Urteil des LSG Bayern vom 05.12.2006

LSG Bayern: berufliche tätigkeit, fahrzeug, wahrscheinlichkeit, zustand, anerkennung, osteochondrose, entschädigung, form, gewerbe, entstehung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.12.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 6 U 18/97
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 245/99
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 04.05.1999 aufgehoben und die
Klage gegen den Bescheid vom 26.06.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.12.1996
abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) anzuerkennen und zu entschädigen sind.
Der 1943 geborene Kläger war von Beruf Kfz-Meister. Seit 1966 war er selbstständig tätig, hauptsächlich befasst mit
schwerem Heben von Motoren sowie von ihm allein durchgeführten Abschlepparbeiten. Der TAD der Beklagten fasste
mit Ermittlungsbericht vom 16.01.1996 die Tätigkeiten des Klägers nach dessen Befragung wie folgt zusammen:
Verkauf, Kfz-Instandhaltung, Abschleppdienst, bis 1992 Tankstellenbetrieb. Der Abschleppdienst wurde ab 1966 mit
einem sog. "Abschlepphund" (einachsiger Nachläufer, auf den das Fahrzeug gehoben wurde) ca. dreimal wöchentlich
durchgeführt. Ab Februar 1980 übernahm der Kläger den Straßendienst für den ADAC unter Benutzung einer
Aufziehwinde (Bergung bis zu maximal 21 Fahrzeugen in der Woche). Ab 1992 wurde ein Kranwagen benutzt,
wodurch sich die Tragevorgänge verringerten. Die Werkstattarbeit umfasste 50 % der Arbeitszeit des Klägers. Hier fiel
u.a. der Ein- und Ausbau von Getrieben mit der Hand an, die teilweise über 50 kg wogen. Saisonbedingt mussten an
ca. 15 Fahrzeugen täglich Reifen von mehr als 25 kg gewechselt werden (bis zu 80 Hebevorgänge pro Tag). Mit
Stellungnahme vom 24.01.1996 erkannte die Beklagte die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK Nr 2108 als
vorliegend an. In der ersten Hälfte 1995 (30.04.1995) übergab der Kläger die Firma an seine Tochter.
Berufsunfähigkeitsrente bezog er ab Mai 1995. Seit Dezember 1997 erhält er Erwerbsunfähigkeitsrente.
Erste Beschwerden am Rücken, auch an der Lendenwirbelsäule (LWS) machte er seit 1983 geltend. Am 30.01.1995
beantragte er die Anerkennung einer BK wegen Erkrankung der Wirbelsäule.
Die Beklagte zog Befundberichte des Orthopäden Dr.B. vom 12.04.1995 und des Allgemeinarztes Dr.K. vom
26.06.1995, den ärztlichen Entlassungsbericht der Höhenklinik B. vom 04.01.1984, Arztberichte des
W.krankenhauses St.M. , Erlangen, vom 18.04.1995 (Zustand nach Vorderwandinfarkt und aorto-coronarem Bypass),
des Krankenhauses R. vom 23.01.1995, des Orthopäden Dr.P. vom 18.05.1995 sowie die ärztlichen Unterlagen der
Chirurgischen Klinik mit Poliklinik der Universität E. bei. Sodann holte sie ein Gutachten der Orthopädin Dr.B. vom
11.03.1996 ein. Diese diagnostizierte beim Kläger vor allem ein Wirbelsäulensyndrom mit beginnenden
Funktionsstörungen in allen drei Etagen bei Abnutzungserscheinungen der gesamten Brustwirbelsäule (BWS) bei
bland abgelaufenem Scheuermann, beginnende Abnutzungserscheinungen in der unteren LWS und in der
Halswirbelsäule (HWS) bei C5/6. Aus den CT-Befunden von 1995 ließe sich ein Prolaps bei L4/5 und eine minimale
Protrusion bei L3/4 nachweisen. Eine geringe Osteochondrose bei L5/S1 bei fraglich kleinstem Prolaps sei erkennbar.
