Urteil des LSG Bayern vom 21.11.2002

LSG Bayern: anhaltende somatoforme schmerzstörung, berufliche wiedereingliederung, gutachter, arbeitsmarkt, prokurist, belastung, wechsel, erwerbsunfähigkeit, kurzsichtigkeit, leistungsfähigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.11.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 16 RA 385/99
Bayerisches Landessozialgericht L 14 RA 232/00
Bundessozialgericht B 4 RA 46/03 B
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. September 2000 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist unter den Beteiligten eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit über den 31.01.1998 hinaus.
Der 1945 geborene Kläger, ein gelernter Kaufmann, war zuletzt als Hypothekensachbearbeiter in einer Bank (Prokurist
in der Hypothekenabteilung) tätig. Am 26.01.1994 erlitt er einen (Betriebs-)Sportunfall, bei dem es zu einer
Sprunggelenksfraktur rechts mit mehrfachen nachfolgenden Operationen und verzögerter Heilung durch depressive
Reaktion kam. Die zuständige Verwaltungsberufsgenossenschaft erkannte einen Arbeitsunfall an, gewährte
Verletztengeld und - nach einer Vielzahl von stationären Behandlungen, Anschlussheilmaßnahmen und Heilverfahren
sowie dem erfolglosen Versuch der stufenweisen Wiedereingliederung im April/Mai 1996 - mit Bescheid vom
13.11.1997 eine Unfallteilrente nach einer MdE von 30 v.H. ab 29.09.1997 (DM 2.285,16 DM monatlich im November
1997). Sie hatte zuvor die Sachverständigen Prof.B./Dr.H. (chirurgisches Gutachten vom 14.05.1997: Tätigkeit als
leitender Angestellter nicht eingeschränkt, lediglich Tätigkeiten in unebenem Gelände, Stehen auf Leitern, erhebliche
körperliche Belastungen zu vermeiden) und Dr.K. (nervenärztliches Gutachten vom 20.08.1997: "psychiatrisches
Syndrom", das keine Unfallfolge sei, aber, bedingt durch den Unfall als Auslöser, auf einer psychischen Disposition -
psychasthenische, leicht kränkbare Persönlichkeit - beruhe) gutachtlich gehört.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 08.12.1997/ Neuberechnungsbescheid vom 30.10.1998 Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit für den Zeitraum vom 29.09.1997 bis 31.01. 1998. Den Antrag des Klägers auf
Weiterzahlung der Rente vom 05.01.1998 lehnte sie mit Bescheid vom 15.06.1998 ab, weil der Kläger nicht mehr
erwerbs- bzw. berufsunfähig sei und in seinem bisherigen Berufsbereich wieder vollschichtig arbeiten könne. Zu
Grunde lagen Begutachtungen auf orthopädischem und nervenärztlichem Gebiet. Der Nervenarzt Dr.K. vertrat in
seinem Gutachten vom 23.03.1998 (Diagnosen: "depressive Anpassungsstörung, Tinnitus, Spannungskopfschmerz")
die Auffassung, der Kläger könne zwar auf Sicht von einem Jahr in seinem bisherigen Tätigkeitsfeld als
Bankkaufmann nicht mehr arbeiten, wohl aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig einfache
Männerarbeiten im Sitzen ohne hohe Stressbelastung sowie ohne hohe statische Belastung der Wirbelsäule und ohne
hohe Anforderungen an das Hörvermögen vollschichtig durchführen. Der Orthopäde Dr.K. (Gutachten vom 03.04.1998,
Diagnosen: "Zustand nach Weber-C-Fraktur rechts mit nachfolgenden Komplikationen und Nachoperationen,
chronisches Hals-, Brust- und Lumbalsyndrom, jeweils ohne sensomotorische Defizite, periartikuläre Verkalkungen
und Verkalkungen nach lateral ziehend am Beckenkamm rechts") hielt ebenfalls eine Einsatzfähigkeit des Klägers in
seinem Beruf "zur Zeit" nicht für gegeben, da das Gehen, Stehen und Sitzen wegen stechender Schmerzen massivst
eingeschränkt seien. Der Prüfarzt der Beklagten schloss sich dieser sozialmedizinischen Beurteilung nicht an,
sondern hielt alle ausbildungsmäßigen Tätigkeiten ohne Einschränkung für möglich.
