Urteil des LSG Bayern vom 20.01.2004

LSG Bayern: rotatorenmanschettenriss, arbeitsunfall, form, bedingung, entstehung, begriff, unfallversicherung, wahrscheinlichkeit, befragung, verwaltungsverfahren

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 20.01.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 9 U 5024/00 L
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 179/01
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 04.04.2001 wird zurückgewiesen. II.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Rotatorenmanschettenruptur rechts als Folge des Arbeitsunfalls
der Klägerin vom 05.03.1999 streitig.
Die 1952 geborene Klägerin, von Beruf Landwirtin, rutschte am 05.03.1999 auf glattem Boden im Kuhstall aus und fiel
auf die rechte Schulter. Sie trug rechts mit abgespreiztem Arm einen birnenförmigen mit 20 l Milch gefüllten
Melkeimer mit einem Durchmesser von 40 bis 50 cm an seiner breitesten Stelle und dem zugehörigen
Schlauchsystem; in der linken Hand hielt sie den Luftschlauch. Beim Sturzereignis versuchte sie das Fallen des
Eimers zu vermeiden. Als sie einen heftigen Schmerz verspürte, ließ sie den Eimer los und fiel auf die rechte
Schulter. Am 06.05.1999 diagnostizierte der Durchgangsarzt Dr.Z. (Krankenhaus D.) nach röntgenologischer
Abklärung eine Kontusion der rechten Schulter. Eine Kernspintomographie des Radiologen Dr.P. , auf Veranlassung
der die Klägerin seit 07.05.1999 behandelnden Orthopäden Dr.B./Dr.N. (D.) vom 31.05. 1999) erbrachte die Diagnose
einer Rotatorenmanschettenruptur.
Zur Aufklärung des Sachverhalts zog die Beklagte Berichte der Dres.B./N. vom 11.05.1999, 31.05.1999, 16.07.1999
bei und holte Stellungnahmen ihrer beratenden Ärzte Dr. S. vom 28.06.1999 und Dr.G. vom 09.08.1999 ein.
Mit Bescheid vom 25.08.1999 anerkannte die Beklagte den Unfall als Arbeitsunfall, lehnte die Gewährung von
Verletztenrente jedoch ab. Durch den Unfall sei eine Prellung der rechten Schulter erfolgt, nicht jedoch eine
Rotatorenmanschettenruptur. Diese sei nicht Unfallfolge, da der Unfallhergang nach herrschender Meinung in der
medizinischen Wissenschaft ungeeignet gewesen sei, eine solche zu verursachen.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin eine Stellungnahme des Dr.N. vom 14.09.1999 vor, und
die Beklagte holte ein Gutachten des Orthopäden Dr.L. (D.) vom 11.10.1999/15.12.1999 ein. Er kam zu dem Ergebnis,
das Ereignis vom 05.03.1999 habe nur eine Prellung der rechten Schulter verursacht. Der Sturz seitlich nach hinten
mit direktem Anprall auf die Schulter sei nicht geeignet für die Entstehung eines Sehnenrisses. Auch aus der
Tatsache, dass die Klägerin im Augenblick des Sturzes einen vollen Melkeimer in der Hand gehalten habe, wodurch
eine muskuläre Feststellung und Fixierung des Gelenks erfolgt sei, sei keine derart große Zugbelastung auf die Sehne
zu konstruieren, dass ein Riss erklärt werden könne. Deutliche Aufrauungen im Bereich der Sehneneinstrahlung an
der Spitze des großen Schulterrollhügelknochens, die röntgenologisch festgestellt wurden, seien ein indirektes Indiz
für einen degenerativen Schaden. Auch lasse das Abduktionsbild vom 08.03. 1999 (muss lauten 06.03.1999) eine
gewisse subacromiale Enge zwischen Ansatzbereich des Supraspinatusmuskels und Unterfläche des Acromeons
vermuten. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 09.05.2000 zurück.
Gegen den Bescheid vom 25.08.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2000 hat die Klägerin
Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die
Rotatorenmanschettenruptur rechts als Folge des Unfalls vom 05.03.1999 anzuerkennen und ihr eine Verletztenrente
nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.