Der Kläger weise Einschränkungen auf wie bei einem normal gesunden 50-Jährigen. Die festgestellten degenerativen
Veränderungen an der LWS seien als im üblichen Altersmaß liegend anzusehen. Ein Wirbelsäulenleiden nach Nr 2108
könne nicht anerkannt werden.
Nach Stellungnahme des Gewerbearztes Dr.M. lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.06.1996 die Entschädigung
der Wirbelsäulenerkrankung ab. Sie verwies auf das fachärztliche Gutachten der Dr.B ... Im Bereich der LWS habe
sich röntgenologisch kein über das Altersmaß stärker ausgeprägter Verschleiß nachweisen lassen (bestätigt durch
Widerspruchsbescheid vom 23.12.1996).
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben und beantragt, die Erkrankung
der LWS als BK anzuerkennen und Leistungen zu gewähren. Hierzu hat er ein ärztliches Attest des Orthopäden Dr.P.
vom 24.03.1997 vorgelegt, in dem auf zwei Bandscheibenvorfälle im Bereich der LWS hingewiesen wird.
Das SG hat einen Befundbericht des Dr.K. vom 05.07.1997 und die Schwerbehindertenakte des Amtes für Versorgung
und Familienförderung N. beigezogen. Sodann hat der Chirurg Dr.S. am 06.04.1998 ein Gutachten erstellt. Er hat bei
dem Versicherten zwar eine Erkrankung der Bandscheiben festgestellt, bewertete sie aber nicht als das alterstypische
Maß überschreitend. Zusätzliche äußere Faktoren hätten keinen Einfluss auf die Entstehungsursache der
Bandscheibenerkrankung der LWS gehabt. Eine BK nach Nr 2108 liege nicht vor.
Auf Veranlassung des Klägers hat PD Dr.B. am 11.02.1999 ein arbeitsmedizinisches Gutachten nach § 109
Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellt (mit Zusatzgutachten des Nervenarztes Dr.F. vom 26.10.1998, des Orthopäden
Dr.H. und des Radiologen PD Dr.R. vom 16.10.1998). PD Dr.B. hat eine fortgeschrittene Osteochondrose mit
Bandscheibenverschmälerung im Segment L5/S1, einen Zustand nach Bandscheibenvorfall L4/5 und L5/S1 mit
Bandscheibenoperation 4/97 und chronisch-neurogenen Ausfallserscheinungen i.S. eines L5- und S1-Syndroms links
als Gesundheitsstörungen angesehen. Er hat in Übereinstimmung mit den Ermittlungen des TAD der Beklagten die
beruflichen Voraussetzungen zur Entwicklung einer BK Nr 2108 beim Kläger als vorliegend gewertet und ausgeführt,
dass für eine BK vor allem die langjährige Einwirkung erheblicher wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten über einen
Zeitraum von 26 Jahren, das Fehlen außerberuflicher Wirbelsäulenbelastungen durch sportliche Aktivitäten u.ä., das
Fehlen von Wirbelsäulenerkrankungen bei Familienangehörigen 1.Grades sowie von wesentlichen biomechanisch
wirksamen präarthrotischen Deformitäten i.S. einer Spondylolisthesis u.ä. bestimmend seien. Den Zusammenhang
zwischen der langjährigen beruflichen Wirbelsäulenbelastung und der bandscheibenbedingten Erkrankung hat er i.S.
einer BK nach Nr 2108 mit Wahrscheinlichkeit angenommen und die MdE seit Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit mit
20 vH eingeschätzt.
Die Beklagte hat dem mit Schriftsatz vom 18.03.1999 widersprochen mit dem Hinweis, dass sich angesichts der
bestehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule, aber nicht nur dort, ein vorauseilender Befund
im Bereich L4 bis S1 nicht herausarbeiten lasse. Selbst wenn, sei die berufliche Verursachung nicht hinreichend
wahrscheinlich gemacht. Auch sei die MdE mit 20 vH zu hoch eingeschätzt.