Der Widerspruch gegen diesen Bescheid, mit dem ein Attest des behandelnden Orthopäden Dr.M. vom 29.06.1998
vorgelegt und die nicht ausreichende Würdigung des depressiven Syndroms geltend gemacht wurde, wurde mit
Widerspruchsbescheid vom 12.08. 1999 zurückgewiesen. Darin hieß es u.a., die vom behandelnden Orthopäden als
leistungsmindernd angenommenen subjektiven Beschwerden seien angesichts fehlender Schmerzmedikation nicht
glaubhaft.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) berief sich der Kläger auf neurologische Beschwerden. Das SG holte
Befundberichte bzw. ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte, Kliniken und des Diplom-Psychologen F. ein, ferner
eine Arbeitgeberauskunft der B. bank AG, Hypothekenbank, vom 11.05.1999 ("sitzende Tätigkeit mit erhöhter
psychischer Belastung, außertarifliche Entlohnung") und zog die Schwerbehindertenakte des Amts für Versorgung und
Familienförderung München II bei (GdB 30). Das SG erhob Beweis über den Gesundheitszustand und die
Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Einholung von Gutachten auf orthopädischem und nervenärztlichem Gebiet. Der
Sachverständige Dr.L. erhob in seinem fachchirurgisch-orthopädischen Gutachten vom 21.09.1999 die Diagnosen:
"leichtgradiges Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom mit sich daraus ergebender Funktionseinschränkung ohne
Zeichen eines peripher-neurogenen Defektes, kleines Leistenbruchrezidiv links, Arthrose rechtes oberes Sprunggelenk
mit mäßiggradiger Funktionseinschränkung, Senk-Spreizfüße beidseits und mäßiggradig verminderter Geh- und
Stehfähigkeit sowie der Notwendigkeit des Tragens orthopädischer Hilfsmittel". Er hielt leichte und mittelschwere
Arbeiten im gelegentlichen Wechsel der Körperposition ohne Heben und Tragen von Lasten über 1,5 kg, häufigstes
Bücken und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten für vollschichtig möglich, und zwar sowohl auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt wie auch im letzten Tätigkeitsbereich als Bankangestellter.
Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.P. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 31.01.2000 einen depressiv
gefärbten psychovegetativen Spannungszustand multifaktorieller Genese, Schweregrad leicht bis mittelgradig, und
eine Somatisierungsstörung, daneben ein Cervikalsyndrom leichten Grades ohne akute Nervenwurzelreizzeichen. Er
stellte u.a. fest, dass keine regelmäßige nervenärztliche Behandlung und Medikation mehr erfolge. In Würdigung der
genannten Gesundheitsstörungen vertrat er die Auffassung, der Kläger könne in seiner bisherigen Berufstätigkeit als
Bankangestellter sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin vollschichtig tätig sein, wobei neben den von
Dr.L. genannten qualitativen Einschränkungen auch Arbeiten in Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Tätigkeiten im
Freien und Arbeiten unter besonderem Zeitdruck oder besonderer psychischer Belastung sowie Nachtarbeiten
ausscheiden sollten. Tätigkeiten an Büromaschinen und an Bildschirmen in arbeitsüblichem Umfang wurden
ausdrücklich als zumutbar bezeichnet.
Der Kläger sah nach längerer Überlegung von einer Antragstellung nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab. Er
legte neue Atteste über orthopädisch-radiologische Untersuchungen im Jahr 2000 vor. In einer ergänzenden
Stellungnahme vom 14.07.2000 würdigte der Sachverständige Dr.L. diese Befunde als altersgemäß und blieb bei der
in seinem Gutachten vertretenen sozialmedizinischen Beurteilung.
