Urteil des LSG Bayern vom 11.07.2006

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Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 11.07.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 3 KR 773/03
Bayerisches Landessozialgericht L 5 KR 261/05
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 3. März 2005 und der Bescheid
der Beklagten vom 19. Februar 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2003 aufgehoben und
festgestellt, dass die freiwillige Mitgliedschaft nicht am 15. Februar 2003 geendet hat. II. Die Beklagte erstattet dem
Kläger die außergerichtlichen Kosten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist das Bestehen einer freiwilligen Mitgliedschaft über den 15.02.2003 hinaus.
Der 1968 geborene Kläger war ab 27.03.2000 freiwilliges Mitglied der Beklagten. Er hatte diese ermächtigt, die
Beiträge zu Lasten seines Kontos bei der Raiffeisenbank L. einzuziehen.
Am 19.11.2002 buchte die Bank versehentlich die Beiträge für September und Oktober 2002 vom Konto der Beklagten
zurück und schrieb sie dem Konto des Klägers wieder gut.
Am 26.11.2002 schrieb die Beklagte dem Kläger, dass der offene Gesamtbetrag in Höhe von 253,48 EUR bis zum
10.12.2002 zu zahlen sei. Sie wies auf die Folgen der Unterlassung hin und teilte mit, dass das Bankeinzugsverfahren
beendet worden sei. Falls er weiterhin am Lastschriftverfahren teilnehmen wolle, solle er den entsprechenden
Vordruck unterschreiben.
Am 05.12.2002 bemerkte die Bank ihr Versehen und überwies den ausstehenden Betrag der Beklagten, die es am
11.12.2002 dem Beitragskonto des Klägers gutschrieb.
Am 19.12.2002 schickte die Beklagte dem Kläger eine erste Mahnung wegen unterlassener Beitragszahlung für den
Monat November 2002, wies auf das drohende Mitgliedschaftsende hin und räumte ihm eine Nachentrichtungsfrist bis
15.01.2003 ein. Am 20.01.2003 schickte sie ihm eine zweite Mahnung und unterrichtete ihn davon, dass auch der
Dezember-Beitrag nicht entrichtet worden sei. Sie wiederholte den Hinweis auf die drohenden Folgen und setzte ihm
eine Nachfrist zum 15.02.2003. Mit Bescheid vom 19.02.2003 beendete sie die Mitgliedschaft zum 15.02.2003.
Am 16.03.2003 ging der Widerspruch des Klägers ein, dem ein Bankbeleg über die versehentliche Rückbuchung
beigefügt war sowie das Attest seiner Hausärztin vom 07.03.2003, dass sich der Kläger dort ab November 2002
wegen akuter Depression mit Angstzuständen in Behandlung befinde. Er sei nicht in der Lage gewesen, allein in
seiner Wohnung zu bleiben und habe sich längere Zeit bei den Eltern aufgehalten. Er habe krankheitsbedingt die
geschäftlichen Dinge vernachlässigt, unter anderem die Zahlungsverpflichtung gegenüber der Beklagten.
Die Beklagte wies den Widerspruch am 12.05.2003 zurück. Die Gründe für die Nichtentrichtung der Beiträge seien
grundsätzlich unerheblich, ein Nachweis der Geschäftsunfähigkeit sei nicht geführt.
Dagegen hat der Kläger am 02.06.2003 Klage erhoben und vorgetragen, wegen seiner seelischen Erkrankung
gehindert gewesen zu sein, rechtzeitig für die Wiederaufnahme des Lastschriftverfahrens zu sorgen. Er habe die
Schreiben vom 19.12.2002 und 20.01.2003 zunächst ungeöffnet gelassen. Das Gericht hat Befundberichte der
behandelnden Ärzte eingeholt und das im Auftrag der privaten Krankenversicherung erstellte fachärztliche Gutachten
Dr.C. von Juni und August 2003 beigezogen. Darin heißt es, der Kläger, der zuletzt als Unternehmensberater
gearbeitet habe, sei zu 100 % arbeitsunfähig. Im Auftrag der A. Lebensversicherung hat das M.-Institut für Psychiatrie
am 10.12.2003 ein psychiatrisches Fachgutachten nach ambulanter Untersuchung erstellt. Unter Berücksichtigung
eines psychologischen Zusatzgutachtens sind die Fachärzte zu dem Ergebnis gelangt, beim Kläger sei ab November
2002 eine depressive Episode mit sehr ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen in schwerer Form aufgetreten,
weshalb er sich zu den Eltern geflüchtet habe. Eine Stabilisierung sei im Februar 2003 eingetreten. Daneben bestehe
der Verdacht auf kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Zügen. Von November 2002 bis
Februar 2003 sei er zu 100 % berufsunfähig gewesen, seither sei er zu beruflichen Tätigkeiten ca. zwei Stunden
täglich fähig.