Mit Urteil vom 04.05.1999 hat das SG Nürnberg die Beklagte verurteilt, das Bandscheibenleiden der LWS als BK nach
Nr 2108 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen und ab Juni 1995 Rente nach einer MdE um 20 vH zu gewähren. Es hat
sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des Sachverständigen PD Dr.B. gestützt.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie hat vorgetragen, dass entgegen ihrer bisherigen
Einschätzung nicht vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen ausgegangen werden könne. In der
Stellungnahme vom 16.09.1999 hat der TAD der Beklagten ausgeführt, dass aufgrund Übernahme objektiver Kriterien
wie Hartung/Dupuis bzw. Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) sich mittlerweile in einer Vielzahl von Einzelfällen
ergeben habe, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK Nr 2108 bei einem Kfz-Monteur nicht mehr
gegeben seien. Dies gelte insbesondere für die Tätigkeit des Klägers in der Werkstatt, da mit 28 Tagen Reifenwechsel
im Jahr die Forderung nach der überwiegenden Zahl der Schichten nicht erfüllt sei, ebenso für Arbeiten an Getrieben
und Kupplungen. Werkstattarbeiten blieben daher unberücksichtigt bei der Bewertung der Wirbelsäulenbelastung. Für
Bergungsarbeiten ergäben sich selbst unter der Annahme, dass täglich zwei Fahrzeuge geborgen werden müssten,
Tagesbelastungsdosiswerte deutlich unter 1.700 Nh. Der Richtwert der Gesamtbelastungsdosis werde so nicht
erreicht. Der Kläger hat hierzu eine Stellungnahme des Dipl.Ing. F. vom 31.12.1999 vorgelegt, nach der die
Tagesbelastungswerte von 1.700 Nh nach Hartung/ Dupuis deutlich überschritten seien.
Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat der Senat eine Krankheitenauskunft der AOK Mittelfranken vom
27.06.2000, die Akten der LVA Oberfranken und Mittelfranken, Befundberichte der Dres P. vom 29.08.2000 und B.
vom 19.09.2000 sowie des Allgemeinarztes Dr.W. vom 29.12.2000 beigezogen und den Orthopäden Dr.F. mit der
Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem Gutachten vom 10.05.2001 / 25.07.2001 ist dieser nicht von einer
alterstypischen LWS-Erkrankung ausgegangen, da zwei Bandscheibenvorfälle der LWS gesichert seien. Das
Verteilungsmuster der degenerativen Veränderungen hat er als atypisch angesehen, da nur das 4. und 5. Segment der
LWS konfrontiert sei. Zudem lägen Verschleißerscheinungen an HWS und BWS vor. Der generalisierte Befall aller
Wirbelsäulenabschnitte mit Verschleißerscheinungen sei ein deutliches Indiz gegen eine BK Nr 2108. Er spreche für
eine Anlagestörung, nämlich generalisierte Verschleißerscheinungen des Skelettsystems, welche auf eine Schwäche
des mesenchymalen Bindegewebes hinwiesen. Dies sei auch an den Gesundheitsstörungen der oberen und unteren
Extremitäten sowie der Hüftgelenke erkennbar. Es könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit - auch bei
Unterstellung der arbeitstechnischen Bedingungen nach Nr 2108 - begründet werden, dass die berufliche Tätigkeit des
Klägers als Kfz-Meister für die Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung wesentlich ursächlich gewesen
sei. Der Kläger hat dem mit Schriftsätzen vom 05.06.2001 / 10.09.2001 widersprochen und ein ärztliches Attest des
Dr.W. vom 05.06.2001 vorgelegt.
Auf Veranlassung des Klägers hat PD Dr.B. ein erneutes Gutachten nach § 109 SGG erstellt. In dem Gutachten vom
19.08.2002 (mit Zusatzgutachten des Nervenarztes Dr.F. vom 21.05.2002, des Orthopäden Dr.H. vom 03.06.2002 und
des Radiologen PD Dr.R. vom 23.05.2002) hat PD Dr.B. die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK Nr 2108
als erfüllt angesehen. Er hat jetzt bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS in Form einer fortgeschrittenen
Osteochondrose L5/S1 mit erheblicher Höhenminderung der Bandscheibe, die dorso-links-lateral vollständig
aufgehoben war, eine fortgschrittene Spondylarthrose L5/S1 mit knöcherner Einengung des linken Neuroforamens und
Einengung der Nervenwurzel L5 links sowie Hinweise für einen Elastizitätsverlust im Bereich der Bandscheibe L4/L5
mit breitbasiger Bandscheibenvorwölbung und mäßiger Einengung der Neuroforamina festgestellt. Diese LWS-
Erkrankungen seien mit Wahrscheinlichkeit auf die Berufstätigkeit des Klägers zurückzuführen. Die MdE hat er wieder
mit 20 vH eingeschätzt.