Das SG wies die auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, über Januar 1998 hinaus
gerichtete Klage mit Urteil vom 07.09.2000 ab mit der Begründung, der Kläger könne sowohl in seinem bisherigen
Beruf als Prokurist in der Hypothekenabteilung einer Bank als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig
weiter tätig sein. Es stützte sich auf die eingeholten ärztlichen Gutachten und das darin festgestellte vollschichtige
Leistungsvermögen mit gewissen qualitativen Einschränkungen. Lediglich die mit der Tätigkeit als Prokurist
verbundene erhöhte psychische Belastung habe nach den Feststellungen des Dr.P. partiell auszuscheiden, dies sei
jedoch nicht entscheidungserheblich, da es nicht auf die Besonderheiten am letzten Arbeitsplatz ankomme. Auch sei
ein wesentlicher sozialer Abstieg nicht gegeben, wenn ein Angestellter auf die Gruppe unter der sich aus der
Wertigkeit des Hauptberufes ergebenden Berufsgruppe verwiesen werde. Die Verweisbarkeit beschränke sich nicht
auf die nächst niedrigere Vergütungsgruppe des Tarifvertrages und sei nicht an den zuletzt ausgeübten Fachzweig
gebunden. Selbst eine Umstellung auf einen anderen Fachbereich sei dann zumutbar, wenn die erforderliche
Einarbeitung innerhalb von drei Monaten möglich sei.
Mit seiner Berufung wendet sich der Kläger gegen dieses Urteil und verweist insbesondere auf die ab ca. 1990
ausgeübte Tätigkeit in hervorgehobener beruflicher Stellung (Prokurist mit einem monatlichen Bruttogehalt von ca. DM
11.000,00) sowie auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Jahresende 1998 infolge der krankheitsbedingten
Fehlzeiten des Klägers. Dieser habe nach Lohnfortzahlung und Verletztengeld seit Jahren nur mehr von der
Verletztenrente in Höhe von ca. DM 2.300,00 monatlich zu leben. Eine Verweisung im Rahmen des Rentenverfahrens
auf seinen Lehrberuf als Kaufmannsgehilfe mit einem Bruttogehalt von allenfalls DM 5.000,00 monatlich sei wegen
des finanziellen Abstiegs nicht zumutbar. In der Sache wird weiter geltend gemacht, es liege ein multiples
Beschwerdebild vor. Auf psychiatrischem Fachgebiet sei die Problematik nicht ausreichend aufgeklärt (u.a.
Scheidungsprobleme, Konflikte mit Ehefrau und Sohn); der Kläger befinde sich seit 1994 in ständiger psychologischer
Behandlung, allerdings nach der Ablehnung weiterer Kostenübernahme durch die Krankenkasse im Januar 2000 nur
mehr zwei Stunden pro Monat. Die Herzproblematik sei nicht ausreichend eruiert worden, die
Wirbelsäulenbeschwerden hätten sich erheblich verschlechtert, es bestünden erhebliche Beschwerden in der
Leistengegend wegen eines nur unter dem Risiko der Lähmung der rechten Extremität operablen Leistenbruchs. Auch
auf augenärztlichem Gebiet beständen Behinderungen. Insgesamt liege eine Summierung ungewöhnlicher
Leistungseinschränkungen vor, die den Kläger an Arbeiten unter betriebsüblichen Bedingungen hindere.
Vorgelegt wird dazu ein ärztliches Attest des Augenarztes Dr.C. vom 05.10.2000, wonach auf Grund massiver
Glaskörpertrübungen für Bildschirmarbeit nur die Tauglichkeitsstufe III (ungeeignet wegen zu erwartender
gesundheitlicher Schädigung) bestehe.
Der Senat erholte Befundberichte und ärztliche Unterlagen des Orthopäden Dr.M. vom 27.02.2001 ("mehrfache akute
lumbalgieforme Beschwerden im Laufe des Jahres 1999, im Übrigen unveränderter Zustand"), des Internisten Dr.G.
vom 02.03.2001 (Normalbefunde bei Sonographie Abdomen und Schilddrüse, EKG, Ergometrie bis 100 Watt,
Spirometrie, Echokardiographie etc.; weder Verbesserung noch Verschlechterung der Befunde, die vielmehr während
der letzten Jahre mehr oder minder konstant seien) und des Psychologen und Psychoanalytikers F. vom 14.03.2001
(Verschlechterung der psychischen Symptomatik seit Einzug des Sohnes beim Kläger im Februar 1999; berufliche
Wiedereingliederung sei wegen der Schwere und Dauer der psychischen Erkrankung sowie der langen Abwesenheit
aus dem Berufsleben nicht mehr möglich), ebenso einen Befundbericht des Dr.C. auf augenärztlichem Gebiet vom
04.08.2001 (Computertätigkeit wegen zunehmender und nach Angaben des Patienten störender Trübungen nicht mehr
ausführbar).
