Urteil des LSG Bayern vom 15.11.2001

LSG Bayern: arbeitsentgelt, aufzeichnungspflicht, lebenserfahrung, nachforderung, form, beitragsbemessung, beitragsberechnung, verwaltungsverfahren, ermächtigung, sozialversicherungsrecht

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.11.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 16 RA 773/99
Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 144/00
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. Oktober 2000 abgeändert. II. Die
Bescheide der Beklagten vom 28. April 1998 und 22. Januar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17. Juni 1999 werden aufgehoben. III. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin und
der Beigeladenen zu 4) bis 10) für beide Rechtszüge. IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Klägerin Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 22.109,14 DM aus steuerrechtlich geschätzten
Trinkgeldeinnahmen nachzuentrichten hat.
Das Finanzamt München V hat bei der Klägerin vom 04. bis 06.03.1996 eine Lohnsteueraußenprüfung durchgeführt,
im Bericht wird ausgeführt, die auf den vorgelegten Trinkgeldbescheinigungen von den einzelnen Kellnern erklärten
Trinkgelder entsprächen nach der Lebenserfahrung auch nicht nur annähernd den tatsächlich erhaltenen Trinkgeldern.
Sie würden deshalb gemäß Umsatzes geschätzt. Die sich daraus ergebenden Beträge würden durch
Kontrollmitteilungen den Veranlagungsfinanzämtern der betreffenden Arbeitnehmer mitgeteilt.
Am 19.08.1997 führte die Beklagte bei der Klägerin eine Betriebsprüfung über den Prüfzeitraum vom 01.12.1992 bis
31.12.1996 durch. Mit Bescheid vom 28.04.1998 forderte sie Beiträge in Höhe von 24.868,58 DM nach. Die
sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Arbeitsentgelt richte sich grundsätzlich nach dem Steuerrecht. Der
Lohnsteueraußenprüfung folgend, ergäben sich beitragsrechtliche Konsequenzen für freiwillig gezahlte Trinkgelder. Die
Nachforderung betreffe die Kalenderjahre 1992 bis 1995.
Die Klägerin ließ gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 22.06.1998 Widerspruch einlegen. Die Beklagte half mit
Bescheid vom 22.01.1999 dem Widerspruch insoweit ab, als sie die Nachforderung auf 22.109,14 DM reduzierte. In
einem Personalfall war ein unzutreffender Beitragssatz für die Berechnung der Arbeitslosenversicherung zu Grunde
gelegt worden. Im Übrigen wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.1999 zurückgewiesen. Der
Bundesfinanzhof habe entschieden, dass das Finanzamt bei Veranlagung zur Einkommenssteuer trotz vorliegender
Trinkgelderklärung die Höhe der Trinkgelder schätzen könne, wenn nach den Feststellungen im Betrieb des
Arbeitgebers die Richtigkeit der Trinkgelderklärung nach der allgemeinen Lebenserfahrung unglaubhaft erscheine. Das
Betriebsstättenfinanzamt München V habe die Höhe der Trinkgelder geschätzt, es sei angenommen worden, dass die
Bedienungen mindestens ein freiwilliges Trinkgeld in Höhe von 1,5 % vom Umsatz erhalten hätten. Ein Freibetrag von
2.400,00 DM sei angerechnet worden. Der übersteigende Betrag sei beitragspflichtiger Arbeitslohn. Die Verjährung
betrage 30 Jahre.
Hiergegen erhob die Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum Sozialgericht München. Die AOK Bayern, die
Bundesanstalt für Arbeit, die LVA Oberbayern und die noch bei der Klägerin beschäftigten Arbeitnehmer wurden zum
Verfahren beigeladen, Trinkgeldlisten und Trinkgeldnachweise wurden vorgelegt. Im Termin zur mündlichen
Verhandlung am 26.10.2000 äußerten sich die Beigeladenen zu 4), 5), 7) und 8). Die Beigeladene zu 4) bestand auf
der Nachholung des Verwaltungsverfahrens.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 26.10.2000 die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten insoweit
aufgehoben, als Beiträge für die nicht zum Rechtsstreit beigeladenen Arbeitnehmer sowie die Beigeladene zu 4)
nacherhoben worden sind. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Das Sozialgericht kam zu dem Ergebnis, die
Einlassungen der beigeladenen Kellner konnten auch in der mündlichen Verhandlung nicht überzeugen.