Die Beklagte hat entgegnet, dass selbst bei einer worst-case-Betrachtung die Mindest-Tagesbelastungsdosis nach
dem MDD-Modell nicht erreicht werde. Sie hat hierzu eine Stellungnahme des Fachchemikers der Medizin Dr.B. vom
13.09.2002 vorgelegt. Danach berechnet sich eine Beurteilungsdosis von 3.288 Nh. Damit bleibe für den gesamten
Zeitraum ab 1980 der Richtwert für wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten weit unterschritten. Der Kläger sah in seiner
Stellungnahme vom 09.04.2003 die Tagesbelastungsdosis dagegen als weit überschritten an.
In seiner ergänzend eingeholten Berechnung vom 17.06.2003 ist PD Dr.B. zu einer höheren Beurteilungsdosis pro
Schicht als 5.500 Nh nach dem MDD-Verfahren gekommen. Die Gesamtdosis hat er mit 90,5 x 106 Nh angenommen.
In ihrer Erwiderung hat die Beklagte auf eine Stellungnahme ihres techn. Aufsichtsbeamten Dipl.Ing. R. (R.) vom
31.08.2003 verwiesen, nach der die nach dem MDD-Verfahren geforderte Gesamtdosis von 25 x 106 Nh mit 15,9 x
106 Nh deutlich unterschritten werde.
Der Kläger hat eine weitere gutachtliche Stellungnahme des Dipl.-Ing. H. (H.) vom 23.04.2004 vorgelegt zu Fragen des
Berge- und Aufladevorganges bei stark deformierten Fahrzeugen sowie des Dipl.-Ing. K. (K.) vom 21.05.2004.
Letzerer hat unter Berücksichtigung der Werkstattarbeit, des Tragens der Auffahrrampen und nur 1 Minute Dauer beim
Bergen von Fahrzeugen eine Gesamtdosis von 79,4 x 106 Nh nach dem MDD-Modell angenommen. Die Beklagte hat
dagegen eine Stellungnahme von Dipl.-Ing. R. vom 28.07.2004 veranlasst, der den Richtwert für die Belastungsdosis
von 5.500 Nh als nicht erreicht oder überschritten ansah.
Der Kläger hat eine weitere Stellungnahme des Dipl.-Ing. H. vom 19.01.2005/20.09.2005 über den Arbeitsablauf beim
Bergen und Abschleppen von Kraftfahrzeugen ab 1966 sowie eine arbeitstechnische Stellungnahme des
Allgemeinarztes - Betriebsmedizin - Dr.K. vom 15.01.2005/18.09.2005 vorgelegt. Danach sei die
Gesamtbelastungsdosis mit 35,50 x 106 Nh überschritten worden. Die Beklagte hat mit Stellungnahme des Dipl.-Ing.
R. vom 01.08.2005/03.04.2006 widersprochen.
Daraufhin hat der Kläger eine weitere zusammenfassende Stellungnahme des Dipl.-Ing. K. vom 09.06.2006 übersandt.
Die Beklagte hat abschließend durch Stellungnahme des Dipl.-Ing. R. vom 30.10.2006 entgegnet.
Der Kläger hat zudem beantragt, Dipl.-Ing. R., Dipl.-Ing. H. und Prof. Dr.B. als sachverständige Zeugen zu laden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 04.05.1999 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid
vom 26.06.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.12.1996 abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 04.05.1999 zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die
Rentenakte der LVA Oberfranken und Mittelfranken Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und auch begründet.
Entgegen der Auffassung des SG hat der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK nach
§ 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO, da die Voraussetzungen nicht
erfüllt sind.
