Urteil des LSG Bayern vom 09.09.2003

LSG Bayern: eintritt des versicherungsfalles, erwerbsunfähigkeit, ärztliche behandlung, erwerbsfähigkeit, arbeitsunfähigkeit, gesundheitszustand, klinik, erwerbstätigkeit, rentenanspruch, aufenthalt

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 09.09.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 3 RJ 315/00
Bayerisches Landessozialgericht L 6 RJ 676/01
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 20. November 2001 aufgehoben
und die Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die am 1941 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Die vom 01.12.1959 bis Mai 1960 und von November 1960
bis Juni 1961 begonnene Lehre als Zahnarzthelferin, hat sie ohne Abschluss abgebrochen. Von 1961 bis 1973 war sie
als Sprechstundenhilfe beschäftigt und schied im Januar 1973 wegen Schwangerschaft und Geburt ihrer Tochter E.
zunächst aus dem Erwerbsleben aus. Nach einer geringfügigen versicherungsfreien Beschäftigung ab 1989 nahm sie
im Oktober 1996 erneut eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Hausangestellte (Alten- und Haushaltshilfe) 16
Stunden wöchentlich auf, die sie bis 30.04. 1999 ausübte. Diesen Arbeitsplatz verlor sie wegen Heimunterbringung der
von ihr betreuten Person. Anschießend war sie bis 25.08.1999 arbeitssuchend, wofür für sie bis zu diesem Zeitpunkt
Pflichtbeiträge entrichtet worden sind. Seit 15.07.1999 besteht Arbeitsunfähigkeit.
Am 11.11.1999 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Im
Verwaltungsverfahren wurde die Klägerin von Dr.med.psych. W. am 02.02.2000 untersucht. In dem Gutachten vom
02.02.2000 stellte die Sachverständige als Gesundheitsstörungen eine angst- und depressive Störung sowie eine
abhängige Persönlichkeitsstörung fest. Aufgrund dieser seelischen Beschwerden sei die Klägerin schwergradig in
ihrem beruflichen Leistungsvermögen gemindert. Selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts seien ihr
nur noch unter halbschichtig möglich. Schichtbedingungen, Arbeiten unter besonderem Zeitdruck, mit besonderen
Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit oder an die Verantwortung und sowie Konzentration und Reaktion seien
nicht mehr möglich. Die Prognose sei ungünstig, aus ärztlicher Sicht handele es sich um einen Dauerzustand. Die
ärztliche Sachverständige stützte sich dabei neben einer klinischen Untersuchung auf einen Befundbericht des
Bezirkskrankenhauses A. vom 15.11. 1999. Darin ist ein Klinikaufenthalt in der psycho-somatischen Klinik in G.
sowie eine Befundverschlechterung seit April 1999 mit zunächst ambulanter nervenärztlicher Behandlung und seit
19.07.1999 stationärer Behandlung aufgeführt. Die Verschlechterung sei im April 1999 eingetreten. Die Frage nach
einer Besserungsfähigkeit des Gesundheitszustandes wurde mit "kann nicht beurteilt werden" beantwortet. Dazu
wurde vermerkt: Bei derzeit (nach vier Monaten stationärer Behandlung) ausbleibendem therapeutischen Erfolg, ist die
langfristige Entwicklung der Leistungsfähigkeit nicht beurteilbar".
Mit Bescheid vom 09.02.2000 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Ausgehend vom Eintritt des
Versicherungsfalles im Juli 1999, habe die Klägerin im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum - 15.07.1994 bis 14.07.1999
- nur 34 statt der notwendigen 36 Monate Pflichtbeiträge entrichtet. Damit seien die besonderen mit
Haushaltsbegleitgesetz 1984 eingeführten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht erfüllt und könnten auch nicht mehr erfüllt werden.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.05.2000 mit derselben Begründung zurück. Die
Klägerin sei seit Juli 1999 erwerbsunfähig und habe für diesen Leistungsfall jedoch nur 34 Monate
Pflichtbeitragszeiten im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum zurückgelegt. Ein Rentenanspruch bestehe daher nicht.
Dagegen hat die Klägerin zum Sozialgericht Augsburg Klage erhoben. Es habe zwar seit 15.07.1999
Arbeitsunfähigkeit bestanden. Der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei jedoch erst mit Rentenantrag zum
11.11.1999 eingetreten. In diesem Zeitpunkt habe die Klägerin jedoch die erforderlichen 36 Monate Pflichtbeiträge in
dem letzten Fünfjahreszeitraum erfüllt. Das Sozialgericht hat die Befundberichte des behandelnden Neurologen Dr.E. ,
des Hausarztes Dr.K. , der Psychosomatischen Klinik R. über einen Aufenthalt von Februar bis Mai 2000, des
Bezirkskrankenhauses A. über stationäre Aufenthalte vom 15.07. bis 17.12.1999 sowie vom 29.12.1999 bis
15.02.2000 und vom 18.07. bis 14.08.2000 eingeholt sowie einen Entlassungsbericht aus dem Bezirkskrankenhaus G.
