Urteil des LSG Bayern vom 15.01.1998

LSG Bayern: grundsatz der freien beweiswürdigung, angriff, versorgung, strafrichter, nothilfe, notwehr, befragung, form, wahrscheinlichkeit, rechtswidrigkeit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.01.1998 (nicht rechtskräftig)
S 7 Vg 1/93
Bayerisches Landessozialgericht L 15 VG 9/94
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.06.1994 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt wegen eines Vorgangs vom 03.02.1989 Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für
Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG -).
Der am ...1932 geborene Kläger behauptet, vom Zeugen R ... (Täter) am Rücken gepackt und zu Boden geschleudert
worden zu sein. Der Kläger erlitt Brüche des Schlüssel- und Schläfenbeins sowie eine Gehirnerschütterung, durch
deren Folgen er auf Dauer behindert ist. Vorangegangen war eine Meinungsverschiedenheit zwischen R ... und ...,
dem Sohn des Klägers darüber, ob der Pkw des Zeugen U ... die Einfahrt in das gemeinsam vom Kläger und seinem
Sohn bewohnte Anwesen behindert habe.
Der Beklagte lehnte den am 28.01.1991 gestellten Entschädigungsantrag am 08.04.1992 ab, weil ein vorsätzlicher
rechtswidriger Angriffs nicht bewiesen sei. Der Zeuge ... hätte seinerseits gerechtfertigt einen von hinten geführten
Angriff des Klägers abgewehrt.
Der Beklagte stützte sich dabei auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsvorgänge und ein Urteil der Strafkammer
des Amtsgerichts Schweinfurt vom 10.01.1991, in welchem der Angeklagte ... wegen Vorliegens einer
Notwehrsituation frei gesprochen worden war. Den Widerspruch wies der Beklagte in Kenntnis der polizeilichen
Ermittlungen und zweier von der Staatsanwaltschaft bzw. der Strafkammer eingeholter rechtsmedizinischer Gutachten
sowie des Beschlusses der kleinen Strafkammer des Landgerichts Schweinfurt vom 04.12.1991 über
Verfahrenseinstellung gegen Geldleistung des Angeklagten/Täters mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.1993 zurück.
Die am 15.01.1993 zum Sozialgericht Würzburg erhobene Klage hat der Kläger damit begründet, daß die Zivilkammer
des Landgerichts Schweinfurt den Täter mit Urteil vom 03.02.1989 zu Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt
und einen vorsätzlichen Angriff ohne bewiesene Notwehrsituation angenommen habe.
Das Sozialgericht hat die Akte des Beklagten beigezogen, den Kläger angehört und die Zeugen R ..., U ... und E ...
uneidlich einvernommen.
Mit Urteil vom 21.06.1994 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet,
daß die Rechtswidrigkeit eines Angriffs des R ... nicht bewiesen sei, da nach dessen und des Zeugen ... glaubhaften
Bekundungen der Angriff vom Kläger geführt und von R ... gerechtfertigt abgewehrt worden sei.
Mit seiner am 02.08.1994 zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegten Berufung hat der Kläger unter Vorlage
einer ärzt-lichen Bescheinigung (Dr ...) vom 18.01.1991 über eine Prellmarke vorgetragen, der tätliche Angriff des R ...
gegen ihn wäre selbst dann nicht gerechtfertigt gewesen, wenn er diesen zuvor umklammert hätte. Denn das
Umklammern hätte eine Hilfeleistung für seinen Sohn dargestellt, den R ... unmittelbar zuvor an der rechten Schläfe
(Prellmarke) verletzt habe.
Der Senat hat die einschlägigen Akten des Beklagten, die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem (Js 3116/89) und die
Akte 3 U 85/93 des Landgerichts Schweinfurt beigezogen, den Kläger gehört und R ..., U ..., E ... und Dr. H ... - den
letzteren schriftlich - als Zeugen einvernommen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 21.06.1994 und des Bescheides vom
08.04.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.01.1993 dem Grunde nach zu verurteilen, ihm aus
Anlaß des Ereignisses vom 03.02.1989 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.06.1994 zurückzuweisen.