Der Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da die geltend gemachte BK vor dem In-Kraft-Treten
des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) ab 01.01.1997 eingetreten wäre (Art 36 Unfallversicherungs-
Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).
Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO sind BKen die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit
Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO
genannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach Nr 2108 der Anlage
1 zur BKVO "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten
und durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen
haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder
sein können."
Die Feststellung der BK setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK erfüllt
sein müssen, zum anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und dieses iS der unfallrechtlichen
Kausalitätslehre mit Wahrscheinlichkeit auf die wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl.
Kasseler Kommentar - Ricke - § 9 SGB VII Rdnr 11; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung Bd III -
Stand 1997 -, § 9 SGB VII RdNr 21 ff). Schließlich muss die schädigende Tätigkeit aufgegeben sein.
Unzweifelhaft hat der Kläger die beruflich belastende Tätigkeit im Kfz-Gewerbe im April 1995 aufgegeben. Ob die
medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK Nr 2108 erfüllt sind, kann nach Auffassung des Senats
dahingestellt bleiben. Bei dem Kläger fehlt es bereits am Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen.
Nach den überzeugenden Ausführungen des Dipl.-Ing. R. vom 31.08.2003, 28.07.2004, 01.08.2005, 03.04.2006 und
30.10.2006 sind die dafür einschlägigen Voraussetzungen - unter Berücksichtigung des MDD-Modells - nicht
nachgewiesen.
Nach dem MDD-Modell werden bei der BK Nr 2108 die Wirbelsäulenbelastungen nach der Schwere der Lasten,
Häufigkeit und Dauer belastender Vorgänge, Gesamtzeit der belastenden Einwirkungen, Körperhaltung, Häufigkeit und
Dauer von Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung erfasst und bewertet. Zuerst erfolgt die Bestimmung der
Belastungshöhe beim jeweiligen Arbeitsvorgang in Abhängigkeit von der Art der Tätigkeit und dem Gewicht der Last.
Für die Belastungshöhe pro Arbeitsvorgang wird ein Mindestwert von 3.200 N bei Männern gefordert.
Der 2. Schritt ist die Berechnung der Tagesdosis. Die Mindesttagesdosis beträgt für Männer 5.500 Nh.
In einem 3. Schritt ist dann aus der Summe der Tagesdosen die Gesamtlebensdosis zu errechnen. Als Mindest-
Gesamtdosis werden im MDD-Modell für Männer 25 x 106 Nh gefordert (Mehrtens/Brandenburg, BKV, M 2108, 2.3;
Becker, Die arbeitstechnischen Voraussetzungen bei der Wirbelsäulen-BK Nr 2108, SGb 2001, 488; Medizinische
Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten BK der Lendenwirbelsäule , in Trauma und BK, 2005, S 322 ff).
Diese Beurteilungsrichtwerte kennzeichnen die Gesamtbelastungsdosis, bei deren Überschreitung ein erhöhtes Risiko
für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS anzunehmen ist. Nach dem BSG bietet das MDD-Modell derzeit
eine hinreichend bestimmte Grundlage für eine gleichmäßige Rechtsanwendung (BSG Urteil vom 18.03.2003 - B 2 U
13/02 R = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, vom 19.08.2003 - B 2 U 1/02 R).
Nach den vom Kläger mit Schriftsätzen vom 03.03.1995 und 28.12.1995 vorgebrachten Erklärungen sind seine
Arbeitsvorgänge im Wesentlichen wie folgt zu beurteilen:
1. Arbeiten in der Werkstatt: Danach fanden Reifenwechsel an 28 Tagen im Jahr statt. Ausgegangen wurde von 5
Fahrzeugen am Tag mit jeweils 20 Rädern à 25 kg. Diese mussten jeweils 4-mal gehoben und getragen werden. Hinzu
kam die Arbeit an Getrieben und Kupplungen etc. Sie wurde einige wenige Male pro Woche durchgeführt. Es fielen
Hebe- und Tragevorgänge bis zu 60 kg in der Woche an.
