damit
fünf Stunden Schlaf und Notwendigkeit der Beatmung. Da der Antragsteller allein lebt, steht dem Anspruch nicht § 37
Abs.3 SGB V entgegen.
Soweit über normale Behandlungspflege hinaus Intensivpflege beantragt wird, ist die Beschwerde begründet. Die
Ausführungen des MDK hierzu sind überzeugend. Der Vortrag des Antragstellers, dass auch außerhalb der Nacht,
wenn die Maske nicht getragen wird, jederzeit eine Sauerstoffunterversorgung drohe und daher eine permanente
Überwachung - quasi von Angesicht zu Angesicht - erforderlich sei, ist zu unbestimmt und entspricht nicht dem
geschilderten Tagesablauf. Daraus lässt sich noch keine Verpflichtung der Antragsgenerin stützen.
Es ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es ist dem Antragsteller in Anbetracht der Tatsache, dass er
bereits einer Forderung des Pflegedienstes in Höhe von 123.176,29 EUR ausgesetzt ist, nicht zuzumuten, die
Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten und selbst die Behandlungspflege zu finanzieren.
Soweit beantragt wird, Kosten für häusliche Krankenpflege ab 29.06.2004 im Wege der einstweiligen Anordnung der
Antragsgegnerin aufzubürden, ist die Beschwerde unbegründet. Abgesehen davon, dass eine Verpflichtung der
Antragsgegnerin zur vorläufigen Kostenübernahme de facto eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung
bedeuten würde, die bei positivem Verfahrensausgang im Sinne der Antragsgegnerin kaum revidierbar wäre (der
Antragsteller wird die Kosten sofort der Pflegefirma bezahlen), teilt der Senat die Auffassung des Sozialgerichts, dass
die Erfolgsaussicht im Hauptsacheverfahren für die Zeit vor Benützung des Beatmungsgerätes gering ist. Der
Antragsteller ist nicht mit den Versicherten zu vergleichen, die wegen ständiger Beatmungspflichtigkeit 24 Stunden
täglich beobachtet werden müssen. Der Senat weist insoweit auf die Ausführungen des Sozialgerichts im
angefochtenen Beschluss hin und sieht in entsprechender Anwendung von § 153 Abs.2 SGG von weiteren Darstellung
der Entscheidungsgründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).