Wegen Einzelheiten wird auf die von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Akten des Sozial- und des
Landessozialgerichts und die beigezogenen Akten des Landgerichts (Straf- und Zivilakten) einschließlich der in diesen
Akten enthaltenen Vernehmungsprotokolle Bezug genommen (§ 136 Abs. 2 SGG ).
Entscheidungsgründe:
Der Rechtsweg ist gegeben (§ 7 Abs. 1 OEG). Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151
Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie bedurfte nicht der Zulassung (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die zulässige Berufung ist indes nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts hat die Entscheidung des Beklagten
zu Recht bestätigt, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistung nach dem OEG. Es steht nicht fest, daß der
Kläger am 03.02.1989 seine gesundheitliche Schädigung durch einen rechtswidrigen Angriff erlitten hat.
Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige Versorgung für gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden, der Opfer eines
rechtswidrigen, vorsätzlichen tätlichen Angriffs geworden ist oder bei der Abwehr eines auch gegen eine andere
Person gerichteten Angriffs (Nothilfe) oder durch einen in Putativnotwehr (fahrlässig) handelten Täter geschädigt
worden ist.
Der Senat konnte sich nicht mit der erforderlichen an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen eines
rechtswidrigen vorsätzlichen Angriffs auf den Kläger bzw. vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 2
OEG überzeugen. Weder konnte mit der erforderlichen vollen Überzeugung - einem Grad der Wahrscheinlichkeit, bei
dem kein vernünftiger Mensch mehr zweifelt (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, Anm. 5 zu § 118, Anm. 3 zu §
128 m.w.N.) - festgestellt werden, daß der Zeuge ... den Kläger ohne Veranlassung vorsätzlich von hinten am Rücken
ergriffen und auf die Straße geschleudert hatte, noch daß der Kläger in einer Notlage des Zeugen E ... bei der Hilfe für
diesen vom angeschuldigten Täter ... vorsätzlich und rechtswidrig oder auch - unter der fälschlichen Annahme von
Notwehr auf Seiten des ... fahrlässig verletzt worden ist.
Es steht allein fest, daß dem Kläger die Verletzung durch eine nicht im einzelnen bewiesene Handlung des Zeugen ...
zuge-fügt worden ist, ohne daß alle infragekommenden Geschehensabläufe einen zur Versorgung berechtigenden
Tatbestand erfüllen. Eine sog. Wahl- (Alternativ)feststellung (vgl. BSG SozR Nr. 51 zu § 1 BVG) ist deshalb nicht
möglich.
Die Beweisaufnahme des Senats durch erneute Befragung der vom Sozialgericht einvernommenen Zeugen hat
ergeben, daß keiner der von diesen und dem Kläger geschilderten Geschehensversionen die jeweils erforderlichen
anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale mit dem nötigen Grad der Überzeugung als bewiesen erscheinen
lassen.
Einen direkten gegen seinen Rücken geführten Angriff bekundet nur der Kläger selbst. Das Gericht kann zwar nach
dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung seine Entscheidung auch nur auf den Beteiligtenvortrag stützen, die
Ausführungen des Klägers, die i.ü. auch allein für sich gesehen nicht völlig überzeugen, sind aber durch die Aussagen
der Zeugen ... und ... erheblichen, nicht ausräumbaren Zweifeln ausgesetzt.
Der Zeuge E ..., der einen in Form eines Schulterwurfs erfolgten Hergang noch in seinem Schreiben vom 21.05.1989
an die Polizei gesehen haben will und dies bei seiner Vorladung am 20.03.1990 bekräftigte sowie um das Detail
präzisierte, daß R ... seinen Vater frei weggehoben und durch die Luft gewirbelt habe, rückte von dieser Darstellung
bereits bei seiner ersten gerichtlichen Einvernahme vor dem Strafrichter beim Amtsgericht am 03.01.1991 ab. Er
bekundete dort uneidlich, daß er beobachtet habe, wie sich der linke Arm des R ... nach oben bewegte und es
ausgesehen hätte, wie wenn jemand hochgehoben und weggeschleudert würde. Vor der Zivilkammer des Landgerichts
hat E ... schließlich - ebenso wie vor dem Sozialgericht am 21.06.1994 - ausgesagt, daß er über den Hergang und die
Ursache des Sturzes seines Vaters nichts wahrgenommen hätte. Vor dem erkennenden Senat wiederholte der Zeuge,
daß er nur die Fußstellung des Klägers wahrgenommen und daraus seine eigenen Schlußfolgerungen gezogen habe.