2. Bergungsarbeiten: In der Zeit vom Juli 1966 bis Januar 1980 (= 13,5 Jahre) war der Kläger an der Bergung von ca.
3 Fahrzeugen pro Woche beteiligt (vor allem mit dem Einheben in den sog. Abschlepphund). Das Hebegewicht ist mit
50 kg einzuschätzen, da die Fahrzeuge vom Kläger zusammen mit weiteren Helfern angehoben wurden, um auf den
Abschlepphund gelegt zu werden. Es ist von einer maximalen Trage- bzw. Haltezeit von einer Minute pro Fahrzeug
auszugehen (= 3 Minuten Haltezeit pro Woche). Die vom Kläger angegebene Haltezeit von mehreren Minuten, im
Einzelfall 15 Minuten, ist bereits unter physiologischen Gesichtspunkten nicht vertretbar.
In der Zeit vom Februar 1980 bis September 1991 (= 11,8 Jahre) wurden vom Kläger ca. 21 Fahrzeuge pro Woche
geborgen, im Winter weniger. Die Haltezeit hierfür ist auch mit einer Minute pro Fahrzeug anzusetzen (= 21 Minuten
Haltezeit pro Woche). Dies stellt aber eine "Worst-case-Betrachtung" dar, da in diesem Zeitraum die Kraftfahrzeuge
bereits mit LKW-Winden auf den Abschleppwagen gehievt wurden.
Ab 1992 hatte sich der Kläger einen Kranwagen angeschafft, wodurch es zu einer erheblichen Verringerung der
Belastungsvorgänge kam.
Nach der Berechnung des Dipl.-Ing. R. vom 31.08.2003, der sich der Senat anschließt, liegt in beiden Zeitabschnitten
die Beurteilungsdosis unterhalb des Richtwertes für das MDD-Verfahren von 5.500 Nh pro Schicht. Für die
Gesamtdosis ließ sich im Beurteilungszeitraum ein Richtwert von 15,9 x 106 Nh errechnen. Damit wird der Richtwert
nach dem MDD-Modell von 25 x 106 Nh deutlich unterschritten. Bei der Unterschreitung ist nach dem aktuellen Stand
epidemiologischer Erkenntnisse ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht
anzunehmen (Mehrtens/Brandenburg, BKV, M 2108, 2.3).
Selbst bei einer weiteren "Worst-case-Betrachtung" mit einer unterstellten Last von 100 kg bei jedem Hebe- und
Haltevorgang sowie einer jeweiligen Hebe- bzw. Haltezeit von 3 Minuten wird der Richtwert des MDD-Modells von
5.500 Nh pr Schicht deutlich unterschritten (Stellungnahme des Dipl.-Ing. R. vom 01.08.2005). Im Übrigen ist darauf
hinzuweisen, dass nach den von Dipl.-Ing. R. bei der BG für Fahrzeughaltung eingeholten Auskünften bislang für das
Abschleppgewerbe kein BK-Feststellungsverfahren zur BK Nr 2108 durchgeführt worden ist, in dem die von
Klägerseite vorgebrachten Belastungen bestätigt wurden. Auch wurden für dieses Gewerbe die arbeitstechnischen
Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK nach Nr 2108 bisher nicht festgestellt.
Zu den arbeitstechnischen Ausführungen kann der Senat nicht den Feststellungen des Prof. Dr.B. vom 17.06.2003
folgen. Insbesondere unterstellt er unzutreffend für die Zeit von 1966 bis 1991 durchgängig eine wöchentliche
Hebezahl von 21 Fahrzeugen. Auch ist unwahrscheinlich, dass ein Fahrzeug angehoben und dann mehrere Minuten
(bis zu 15 Minuten) im angehobenen Zustand gehalten wird, um es auf den Abschlepphund zu setzen. Solche
Vorgänge dauern im Allgemeinen wenige Sekunden. Bei statischer Muskelhaltearbeit ist es in Übereinstimmung mit
Dipl.-Ing. R. nicht nachvollziehbar, dass ein Gewicht von 50 kg im Einzelfall minutenlang gehalten werden kann.
Auch die Ausführungen des Dipl.-Ing. H. in seinen Stellungnahmen vom 23.04.2004 und 20.09.2005 überzeugen nicht.