Nach Beiziehung der einschlägigen Röntgenaufnahmen hat das SG ein Gutachten des Orthopäden Dr.P. (G.) vom
04.12.2000 eingeholt. Er hat ausgeführt, ein geeigneter Unfallmechanismus habe vorgelegen, da im Moment des
Wegrutschens auf glattem Boden eine massive passive Traktion der rechten Schulter durch das ungeplante
willkürliche Abfangen des Melkeimers mit entsprechender Hebeleinwirkung auf das Schultergelenk erfolgt sei. Danach
sei ein direktes Anpralltrauma des rechten Schultergelenks erfolgt, welches einen für einen Rotatorenmanschettenriss
ungeeigneten Unfallmechanismus darstelle. Eine gewisse degenerative Supraspinatussehnenvorschädigung sei nicht
sicher zu beweisen. Die durch die Unfallfolgen verursachte MdE schätzte er auf 30 v.H.
Nachdem die Beklagte unter Vorlage einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr.G. vom 09.01.2001
Klageabweisung beantragt hatte, hat das SG mit Urteil vom 04.04.2001 die Beklagte verurteilt, die
Rotatorenmanschettenruptur als Folge des Unfalls vom 05.03.1999 anzuerkennen und der Klägerin hieraus eine
Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Es hat sich auf das Gutachten des Dr.P. und die
Ausführungen des Dr.N. vom 14.09.1999 gestützt. Im Hinblick auf die festgestellten Bewegungsmaßnahme hielt es
eine MdE von 20 v.H. für angemessen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, bei der Klägerin seien aufgrund der
Röntgenaufnahmen vom 06.03.1999 Vorschäden wie Aufrauungen, Oberarmkopfhochstand, Oberarmkopfglatze mit 2
cm Durchmesser nachweisbar. Dies sei ein - wenn auch schwaches - Indiz für einen nicht traumatischen
Rotatorenmanschettenriss. Auch der Unfallhergang spreche eher gegen einen traumatisch bedingten Riss. Es seien
zwei Arten des Sturzes zu unterscheiden, nämlich der Versuch des Festhaltens des Eimers, wobei es zu einer
plötzlichen Kraftentfaltung im Sinne einer planmäßigen Muskelkontraktion gekommen sei, die als ungeeigneter
Unfallhergang zu bewerten sei und der Sturz auf den Arm, nach dem schmerzbedingten Loslassen des Eimers, der
ebenfalls einen ungeeigneten Unfallmechanismus darstelle. Auch spreche die Schmerzsymptomatik eines
gleichbleibend starken Schmerzes und der von Dr.N. festgestellte schmerzhafte Bogen gegen einen traumatischen
Riss.
Der Senat hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.F. (M.) vom 23.11.2001/25.11.2003 und gemäß § 109
Sozialgerichtsgesetz auf Antrag der Klägerin des Orthopäden Dr.S. (Städt. Krankenhaus M.) vom 19.09.2003
eingeholt. Dr.F. hat im Gutachten nach Aktenlage ausgeführt, die Angaben der Klägerin, den Melkeimer in einer
Vorhalteposition getragen zu haben, seien für ihn nicht nachvollziehbar. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin
beim Wegrutschen versucht habe, durch eine willkürliche Muskelanspannung des rechten Armes die Position des
Eimers in senkrechter Stellung zu bewahren. Eine Zugbelastung der rechten Schulter vor dem eigentlichen
Anpralltrauma könne nicht abgelaufen sein. Auch seien röntgenologische und kernspintomographische
Degenerationshinweise vorhanden. Dr.S. hat ausgeführt, die Vorhalteposition in leichter Abspreizung und Elevation
mit maximaler Vorspannung der Supraspinatussehne und das ruckartige Wegrutschen mit plötzlicher passiver
Überdehnung der angespannten Rotatorenmanschette sei durchaus geeignet, eine extrem hohe Zugbelastung
auszulösen, welche die normale Reissfestigkeit der Sehnenplatte übersteige. Die Rissbildung sei hierdurch wesentlich
verursacht worden. Den Vorschaden stufte er unter Auswertung der vorliegenden Röntgenbefunde vom 06.03.1999
(Krankenhaus D.), vom 07.05.1999 (Dr.N.), vom 09.11.1999 (Dr. L.) und vom 30.11.2000 (Dr.P.) und seiner eigenen
vom 30.04.2003 als geringgradig ein. Die MdE schätzte er auf 30 v.H.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 04.04.2001 aufzuheben und die Klage gegen den
Bescheid vom 25.08.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2000 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 04.04.2001
zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten
erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Das SG hat mit Recht die Beklagte verurteilt, der Klägerin aus Anlass ihres Arbeitsunfalls vom 05.03.1999
Verletztenrente zu gewähren. Verletztenrente erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines
Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist (§
56 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - SGB - VII). Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle (§ 7 Abs.1 SGB VII).