Im Auftrag des Senats erstellte der Arzt für Orthopädie Dr.F. am 13.08.2001 ein orthopädisches Gutachten. Der
Kläger klagte bei der Untersuchung über Schmerzen vom Kopf bis zu den Füßen und über die Beeinträchtigung der
Belastbarkeit wegen allgemeiner Kraftlosigkeit, zusätzlich wegen Hüft-, Knie- und Wirbelsäulenbeschwerden; auch
bestünden heftige Schmerzen am rechten Beckenkamm nach Knochenmaterialentnahme auf Grund einer
Nervenläsion.
Der Gutachter erhob folgende Diagnosen: 1. Partielle initiale Chondrosis intervertebralis C 5 bis C 6 bei leichter
Fehlhaltung der Halswirbelsäule und geringer Spondylarthrose. 2. Leichte Thorakalskoliose. 3. Chondrosis
intervertebralis L 5/S 1. 4. Initialarthrose der Hüftgelenke, Weichteilverkalkung neben dem rechten Hüftkopf und
exostosenartiger Ausziehungen an der rechten Darmbeinschaufel nach Spongiosaentnahme. 5. Minimale mediale
Gonarthrose beidseits. 6. In Fehlstellung verheilte Außenknöchelfraktur rechts mit Verbreiterung der
Sprunggelenkgabel und beginnenden degenerativen Sprunggelenkveränderungen. 7. Hallux rigidus beidseits (nach
fehlgeschlagenem operativen Eingriff an beiden Großsehnen), nicht kontrakte Spreizfüße. 8. Impingement-Syndrom
rechts.
In der sozialmedizinischen Beurteilung kam Dr.F. zu dem Ergebnis, der Kläger könne seit Januar 1998 Tätigkeiten
unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses acht Stunden täglich verrichten. Zeitliche
Einschränkungen seien nicht begründbar, da abgesehen von den Verletzungsfolgen am rechten Sprunggelenk
wesentliche altersatypische Gesundheitsstörungen nicht zu verzeichnen seien. Lediglich Überkopfarbeiten sollten
wegen des Befundes der rechten Schulter und des rechten Armes unterbleiben. Insgesamt könne der Kläger leichte
und mittelschwere Arbeiten verrichten, die aus prophylaktischen Gründen deutlich überwiegend im Sitzen ablaufen
sollten. Die Gehfähigkeit betrage wesentlich mehr als 500 m zu einem öffentlichen Verkehrsmittel und dann von
diesem wesentlich mehr als 500 m zum Arbeitsplatz in angemessener Geschwindigkeit zu Fuß und auch nach
Arbeitsende in umgekehrter Reihenfolge.
Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.S. erstellte im Auftrag des Senats ein am 14.11.2001 eingegangenes
nervenärztliches Gutachten. Der Kläger klagte bei der Untersuchung erneut über Beschwerden am Kopf, an der
Wirbelsäule, Schmerzen am Herzen, am Beckenkamm, an den Knien und am Sprunggelenk sowie über eine
Lähmungserscheinung der linken Hand. Der Gutachter beschrieb eine erhebliche psychomotorische Unruhe mit
erhöhtem Rededrang, sprunghaftem Gedankengang und resignativer Grundhaltung. Er diagnostizierte nach Darlegung
und Abwägung der einzelnen sich beim Kläger auf psychischem Gebiet ergebenden Aspekte eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung, daneben eine rezidivierende depressive Störung leichter Ausprägung mit
Somatisierungsneigung und ein rezidivierendes Schulter-Syndrom links ohne sichere Zeichen einer Wurzelbeteiligung.
Der Gutachter ging von einem weiter bestehenden vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers aus und
begründete dies mit dem Umstand, dass die Lebensführung des Klägers und sein Tagesablauf eine wesentliche
Einschränkung der psychischen und körperlichen Belastbarkeit nicht belege. Allerdings könne es sich nur noch um
leichte körperliche Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen ohne Kälte- und Nässeeinfluss, ohne Zeit- und
Termindruck und überwiegenden Publikumsverkehr handeln, ferner solle der Kläger nicht häufig Treppen oder Leitern
benutzen und Wechsel- bzw. Nachtschicht verrichten müssen. Angesichts einer verminderten Dauerbelastbarkeit
sowohl in körperlicher als auch in psychischer Hinsicht müsse daneben die Möglichkeit des Einlegens von Pausen
nach jeweils zwei Stunden über einen Zeitraum von jeweils einer Viertelstunde eingeräumt werden.