Er übersieht, dass nicht alle Bewegungsabläufe, die mit der manuellen Manipulation von Lasten zusammenhängen, in
die Bewertung nach dem MDD-Modell einfließen. So sind nur Hebe- und Tragebelastungen, nicht aber z.B. Zug- oder
Schiebearbeiten, auch bei großen Lasten, bei dem MDD Modell zu berücksichtigen. Aus seinen Ausführungen lässt
sich nicht eindeutig erkennen, auf welche Lasten er konkret abstellt. Der Gutachter würdigt auch nicht die
Plausibilitätsbetrachtung von Dipl.-Ing. R. in dessen Stellungnahme vom 31.08.2003. Desgleichen verfährt er mit den
Erörterungen von Dipl.-Ing. R. zur Haltezeit bei statischer Muskelarbeit, obwohl dessen Ausführungen den
arbeitswissenschaftlichen Hintergrund von Muskelhaltearbeit widerspiegeln. Dipl.-Ing. H. bleibt bei den für das MDD-
Modell verwertbaren Lastenhandhabungszeiten unkonkret, da er die angegebenen 5 Minuten Hebe- bzw. Tragezeit
weder durch konkrete Zeiterhebung noch Plausibilitätsbetrachtungen für die einzelnen Hebe- und Tragevorgänge
untermauert. In seinem Gutachten vom 19.01.2005 sind bereits bei der Ermittlung der notwendigen Körperhaltung, die
von ihm auf Bildern dargestellt wird, Bedenken anzumelden. Die im Verlauf seines Gutachtens genannten Gewichte
(300 kg) können in der Regel von einer Person nicht bewältigt werden. Insbesondere in der dargestellten Position, mit
vorgebeugtem Oberkörper, werden schwerste Lasten nicht bewältigt. In der Praxis werden z.B. bei
Aufschaukelvorgängen Körperhaltungen mit dem Rücken zum Fahrzeug eingenommen. Jedenfalls muss man
bezweifeln, dass eine einzelne Person ohne weitere Hilfe die von H. vorgebrachten Arbeitsvorgänge durchführen
konnte. H. wiederholt auch die Zeitgröße 3 bis 5 Minuten bei der Hebe- und Tragearbeit. Auch hier bleibt er, wie
bereits im Vorgutachten, eine Begründung schuldig. Bei dem Heben von Gewichten von 300 kg - bei vorgebeugter
Körperhaltung - ist eher zu erwarten, dass auf die Lendenwirbelkörper eine derart hohe Kraft einwirkt, dass diese
absplittern oder es zu Kompressionsbrüchen kommt. In dem Gutachten ist auch nicht nachvollziehbar, dass eine
Person allein ein Fahrzeug in die Auffahrschiene heben kann. Zudem ist festzuhalten, dass die vorgenannten
Berechnungen der Belastungsdosis auf Werten basieren, die hinsichtlich der Lasten und der Zeiten deutlich über den
Werten liegen, die in der Praxis arbeitstechnisch erreicht werden.