Im Auftrag des Gerichts hat der Neurologe und Psychiater Dr.K. am 23.02.2004 nach ambulanter Untersuchung ein
Gutachten zur Frage erstellt, ob der Kläger im maßgebenden Zeitraum geschäftsunfähig gewesen sei. Dies hat Dr.K.
verneint. Zwar habe bei dem Kläger zwischen November 2002 und Februar 2003 eine deutliche depressive
Symptomatik vorgelegen, es ergäben sich allerdings keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in diesem Zeitraum
als geschäftsunfähig anzusehen gewesen wäre.
Das Sozialgericht München hat die Klage am 03.03.2005 abgewiesen. Entsprechend den Ausführungen von Dr.K. sei
nicht von Geschäftsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitraum auszugehen. Der Beklagten könne auch keine
Pflichtverletzung mit der etwaigen Folge eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorgeworfen werden.
Dieses Urteil ist zusammen mit der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 24.03.2005 mit Einschreiben-
Rückschein an den Klägerbevollmächtigten abgesandt worden, das dort am 30.03.2005 empfangen worden ist.
Am 16.08.2005 hat der Klägerbevollmächtigte beim Sozialgericht angefragt, wann mit dem schriftlichen Urteil
gerechnet werden könne. Nach der Aufklärung über die erfolgte Zustellung hat der Klägerbevollmächtigte eingewandt,
das Einschreiben habe lediglich die Niederschrift der mündlichen Verhandlung in zweimaliger Ausfertigung, hingegen
nicht das Urteil enthalten. Daraufhin ist von der zuständigen Richterin die nochmalige Zustellung verfügt worden, die
am 15.09.2005 erfolgt ist.
Am 19.09.2005 hat der Kläger Berufung eingelegt und geltend gemacht, er habe erstmals im Februar 2003 Kenntnis
von der Kündigung der Mitgliedschaft erhalten. Er habe vom Fortbestand seiner Einzugsermächtigung ausgehen
dürfen. Geldmangel habe niemals vorgelegen. Die Belastung mit der endgültigen Aufkündigung der Mitgliedschaft sei
unverhältnismäßig. Die Krankenkasse versage ihm den Schutz zu einem Zeitpunkt, zu dem er diesen dringend
gebraucht habe. In entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 197 Abs.3 SGB VI sei hier von der
Beendigung der Mitgliedschaft abzusehen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 03.03.2005 und den Bescheid die Beklagten vom
19.02.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2003 aufzuheben und festzustellen, dass er
weiterhin freiwilliges Mitglied in der Krankenversicherung ist.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 03.03.2005
zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakte, der Akte des Sozialgerichts München sowie der
Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Die Berufung ist fristgerecht eingelegt worden. Zwar ist in den Unterlagen des Sozialgerichts München vermerkt, dass
das Urteil vom 03.03.2005 und zwei Abschriften der Sitzungsniederschrift vom 03.03.2005 mit Einschreiben-
Rückschein am 24. März 2005 abgesandt worden sind. Nicht widerlegbar ist aber die Einlassung des
Klägerbevollmächtigten, dass diese am 30.03.2005 empfangene Postsendung lediglich die Niederschriften enthalten
hat. Er war auch nicht veranlasst, auf das fehlende Urteil hinzuweisen, weil im Anschreiben kein Hinweis auf den
Umfang der Sendung enthalten war. Dementsprechend hat das Sozialgericht auch nicht gezögert, erneut die
Zustellung zu verfügen. Die Berufungsfrist hat sonach erst nach Zustellung der zweiten Sendung am 10.09.2003
begonnen, so dass die am 19.09.2005 eingelegte Berufung fristwahrend erfolgt ist.