Entscheidungserheblich für das Gericht sei die Schätzung durch das Betriebsstättenfinanzamt München V gewesen.
Die dieser Schätzung folgende Schätzung der Beklagten sei auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Für die nicht
mehr bei der Klägerin beschäftigten Personen dürften Gesamtsozialversicherungsbeiträge nicht nachgefordert werden.
Deshalb sei im Übrigen der Klage der Erfolg zu versagen.
Gegen diese Entscheidung hat nur die Klägerin Berufung eingelegt. Die Bevollmächtigte wiederholt zusammengefasst
ihre Rechtsmeinung, Trinkgelder dürften nicht geschätzt werden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.10.2000 insoweit aufzuheben, als die Klage abgewiesen wurde sowie
die Bescheide der Beklagten vom 28.04.1998 und 22.01.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17.06.1999 vollständig aufzuheben. Die Beklagte beantragt,
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bleibt bei ihrer Auffassung, ihr sei es nicht verwehrt, Beiträge nachzuerheben und sich dabei an den Schätzungen
des Finanzamtes zu orientieren. Die Schätzung sei jedenfalls nicht zu hoch.
Die Beigeladene zu 2) schließt sich dem Antrag und dem Vorbringen der Beklagten vorbehaltlos an.
Die übrigen Beteiligten stellten keine Anträge.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakten
erster und zweiter Instanz, insbesondere auf die umfangreichen Schriftsätze der Klägerbevollmächtigten, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, deren Beschwerdewert DM 1.000,00 im Zeitpunkt
des Berufungseingangs übertrifft (§ 144 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGG) ist zulässig und begründet.
Streitig ist nur noch, ob für die am Verwaltungsverfahren beteiligten Arbeitnehmer der Klägerin, die ihr Trinkgelder
gemeldet haben, eine (höhere) geschätzte Summe für die Trinkgelder der Beitragsbemessung zu Grunde gelegt
werden darf und der Arbeitgeber dafür einzustehen hat.
Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass Trinkgelder bei der Beitragsbemessung zu berücksichtigen sind.
Gemäß §§ 342 SGB III, 226 Abs.1 Nr.1 SGB V, 162 Nr.1 SGB IV und 57 Abs.1 Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, und
Pflegeversicherung das Arbeitsentgelt aus einer Beschäftigung. § 14 SGB IV regelt, dass Arbeitsentgelt alle
laufenden und einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung sind, gleichgültig ob ein Rechtanspruch auf die
Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus
der Beschäftigung oder in Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Dieser weite Entgeltbegriff wird eingeschränkt durch
die Arbeitszeitentgeltverordnung (ArEV), die in § 1 vorsieht, dass einmalige Einnahmen, laufende Zulagen, Zuschläge,
Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, die zusätzlich zu Löhnen oder Gehältern gewährt werden, nicht dem
Arbeitsentgelt zuzurechnen sind, soweit sie lohnsteuerfrei sind und sich aus § 3 nichts abweichendes ergibt. Gemäß
§ 3 Nr.51 Einkommensteuergesetz (EstG) sind steuerfrei alle Trinkgelder, die dem Arbeitnehmer von Dritten gezahlt
werden, ohne dass ein Rechtsanspruch darauf besteht, soweit sie DM 2.400,00 im Kalenderjahr nicht übersteigen.
Daher sind die den Beigeladenen zu 4) bis 10) gezahlten Trinkgelder, soweit sie jeweils die Freibetragsgrenze von DM
2.400,00 überschreiten, als Arbeitsentgelt im Sinne des SGB anzusehen und zählen zu den beitragspflichtigen
Einnahmen für die Sozialversicherung.