Diese sind nach Ansicht des Senats allerdings nicht zwingend.
Die Zeugen U ... und R ..., die demgegenüber Wahrnehmungen zum unmittelbaren Tathergang gemacht haben,
schilderten einen Geschehensablauf, der sich in keiner Weise mit der Darstellung des Klägers vereinbaren läßt. Im
inhaltlichen Kern ihrer Aussagen, der bei allen Befragungen konstant beibehalten wurde, stimmen beide darin überein,
daß die erste Körperberührung vom Kläger ausgegangen sei. Trotz des Interesses, das der Zeuge ... am Ausgang des
Verfahrens hat (drohende Regreßforderungen des Beklagten) und der freundschaftlichen Verbindung, die zur Tatzeit
zwischen ... und ... bestanden hat, sah der Senat, der sich in der Spruchbesetzung einen persönlichen Eindruck von
der Glaubwürdigkeit der Zeugen verschaffte, keine Veranlassung, deren uneidliche Bekundungen als unglaubwürdig
anzusehen. Dabei übersieht es der Senat nicht, daß sich deren Beschreibungen des Standortes des Zeugen ...
widersprechen. Während der Täter selbst mit dem Rücken zum Haus des Klägers gestanden sein will, hat der Zeuge
... beschrieben, daß R ... bei dem vom Kläger ausgehenden Körperkontakt mit dem Gesicht dem Anwesen zugewandt
gewesen sei. Im wesentlichen Kerngeschehen - einem aktiven Handeln des Klägers - stimmen die Zeugen ... und ...
aber überein. Nach dem vor dem Strafrichter widergegebenem Eindruck des zum Geschehensort herbeigerufenen
Polizisten ... erschienen i.ü. das Verhalten und Erinnerungsvermögen des Zeugen ... trotz dessen Alkoholisierung
nicht erkennbar beeinträchtigt.
Damit sind aber die Ausführungen des Klägers erheblichen, nicht ausräumbaren Zweifeln ausgesetzt. Auch allein für
sich gesehen überzeugen sie im übrigen nicht völlig. Es trifft zwar nach den Auskünften des Leopoldina-
Krankenhauses Schweinfurt nicht zu, daß der Kläger wie vom Strafrichter angenommen - eine retrograde Amnesie
(mnestischen Verlust für die Zeit vor der Tat) hatte, dennoch sind die tatsächlich vorhandenen Erinnerungen des
Klägers nicht frei von Zweifeln. So schilderte der Kläger die Art des Wurfes und die Dauer seines anterograden
Erinnerungsverlustes durchaus unterschiedlich. Er sprach bei der polizeilichen Befragung von einem Schleudergriff,
beim Strafrichter von einem Wurf über die Schulter, jedoch vor dem Senat davon, daß er nicht genau sagen könne, ob
er über die Schulter oder den Körper des ... geworfen worden sei. Auch versuchte er vor dem Senat die Rolle seines
Sohnes weit passiver darzustellen, als von diesem selbst berichtet.