Das Urteil des Sozialgerichts München vom 03.03.2005 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid vom 19.02.2003 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2003 ist rechtswidrig. Die von der Beklagten ausgesprochene
Beendigung der Mitgliedschaft zum 15.02.2003 hat keine Rechtsgrundlage.
Zutreffend hat das Sozialgericht die mögliche Rechtsgrundlage (§ 191 Abs.1 Nr.3 SGB V) genannt, die bei einer
Säumnis des beitragspflichtigen freiwillig Versicherten zur Beendigung der Mitgliedschaft führt. Überzeugend hat es
auch ausgeführt, dass der Kläger in den Monaten, in denen eine Beitragszahlung nicht erfolgt ist, nämlich vom
15.12.2002 bis 15.02.2003, nicht geschäftsunfähig war. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird
insoweit gemäß § 153 Abs.2 SGG Abstand genommen. Zu Unrecht hat das Sozialgericht jedoch das Vorliegen eines
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verneint. Es hat sich dabei auf eine Entscheidung des Bayer.
Landessozialgerichts (L 4 KR 94/02) bezogen, die einen gänzlich anderen Sachverhalt (Beratungspflicht der
Krankenkasse bei Bezugsende von Leistungen der Arbeitslosenversicherung) zum Gegenstand hatte und nicht
relevant ist.
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein von der Rechtsprechung der Sozialgerichte im Wege der
Rechtsfortbildung entwickeltes Rechtsinstitut, wonach dem Einzelnen bei fehlerhafter oder unterlassener Beratung
oder Auskunftserteilung oder bei der Verletzung von sonstigen Pflichten im Rahmen eines Sozialrechtsverhältnisses
das Recht eingeräumt wird, so gestellt zu werden, wie wenn der Leistungsträger fehlerfrei gehandelt hätte (vgl. zum
Beispiel BSGE 71, 17 ff.). Die Beklagte hat objektiv eine Pflichtverletzung begangen, die kausal dafür war, dass die
im Dezember 2002 und Januar 2003 fälligen Beiträge für November und Dezember 2002 erst im Laufe des März 2003
entrichtet worden sind. Der Kläger ist daher so zu stellen, als hätte er diese Beiträge rechtzeitig entrichtet.
Unstreitig und den Akten zu entnehmen ist, dass der Kläger der Beklagten vor September 2002 eine
Einzugsermächtigung erteilt hatte. Dieses Bankeinzugsverfahren beendete die Beklagte am 26.11.2002 als Reaktion
auf die Rückbuchung der Beiträge für die Monate September und Oktober 2002. Anlass der Rückbuchung war nicht
eine Rechtshandlung des Klägers oder fehlende Deckung des Kontos, sondern ein Versehen der Bank. Dennoch bot
die Beklagte dem Kläger die Festsetzung des von ihr favorisierten Lastschriftverfahrens an. Nachdem der Kläger
hierauf nicht geantwortet hatte, nahm die Beklagte auch nach Begleichung des Beitragsrückstands am 11.12.2002
das Lastschriftverfahren nicht wieder auf. Nach Eingang der Rückstände am 11.12.2002 hätte es der Beklagten
jedoch oblegen, erneut den Versuch eines Beitragseinzugs zu unternehmen.
Bei der Vereinbarung des Lastschriftverfahrens hat der Gläubiger selbst für den Einzug der Forderung zu sorgen, die
Schuld ist nicht mehr Schick- sondern Holschuld (BGH Betriebsberater 85, 1022). Für die Rechtzeitigkeit der Leistung
ist grundsätzlich der Gläubiger verantwortlich (BGH 69, 366). Der Schuldner hat das seinerseits Erforderliche getan,
wenn auf seinem Konto die Deckung für die Lastschrift vorhanden ist. Der Kläger hat seine der Beklagten erteilte
Einzugsermächtigung nicht widerrufen. Lehnt die Krankenkasse die angebotenen vollen Beiträge ab, so braucht der
Versicherte sie nicht immer von neuem anzubieten (Peters - Krankenversicherung, SGB V, § 191 SGB V Rdz.9).