Die Beklagte wandte sich gegen die Annahme der Notwendigkeit von betriebsunüblichen Pausen, da die Befunde
nicht entsprechend ausgeprägt seien und dem Kläger im Rahmen seiner persönlichen Verteilzeit ohnehin kleinere
Pausen zuständen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 14.02.2002 äußerte sich Dr.S. - vom Senat auf § 4 des
Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) und die Möglichkeiten einer persönlichen Verteilzeit aufmerksam gemacht - dahin, dass
weder die arbeitsüblichen Ruhepausen nach § 4 ArbZG noch die Pausen, die im Rahmen der persönlichen Verteilzeit
eingelegt werden könnten, die Voraussetzungen der von ihm für notwendig erachteten zusätzlichen Ruhepausen von
ca. 15 Minuten erfüllten. Die Beklagte berücksichtige mit ihrer Einwendung nicht die anhaltend somatoforme
Schmerzstörung, ein mittlerweile chronifiziertes Beschwerdebild, das die Belastbarkeit des Klägers in qualitativer
Hinsicht einschränke und durch das der Kläger während des Arbeitstags gezwungen sei, längere als die
arbeitsüblichen Pausen zur Erholung einzulegen. Zusätzlich zu den arbeitsüblichen Ruhepausen nach § 4 ArbZG
benötige der Kläger auch weitere Ruhepausen, insgesamt ergäbe sich ein Pausenbedarf von ca. ein bis anderthalb
Stunden pro vollschichtigem Arbeitstag.
Die Beklagte vertrat weiterhin die Auffassung, dass betriebsunübliche Pausen durch die im Gutachten erhobenen
Befunde nicht belegt seien (psychopathologischer Befund: Antrieb flüssig, lebhafte Psychomotorik, keine Hinweise
auf Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen, keine Konzentrationsstörungen, keine vorzeitige Erschöpfung oder
Störung der Dauerkonzentration während des gesamten Untersuchungsganges etc.) und selbst wenn diese
erforderlich sein sollten, seien sie durch die persönliche Verteilzeit abgedeckt, die laut VDR-Richtlinien
(sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, Gustav-Fischer-Verlag, 1995) für den
Bürobereich "üblicherweise sieben Minuten pro Stunde" kalkuliert würden. Bei einer Arbeitsdauer von mindestens
sechs Stunden würden somit 42 Minuten anfallen, die über die angeblich erforderlichen 30 Minuten bei zweimal 15
Minuten nach jeweils zwei Stunden hinausgingen.
Der Senat veranlasste abschließend ein augenfachärztliches Gutachten vom 05.08.2002 durch Prof.Dr.K. , der
folgende augenärztlichen Diagnosen erhob:
1. Rechtes Auge: Zustand nach photorefraktärer Keratektomie (PRK) wegen Kurzsichtigkeit (Myopie),
Alterssichtigkeit (Presbyopie), Syndrom des trockenen Auges mit oberflächlichen Hornhautdefekten (Sicca-Syndrom).
2. Linkes Auge: Zustand nach photorefraktärer Keratektomie (PRK) wegen Kurzsichtigkeit (Myopie), mäßige
sekundäre Weitsichtigkeit (Hyperopie), Alterssichtigkeit (Presbyopie), Syndrom des trockenen Auges mit
oberflächlichen Hornhautdefekten (Sicca-Syndrom).
Der Gutachter beschreibt neben einem weitgehend unauffälligen Befund nach photorefraktärer Keratektomie wegen
Kurzsichtigkeit an beiden Augen ausgeprägte Benetzungsstörungen der Augenoberfläche, die zur Besserung der
subjektiven Symptomatik der intensiven und konsequenten Anwendung von Tränenersatzmedikamenten in Form von
Augentropfen oder Gels bedürften. Einschränkungen bezüglich einer Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen eines
Arbeitsverhältnisses bestünden dadurch nicht. Arbeit am PC sei unter Einsatz dieser Mittel zumutbar.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 07.09.2000 sowie
unter Aufhebung des Bescheides vom 15.06.1998 und in Abänderung des Bescheides vom 30.10. 1998 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.03. 1999 zu verurteilen, dem Kläger über Januar 1998 hinaus Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und auf die beigezogenen
Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, sie erweist
sich aber nicht als begründet.