über einen stationären Aufenthalt am 30.10.2000 bis 13.01.2001 beigezogen.
Anschließend hat das Sozialgericht ein Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.G.F. vom
19.06.2001 zum beruflichen Leistungsvermögen der Klägerin eingeholt. Die ärztliche Sachverständige hat in ihrem
Gutachten als Gesundheitsstörungen eine rezidivierende Major Depressionen disorder festgestellt, wegen derer die
Klägerin zu keiner Erwerbstätigkeit von wirtschaftlichem Wert mehr in der Lage sei. Es handele sich dabei um einen
Dauerzustand mit ungünstiger Prognose. Zur Frage, wann das berufliche Leistungsvermögen unter vollschichtig bzw.
sechs Stunden täglich gesunken sei, führte die ärztliche Sachverständige aus, dass dies eine Ermessensfrage sei.
Die Beklagte sei wohl davon ausgegangen, dass der Leistungsfall am 15.07.1999 eingetreten sei. Ab diesem
Zeitpunkt sei die Klägerin häufig in psychiatrischen Kliniken stationär behandelt worden und nahezu durchgehend
krank geschrieben gewesen, während die Klägerin der Ansicht sei, das sie erst ab Dezember 1999 auf Dauer nicht
mehr in der Lage gewesen sei, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Als Gutachterin würde sie das aufgehobene
Leistungsvermögen erst ab Ende des ersten stationären Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus A. - den 28.12.1999 -
eingetreten sehen, da zu Beginn des Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus Hoffnung bestanden habe, dass sich der
Gesundheitszustand wieder bessere. Ihrer Ansicht nach handele es sich um einen Dauerzustand, da die Betroffene
seit Juli 1999 bis Januar 2001 häufig in psychiatrischen Kliniken gewesen sei und auch über Monate in der
psychosomatischen Klinik R. behandelt worden sei, ohne dass es zu einer wesentlichen Besserung des psychischen
Leistungsbildes gekommen wäre.
Dazu äußert sich Frau Dr.N. für die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 18.07.2001, die nervenärztliche
Rentengutachterin Dr.W. habe den Zeitpunkt des Eintretens des Versicherungsfalls mit dem Eintritt der
Arbeitsunfähigkeit im Juli 1999 zu Recht angenommen. Objektiv habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin ab
15.07.1999 trotz mehrmonatiger Aufenthalte nicht mehr gebessert. Das Datum des Rentenantrages sei insoweit ohne
Bedeutung. Die Klägerin habe sich nach mehreren Monaten stationären Aufenthalts ohne Besserung der psychischen
Symptomatik auf Anraten des Bezirkskrankenhauses A. zur Rentenantragstellung entschlossen. Die Tatsache, dass
sich die Klägerin subjektiv erst im November 1999 nicht mehr erwerbsfähig gehalten habe, ändere nichts an der
Tatsache, dass die Klägerin bereits seit 15.07. 1999 im Wesentlichen unverändert in rentenberechtigendem Grade
leistungsgemindert gewesen sei und deshalb der Leistungsfall bereits damals eingetreten sei. Eine medizinische
Begründung für einen anderen Zeitpunkt des Eintretens des Versicherungsfalls sei nicht ersichtlich.
Auf die Anfrage des Sozialgerichts Augsburg hat der Oberarzt Dr.R. vom Bezirkskrankenhaus A. in einer
Stellungnahme vom 19.11.2001 ausgeführt, dass zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme der Klägerin am
15.07.1999 aus seiner Sicht medizinisch die Aussicht und Erwartung bestanden habe, dass die Klägerin durch
entsprechende Behandlung psychisch wieder so stabil werden würde, dass sie dem Arbeitsmarkt wieder zur
Verfügung stehen würde. Im Allgemeinen sei das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild einer
psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Behandlung zugänglich. Deshalb sei zu erwarten gewesen,
dass die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt werden könne. Bei der Klägerin sei eine Verstärkung der Symptomatik mit
Destabilisierung jeweils bei belastenden Erlebnissen aufgetreten und habe vormals nach ärztlicher Behandlung wieder
zur Arbeitsfähigkeit der Patientin geführt. Es war deshalb im Juli 1999 von einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit
auszugehen.
Mit Urteil vom 20.11.2001 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 01.07.2000 zeitlich
befristet bis 30.06.2003 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. Der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei erst
im Dezember 1999 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt habe die Klägerin jedoch die besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt.
Antragsgemäß sei die Beklagte deshalb zu verurteilen, Rente wegen Ererbsunfähigkeit vom 1. Juli 2000 bis 30. Juli
2003 zu zahlen.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei bei der Klägerin
nach den bereits zu diesem Zeitpunkt objektivierbaren Gesundheitsstörungen und den daraus sich ergebenden
Einschränkungen des beruflichen Leistungsvermögens im Juli 1999 eingetreten. Daran änderten weder die subjektiven
Vorstellungen der Klägerin noch die der behandelnden Ärzten etwas. Der vom Sozialgericht aus den Äußerungen der
Dres. F. und R. gezogene Schluss, der Leistungsfall sei erst im Dezember 1999 eingetreten, sei durch die Regeln der
freien Beweiswürdigung nicht gedeckt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 09.02.2000
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2000 abzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts als unbegründet zurückzuweisen.