Zwar kann der Gläubiger in Zivilrechtsverfahren vom Einzug im Lastschriftverfahren Abstand nehmen, wenn er dies
dem Schuldner rechtzeitig und unzweideutig mitteilt (Palandt, BGB, § 676 f Rdz.27). Im Sozialrecht ist die Verwaltung
nur in seltenen Fällen einseitig auf das öffentliche Interesse festgelegt; selbst dann hat sie einen Interessenausgleich
zu vollziehen. Dementsprechend gehört es zu den Amtspflichten der Sozialleistungsträger, den Antragsteller bei der
Verwirklichung seiner sozialen Rechte zu unterstützen (§ 2 Abs.2 SGB I). Die sich aus den §§ 13 bis 16 SGB I
ergebende Betreuungspflicht hat unmittelbare Wirkung auf die Gestaltung von Rechtshandlungen (BSG, Urteil vom 17.
April 1986 in SozR 4100 § 100 Nr.11), insbesondere wenn derart weitreichende Wirkungen wie die Beendigung der
Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung damit verbunden sind. Es mag sein, dass die Beklagte im Fall
einer zweimaligen Säumnis grundsätzlich vom Beitragseinzug absehen kann, weil sie gehalten ist,
Mitgliedschaftsausschlussverfahren zügig durchzuführen. Nachdem die Beiträge aber vorliegend von der Bank wieder
gutgeschrieben worden sind, bestand kein Anlass, die anschließend fällig werdenden Beiträge nicht einzuziehen. Zum
nächsten Fälligkeitszeitpunkt am 15.12.2002 war das Beitragskonto des Klägers ausgeglichen. Dennoch hat die
Beklagte es unterlassen, von der Einzugsermächtigung Gebrauch zu machen. Mit der Einstellung des
Einzugsverfahrens hat die Beklagte es dem Kläger aber erschwert, weiterhin Mitglied zu bleiben. Im Interesse der
Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes hätte es ihr jedoch oblegen, erneut einen Einzugsversuch zu machen,
als sie den Ausgleich des Beitragskontos zum 11.12.2002 zur Kenntnis nahm.
Die unterlassene Einziehung der Beiträge zu Lasten des Kontos des Klägers war auch kausal dafür, dass die
Beitragszahlung nicht rechtzeitig erfolgt ist. Der Kläger hatte keine Kenntnis davon, dass die Beklagte das
Lastschriftverfahren beendet hatte. Zwar hat er es versäumt, hiervon Kenntnis zu nehmen, als er die entsprechende
Mitteilung der Beklagten ungeöffnet liegen ließ. Das Ausmaß der Fahrlässigkeit ist jedoch als gering einzustufen, da
er keinen Anlass hatte, die Post der Beklagten unverzüglich und genau zu kontrollieren. Anders als etwa während
eines laufenden Verwaltungs- oder Klageverfahrens traf ihn keine erhöhte Sorgfaltsplficht. Er konnte auf das
Fortbestehen der Einzugsermächtigung vertrauen. Zudem war seine Schuldfähigkeit durch Krankheit beeinträchtigt.
Nach dem Gutachten Dr.K. litt er von November 2002 bis März 2003 unter einer deutlichen depressiven Symptomatik,
die unter anderem mit einer Adynamie verbunden war. Vor diesem Hintergrund kann ihm nicht die Verantwortung für
die Unterlassung der rechtzeitigen Beitragszahlung zugewiesen werden. Wesentliche Ursache für die nicht
rechtzeitige Entrichtung der Beiträge für November und Dezember 2002 war vielmehr die unterlassene Einziehung von
Seiten der Beklagten.
Der vom Kläger erhobene Anspruch geht dahin, der Beklagten die Berufung darauf zu versagen, dass die Frist für die
Entrichtung von freiwilligen Beiträgen gemäß § 23 SGB IV abgelaufen sei. Damit verlangt er etwas, was im Recht -
wenn auch meist unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben - grundsätzlich anerkannt ist, nämlich die
Versagung der Berufung auf den Ablauf einer Frist. Eine derartige Amtshandlung kann im Wege des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs verlangt werden (BSG, Urteil vom 12.10.1979 in SozR 2200 § 1418 RVO Nr.6, Urteil vom 21.
Februar 1990, Az.: 12 RK 53/88).
Aus diesen Gründen war die Berufung in vollem Umfang erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.