Zutreffend hat das Erstgericht, gestützt auf die Gutachten des Dr.L. und des Dr.P. , die Klage abgewiesen. Auch der
Senat ist zu der Auffassung gekommen, dass der Kläger die vom SG im Einzelnen dargelegten Voraussetzungen der
§§ 43 und 44 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB VI - in der hier noch anzuwendenden Fassung bis
31.12.2000 nicht erfüllt. Von weiteren wesentlichen, rentenrechtlich relevanten Einschränkungen der
Leistungsfähigkeit des Klägers konnte er sich auch nach erneuter Beweisaufnahme nicht überzeugen.
Die Begutachtung auf orthopädischem Fachgebiet durch Dr.F. , im Hinblick auf eine geltend gemachte
Verschlechterung veranlasst, ergab - wie schon bei der erstinstanzlichen Begutachtung durch Dr.L. - keine
quantitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Klägers. Im Wesentlichen wurden qualitative
Leistungseinschränkungen wegen der Verletzungsfolgen am Sprunggelenk (aus prophylaktischen Gründen Arbeiten
vor allem im Sitzen) sowie wegen des Impingement-Syndroms der rechten Schulter (keine Überkopfarbeiten)
bestätigt. Im Übrigen besteht nach Dr.F. ein körperliches Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Arbeiten.
Die zusätzliche Untersuchung auf augenfachärztlichem Gebiet durch Prof.Dr.K. erbrachte keine Einschränkungen für
Tätigkeiten unter arbeitsüblichen Bedingungen. Die für den Kläger sicherlich lästige Problematik der Trockenheit der
Augen ist durch Anwendung von Tränenersatzmedikation behandelbar und schließt nach den Ausführungen von
Prof.Dr.K. auch Bildschirmtätigkeit nicht aus.
Auf nervenärztlichem Gebiet stellte der vom Senat beauftragte Gutachter Dr.S. eine anhaltend somatoforme
Schmerzstörung (schwerer quälender Schmerz, der in Verbindung mit emotionellen Konflikten und psychosozialen
Problemen auftritt) sowie eine rezidivierende depressive Störung leichter Ausprägung mit Somatisierungsneigung und
ein rezidivierendes Schulter-Arm-Syndrom links ohne sichere Zeichen einer Wurzelbeteiligung fest. Der Kläger wirkte
bei der Untersuchung psychisch unruhig und teilweise depressiv, ohne dass sich aber - wie schon bei der
Vorbegutachtung durch Dr.P. - eine überdauernde depressive oder andersartige affektive Störung gezeigt hätte. Im
Übrigen war der Antrieb flüssig, der Kläger zeigte sich drahtig-selbstbewusst, motorisch regsam und zielstrebig.
Hinweise auf Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen fanden sich nicht, es bestanden auch keine
Konzentrationsstörungen. Bezüglich des vom Kläger geklagten Dauerschmerzes im Bereich der Spanentnahme am
Beckenkamm für die erfolgten Sprunggelenksoperationen vermutete der Gutachter eine Funktionalisierung des
Schmerzes im Sinne einer Entlastung bei minderbelastbarer, leicht kränkbarer Persönlichkeit. Die verbliebene
Leistungsfähigkeit aufgrund der erhobenen Befunde beurteilte auch Dr.S. - wie zuvor Dr.P. - dahin, dass der Kläger in
seinem bisherigen Beruf bzw. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung gewisser qualitativer
Einschränkungen (wechselnde Körperhaltung, kein Zeit- und Termindruck bzw. Schichtdienst, kein überwiegender
Publikumsverkehr) vollschichtig tätig sein könne. Anders als der Vorgutachter ging er allerdings wegen einer "mit der
diagnostizierten Gesundheitsstörung verbundenen verminderten Dauerbelastbarkeit in körperlicher und psychischer
Hinsicht" von der Notwendigkeit der Einlegung zusätzlicher Pausen von 15 Minuten nach jeweils zwei Stunden im
Laufe eines Arbeitstages aus. Bei Einbeziehung der arbeitsüblichen Ruhepausen nach § 4 ArbZG von 30 Minuten (2 x
15 Minuten) ergebe sich ein Gesamtpausenbedarf von ein bis eineinhalb Stunden. Bei dieser Einschätzung blieb der
Gutachter auch nach Einwendung der Beklagten, die erhobenen Befunde seien nicht so ausgeprägt, dass sie
zusätzliche Pausen rechtfertigten. Deren Hinweis auf die jedem Beschäftigten zustehenden kleineren Pausen
während des Arbeitsablaufs im Rahmen der sogenannten persönlichen Verteilzeit hielt er entgegen, letztere stellten
keine echten Erholungszeiten dar, wie sie wegen der anhaltenden, mittlerweile chronifizierten und die Belastbarkeit in
qualitativer Hinsicht einschränkenden Schmerzstörung erforderlich seien.