Die Beklagte ist jedoch nicht berechtigt, die Höhe der Beträge zu schätzen, wenn sie meint, die von den Beigeladenen
zu 4) bis 10) an die Klägerin gemeldeten Trinkgelder und von dieser der Beitragsberechnung zu Grunde gelegten
Trinkgelder seien zu niedrig.
Eine Ermächtigung zur Schätzung der Höhe des Arbeitsentgeltes durch den prüfenden Träger der Rentenversicherung
ergibt sich aus § 28 f. Abs.2 Satz 3 SGB IV, soweit die Höhe des Arbeitsentgeltes nicht ohne unverhältnismäßig
großen Verwaltungsaufwand ermittelt werden kann. Abs.2 Satz 1 schränkt diese Möglichkeit jedoch auf den Fall ein,
dass ein Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt und dadurch die Versicherungs- oder
Beitragspflicht oder die Beitragshöhe nicht festgestellt werden können. Die Klägerin hat ihre Aufzeichnungspflicht
ordnungsgemäß erfüllt. Die Klägerin als Arbeitsgeberin hat sich, wie sich aus den Akten ergibt, jeweils monatlich
schriftliche Trinkgelderklärungen der Mitarbeiter geben lassen. Selbst wenn diese auf Grund allgemeiner
Lebenserfahrung in der Höhe durchaus angezweifelt werden können, ist nicht ersichtlich, wie es der Klägerin möglich
gewesen sein sollte, die tatsächliche Höhe der Trinkgelder zu ermitteln. Selbst wenn man annimmt, dass die
Mitarbeiter der Klägerin als Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber gegenüber eine Pflicht zur Erklärung der tatsächlichen
Trinkgeldhöhe hätten, hat der Arbeitgeber jedenfalls keine Handhabe, derartige Verpflichtungen durchzusetzen. Auch
der Bundesfinanzhof hat bereits mehrfach entschieden, dass ein Arbeitgeber nicht befugt ist, Besteuerungsgrundlagen
zu Lasten Dritter - hier seiner Arbeitnehmer - zu schätzen, da das Gesetz eine derartige Befugnis, wie sie dem
Finanzamt in § 162 Abgabenordnung (AO) eingeräumt wird, nicht eröffnet (vgl. BFH 6. Senat vom 24.10.1997, DB
1998, S.43).
Weiterhin hat der BFH entschieden, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Einbehaltungen und Abführung der
Lohnsteuer regelmäßig nur soweit besteht, als der Arbeitgeber tatsächlich oder rechtlich in die Zahlung des
Arbeitslohnes an die Arbeitnehmer eingeschaltet ist und über dessen Höhe in Kenntnis gesetzt ist. Diese
Voraussetzung liege im Bezug auf die den Arbeitnehmern freiwillig zugewendeten Trinkgelder im allgemeinen nicht vor
(BFH a.a.O.). Das gilt hier auch. Wenn ein Arbeitgeber aber schon keine steuerrechtliche Pflicht hat, Lohnsteuer auf
die Trinkgelder einzubehalten, deren Höhe er nicht kennt, kann auch keine sozialversicherungsrechtliche
Aufzeichnungspflicht vorliegen. Da die Klägerin im vorliegenden Fall ihre Aufzeichnungspflicht nach § 28 f. Abs.1
SGB IV ordnungsgemäß erfüllt hat, konnte der prüfende Träger der Rentenversicherung die Höhe der Arbeitsentgelte
nicht gemäß Abs.3 schätzen. Eine dem § 162 AO entsprechende Regelung existiert im Sozialversicherungsrecht
nicht. Damit scheidet eine Zahlungspflicht für die Klägerin nach § 28 e Abs.1 SGB IV aus.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache lässt der Senat die Revision zu (§ 160 Abs.2 Nr.1 SGG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Obsiegen der Klägerin.