Ebenfalls nicht folgen kann der Senat den Ausführungen des Dipl.-Ing. K. in dessen Stellungnahmen vom 21.05.2004
und 10.01.2005. Die von ihm durchgeführten Berechnungen sind mit den Grundsätzen und den Formen des MDD-
Modells einerseits und den tatsächlichen Verhältnissen andererseits nicht in Einklang zu bringen. So addiert er
Dosiswerte (Einzeldosen), die nach dem MDD-Modell nicht einfach zusammengezählt werden dürfen. Es muss
vielmehr die Wurzel aus der Summe der Quadrate der zeitbewerteten Einzeldosen gezogen werden. Erst dann ergibt
sich die Beurteilungsdosis Ds. Auch die einzelnen Beurteilungsdosen lassen sich nach dem MDD-Modell nicht
einfach zu einer Gesamtbelastungsdosis addieren. Hier muss eine Summierung der Produkte aus Beurteilungsdosis,
Anzahl der Schichtzeiten pro Jahr und der Jahre mit dieser Tätigkeit erfolgen. Dipl.-Ing. K. hat lediglich Einzeldosen
nicht der Regel entsprechend zu Beurteilungsdosen addiert. Diesen Fehler wiederholt er systematisch. Neben der
falschen Addition von Dosiswerten werden auch ganze Tätigkeiten unsachgemäß untereinander addiert und gemischt,
so z.B. vollständige Tagesbeurteilungsdosen werden mit Einzeldosen aus der Abschlepptätigkeit addiert. Es ist
unzulässig so zu verfahren, als würden alle Tätigkeiten, also Abschlepparbeiten und Werkstattarbeiten gleichzeitig
durchgeführt. Daneben berücksichtigt Kern zur Ermittlung der Gesamtbelastungsdosis auch Beurteilungsdosen, die
unter dem Richtwert von 5.500 Nh liegen. Solche Dosiswerte stellen derzeit keine belastende Tätigkeit iS des MDD-
Modells dar. Sie dürfen zur Ermittlung der Gesamtbelastungsdosis nicht berücksichtigt werden. Dieser Fehler findet
sich in allen Berechnungen. Danach ist die Vorgehensweise von Dipl.Ing. K. weder sachgerecht noch angemessen. In
seiner weiteren Stellungnahme vom 09.06.2006 lässt er wiederum unberücksichtigt, dass in den Zeiten, in denen
Abschlepparbeiten durchgeführt wurden, keine Werkstattarbeiten erledigt werden konnten. Auch in den vier
Rechnungen unterlaufen ihm erneut wesentliche Fehler. So wird in der Berechnung I die Dauer pro Schicht mit 0,05 h
angegeben. Er hat dabei fälschlich als Tagesdosis 3 Minuten angesetzt für die Hebe- und Tragezeit. In der
Berechnung II rechnet er zwar mit einer Minute reiner Hebe- und Tragezeit als Regelfall. Er geht aber bei der Zahl der
Hebe- und Tragevorgänge je Woche bei Bergearbeiten von 6 Fahrzeugen aus. Dies ist zu hoch gegriffen.
Die Stellungnahme des Dr.K. vom 15.01.2005 leidet darunter, dass Annahmen getroffen oder Werte unterstellt
werden, die bislang nicht eingeführt waren bzw. nicht mit den bestätigten Ermittlungsergebnissen übereinstimmen. So
führt er ohne Begründung aus, dass je Bergungsvorgang eine extreme Rumpfbeugehaltung zum Anbringen eines
Abschleppseiles anfalle. In der Praxis geht aber die betreffende Person in die Knie, wenn sie einen Abschlepphaken
anbringen will. Auch unterstellt er im Zeitraum von 1966 bis 1980 das Bergen von 6 Fahrzeugen pro Woche, obwohl in
dieser Zeit lediglich 3 Fahrzeuge pro Woche ermittelt wurden. Für das Aufheben von Fahrzeugen werden für den
Zeitraum Juli 1966 bis Januar 1980 zweimal je 100 kg für insgesamt 180 Sekunden angesetzt. Dieser Ansatz liegt um
50 % über den Ansatz, den Dipl.-Ing. R. bereits als fiktiven Höchstwert für verschiedene Hebevorgänge summiert hat.
Im Übrigen sind bei ihm die immensen Abweichungen nach oben von den ermittelten Belastungen und Zeiten auffällig.
Er gibt hierfür keine nähere Begründung an.
Danach liegen nach den überzeugenden Ausführungen des Dipl.-Ing. R. die arbeitstechnischen Voraussetzungen für
das Vorliegen der BK Nr 2108 nicht vor. R. entkräftet die von der Klägerseite vorgebrachten Stellungnahmen
einschließlich der Ausführungen des PD Dr.B ... Der Einvernahme weiterer Sachverständigen bzw. Zeugen hat es
nicht bedurft.
Eine BK nach Nr 2108 lässt sich daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründen. Der Kläger hat - im
Gegensatz zu den Ausführungen des SG Nürnberg - keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK
nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO.
Auf die Berufung der Beklagten ist daher das Urteil des SG Nürnberg vom 04.05.1999 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Es ist
klärungsbedürftig, ob das MDD ein geeignetes Modell ist, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten bei im
Laufe des Berufslebens wechselnden Belastungen zu ermitteln.