Der Senat hält die dargelegte Auffassung des Dr.S. nicht für überzeugend und schließt sich ihr somit nicht an. Der
Einwand der Beklagten, die Lebensführung des Klägers belege eine solche Einschränkung der Belastbarkeit aufgrund
der chronischen Schmerzstörung nicht, kurze Arbeitsunterbrechungen im Rahmen der sogenannten persönlichen
Verteilzeit reichten völlig aus, ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar trifft es zu, dass solche kurzen
Unterbrechungen der Arbeitstätigkeit keine echten Erholungszeiten - die notwendigerweise eine bestimmte zeitliche
Dauer voraussetzen - darstellen; auch sind sie den Notwendigkeiten des Arbeitsablaufs unterworfen. Sie erlauben
aber kurzfristige Entspannung und Entlastung durch Wechsel der Arbeitsposition, Umhergehen etc. in der Regel dann,
wenn dies dem Betreffenden erforderlich erscheint. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese kleineren Pausen
tatsächlich - wie von der Beklagten aus entsprechenden Untersuchungen zitiert - bis zu sieben Minuten in der Stunde
ausmachen, also neben den vorgeschriebenen Erholungspausen von 2 x 15 Minuten bzw. 1 x 30 Minuten bei einem
Arbeitstag von acht Stunden insgesamt bis zu 56 Minuten betragen (und damit in etwa dem entsprechen, was der
Gutachter insgesamt an zeitlichen Unterbrechungen fordert) oder etwas weniger. Den Bedürfnissen des Klägers kann
durch sie nach Auffassung des Senats in ausreichender Weise Rechnung getragen werden. Dass darüber hinaus
längere Erholungszeiten an einem Stück in etwas größerem zeitlichen Umfang notwendig wären, erscheint dagegen
nicht zwingend. Diese vom Senat nicht geteilte Auffassung des Dr.S. - die wegen der besonderen
Leistungseinschränkung durch unübliche Pausen zu einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes und damit letztlich
wohl zu einem Rentenanspruch führen würde - steht im Übrigen auch in Widerspruch zu den überzeugenden
Darlegungen des Dr.P. in seinem Gutachten vom 31.01.2000.
Mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen (vollschichtige Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne besondere
psychische Belastungen wie Zeitdruck, Schichtdienst und überwiegendem Publikumsverkehr) ist der Kläger nicht
berufs- oder erwerbsunfähig, denn er kann sowohl in seinem bisherigen Berufsbereich als auch auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt noch entsprechende Arbeiten verrichten. Zwar kommt für ihn die letzte mit Stress verbundene Tätigkeit
als Prokurist und Abteilungsleiter einer Bank nicht mehr in Betracht, zumutbar sind aber - wie das Erstgericht bereits
dargelegt hat - andere Tätigkeiten, unter Umständen auch aus einem anderen Fachbereich, wenn eine Einarbeitung
innerhalb von drei Monaten möglich ist. Dabei kann es sich auch um Tätigkeiten aus der Gruppe unter der sich aus
der Wertigkeit des Hauptberufs ergebenden Berufsgruppe im Rahmen des vom SG beschriebenen
Berufsgruppenschemas handeln. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit gemäß § 153 Abs.2 SGG auf die
zutreffenden Ausführungen des Ersturteils Bezug genommen.
Bei dieser Sachlage war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.