Insgesamt haben die sonst eher sterotyp vorgebrachten Äußerungen des Kläges den Senat nicht in einem Ausmaß
überzeugt, daß dieser allein darauf seine Entscheidung hätte stützen können. In zentralen Punkten - dem fraglichen
Schlag des R ... gegen E ... und dem z.T. behaupteten vom Kläger ausgehenden Körperkontakt gegen R ...-
widersprechen sie darüberhinaus in unvereinbarer Weise den Bekundungen der Zeugen ... und ... Auch der übrigen
Inhalt der Akten - so u.a. die von zwei Sachverständigen im Strafverfahren erstatteten Gutachten zur Biomechanik
des Sturzes oder die Aussagen der weiteren Zeugen im Straf- und Zivilverfahren - ließ nach der Erkenntnis des
Senats keine eindeutige Bestimmung des Geschehens zu. Ein weiterer möglicher Geschehensablauf dergestalt, daß
der Kläger seinem von R ... angegriffenen Sohn helfen wollte und deshalb gegen R ... tätlich wurde (sog. Nothilfe; vgl.
§ 1 Abs. 1 Satz 1, 3. Alt. OEG) läßt sich ebenfalls nicht mit dem erorderlichen Beweisgrad (Vollbeweis) belegen. Zum
einen ist der für eine Hilfeleistung des Klägers für seinen Sohn (§ 31 StGB Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 2. Alt.)
erforderliche subjektive Tatbestand als innere Tatsache deshalb nicht bewiesen, weil der Handlungsträger - der Kläger
- einen solchen Geschehensablauf bestreitet und auch sonstige Umstände, die einen Angriff des Klägers rechtfertigen
und den R ... zur Duldung zwingen hätten können, nicht belegt sind. In seiner Einlassung vor dem Senat hat der
Kläger zum wiederholten Male vorgebracht, sich an keinerlei Handgreiflichkeiten beteiligt und nichts unternommen zu
haben, um R ... von seinem Sohn abzudrängen. Zum anderen ist es wegen der widersprüchlichen Aussagen der
Zeugen ... und ... einerseits sowie des Klägers und des Zeugen E ... andererseits und trotz der schriftlichen
Bekundung des Dr ... vom 15.08.1997 ungeklärt, wie und wann E ... die Verletzung an der Stirn zugefügt worden ist
und ob unmittelbar vor dem Sturz des Klägers noch und überhaupt eine Bedrohung des E ... durch R ... vorgelegen
war, die eine Hilfeleistung durch den Kläger notwendig gemacht hätte. Entsprechendes gilt auch für ein denkbares
Geschehen iSd § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG: Daß R ... den Kläger auf einen etwaigen von diesem ausgehenden
Körperkontakt hin in der unzutreffenden Annahme zu Fall brachte, er befände sich in einer Notwehrsituation, ist
ebenfalls nicht ausreichend sicher bewiesen. So verbleibt die vom Sozialgericht als gesichert angesehene
Geschehensvariante eines durch Notwehr gerechtfertigten Handelns des R ... gegenüber dem Kläger jedenfalls als
eine der infrage kommenden Möglichkeiten. Da bei diesem Geschehensablauf Ansprüche des Klägers
ausgeschlossen sind, kommt - selbst wenn alle anderen Varianten anspruchsbegründend wären - eine
Wahlfeststellung nicht in Betracht. Die Unmöglichkeit des Nachweises (Vollbeweis) der anspruchsbegründenden
Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG geht zu Lasten des Klägers (sog. Objektive Beweislast).
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.06.1994 mußte deshalb
zurückgewiesen werden.
Mit seiner Entscheidung setzt sich der Senat auch nicht in Widerspruch zum Urteil der Zivilkammer des Landgerichts
Schweinfurt. Die Sozialgerichte haben selbst Beweise zu erheben und zu würdigen und eine eigene
Tatsachenfeststellung vorzunehmen (BSG 18.12.1996 - 9 RVg 9/94 -, SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 6). Zudem muß nach
der Beweislastverteilung im Deliktsrecht des BGB der Täter den Beweis für den Ausschluß der Widerrechtlichkeit
führen (Palandt, 57. Aufl., 227 BGB, Anm. 13, vor § 249 BGB, Anm. 162); während wie ausgeführt bei
Geltendmachung von Ansprüchen nach dem OEG die (objektive) Beweislast für den Nachweis der
anspruchsbegründenden Tatsachen darunter auch die Rechtswidrigkeit des vorsätzlichen tätlichen Angriffs beim
Kläger (Opfer) liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor, weil die
Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgericht,
des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.