Beigezogen waren die Akten der Beklagten und die des Sozialgerichts Augsburg auf den Inhalt wird zur Ergänzung
des Tatbestandes Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet, weil die Klägerin für einen Anspruch auf Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit die besonderen mit Haushaltbegleitgesetz 1984 eingeführten versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen für den am 15.07.1999 eingetretenen Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit nicht erfüllt. Sie hat daher
keinen Rentenanspruch gemäß § 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Ererbsunfähigkeit ist wegen der Antragstellung vor dem
31.03.2001 zunächst in den Vorschriften des Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31.12.2000
geltenden Fassung zu messen, da geltend gemacht ist, dass dieser Anspruch bereits für die Zeit vor dem 01.01.2001
bestanden hat (vgl. § 300 Abs.2 SGB VI). Danach hat die Klägerin nur dann einen zahlbaren Anspruch auf Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn im Zeitpunkt des Eintretens des Leistungsfalles die besonderen
versicherungsrechtlichen Voraussetzunen für einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erfüllt
gewesen sind. Dazu ist es angesichts ihres Versicherungsverlaufs als hier alleinig in Frage kommende gesetzliche
Alternative erforderlich, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Eintretens des Leistungsfalles in dem davor liegenden
Fünfjahreszeitraum mindestens für 36 Monate Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet hat. Da
die Klägerin nach einer Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung ab 28.01.1983 bis zur Aufnahme einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung am 01.10.1996 eine Lücke im Versicherungsverlauf vorweist, hätte sie
lediglich dann einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenn der Leistungsfall erst 36 Monate
später, also frühestens am 01.10.1999 eingetreten gewesen wäre. Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin jedoch
nicht erfüllt, da nach der für den Senat überzeugenden Aussage der dazu befragten ärztlichen Sachverständigen der
Leistunsfall bereits bei Eintreten der Arbeitsunfähigkeit am 15.07.1999 eingetreten ist.
Dies ergibt sich aus den insoweit eindeutigen Aussagen der dazu befragten Sachverständigen. Danach besteht bei
der Klägerin bereits seit Eintreten von Arbeitsunfähigkeit ein im Wesentlichen unveränderter Gesundheitszustand, der
das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin auf weniger als zwei Stunden täglicher Erwerbstätigkeit zu den
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts herabsetzt. Es handelt sich dabei um einen Dauerzustand mit
ungünstiger Prognose, der auch durch viele Monate intensiver stationärer fachärztlicher Behandlung nicht gebessert
werden konnte. Es entspricht deshalb den Gesetzen der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
Logik, dass im Falle der Klägerin der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit zugleich mit dem Eintreten der letzten
Arbeitsunfähigkeit am 15.07.1999 eingetreten ist und seitdem unverändert bestanden hat. Diese objektive Tatsache
bestätigt im Übrigen sowohl der vom SG Augsburg befragte Oberarzt Dr.R. in seiner Stellungnahme vom 19.01.2001
als auch der Entlassungsbericht aus stationärer Behandlung vom 15.07. bis 17.12.1999, der lediglich eine leichte
Besserung der Symptomatik und nur eine geringe Beeinflussung der Symptomatik selbst durch die ärztliche
Behandlung bestätigt.
Die Frage des Zeitpunkts des Eintreten eines Leistungsfalles ist lediglich nach objektiven Gesichtspunkten nicht
jedoch nach subjektiven zu treffen. Dabei ist weder die Vorstellung der behandelnden Ärzte noch gar die Vorstellung
der Versicherten entscheidend für die Frage, wann dieser Leistungsfall eingetreten ist. Insbesondere die von Dr.F.
vertretene Auffassung, der Leistungsfall sei erst mit der subjektiven Vorstellung der Leistungsunfähigkeit durch die
Klägerin eingetreten oder aber erst nach dem Scheitern der ärztlichen Bemühungen, entspricht weder den
Anforderungen eines natur-wissenschaftlich begründeten Gutachtens, noch kann diese Ansicht der juristischen
Prüfung standhalten, da die behandelnden Ärzte und auch die ärztlichen Sachverständigen übereinstimmend die
Ansicht vertreten, dass der Gesundheitszustand und damit das eingeschränkte körperliche Leistungsvermögen bei
der Klägerin bereits seit 15.07.1999 im Wesentlichen unverändert bestanden habe. Dies allein ist für die Festlegung
des Leistungsfalls rechtlich maßgeblich.
Die Beklagte ist daher zu Recht von einem Eintreten der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Juli 1999 ausgegangen,
mit der Folge, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat, da sie zu diesem
Zeitpunkt nicht die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 erfüllt.
Auf die Berufung der Beklagten war daher das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 20. November 2001
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG nicht erfüllt sind.