Voraussetzung dafür, dass eine Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles anerkannt werden kann, ist, dass
zwischen der unfallbringenden versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsschädigung ein ursächlicher
Zusammenhang besteht. Hiervon kann nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre nur
dann ausgegangen werden, wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich die Entstehung oder
Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 38, 127, 129; Ricke, Kasseler Kommentar,§ 548
RVO Rdnr.9 ff. bzw. § 8 SGB VII Rdnr.4 ff.). Es ist also nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann,
ohne dass der Erfolg entfiele, als Ursache anzusehen, sondern nur diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu den
anderen einzelnen Bedingungen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung
zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Wenn mehrere Bedingungen gleichwertig oder annähernd
gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben, so ist jede von ihnen Ursache im Rechtssinne. Kommt dagegen einem
der Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, so ist er allein wesentliche Ursache im
Rechtssinne. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der "wesentlichen" Ursache in Wertbegriff ist. Die Frage, ob eine
Mitursache für den Erfolg wesentlich ist, beurteilt sich nach dem Wert, dem ihr die Auffassung des täglichen Lebens
gibt.
Im vorliegenden Fall führt diese Wertung dazu, dass die bei dem Unfall vom 05.03.1999 auf die rechte Schulter der
Klägerin einwirkende Kraft die wesentliche Ursache für die im Kernspintomogramm vom 31.05.1999 aufgedeckte
Rotatorenmanschettenruptur war. Aufgrund der Ausführungen des Dr.S. im Gutachten vom 19.09.2003 und des Dr.P.
im Gutachten vom 04.12.2000 ist der Senat der Überzeugung, dass von einem zweizeitigen Unfallhergang
auszugehen ist. Eine Auffassung, die sich im Übrigen auch der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörte
Orthopäde Dr.L. zu eigen gemacht hat. Nach den Angaben der Klägerin, die nicht widersprüchlich sind, sondern nur
aufgrund der umfangreicheren Befragung durch Dr.S. ausführlicher als beim Durchgangsarzt Dr.Z. und bei Dr.L. , hat
sie den birnenförmigen Melkeimer mit 40 bis 50 cm Durchmesser mit Schlauchsystem und einem Inhalt von 20 l
Milch in der rechten Hand gehalten, als sie ausrutschte. Durch die Breite des Melkeimers und den angeschlossenen
Luftschlauch war sie gezwungen, den Arm beim Tragen abzuspreizen. Beim Rutschvorgang, wobei die Klägerin aus
dem verständlichen Bestreben, die Milch nicht zu verschütten, den Eimer nicht sofort losgelassen hat, kam es dann
zu einer plötzlich massiven passiven Zugbelastung. Diese Belastung ist geeignet, einen Rotatorenmanschettenriss zu
verursachen. Geeignete Unfallmechanismen stellen plötzliche passive Bewegungen von muskulär fixierten Gelenken
dar (Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.502). Ein derartiger
Mechanismus bei der ersten Phase des Sturzes ist somit nachvollziehbar. Damit liegt ein geeigneter
Unfallmechanismus vor. In der zweiten Phase kam es zum Sturz auf die Schulter; dieser Sturz hat unstreitig (nur) zu
einer Prellung geführt. Auch die klinischen Befunde sprechen für einen ursächlichen Zusammenhang. So fand sich
beim Durchgangsarzt Dr.Z. ein Druckschmerz und eine deutliche schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit mit
Schmerzausstrahlung und Kribbeln in den Fingern. Auch der weitere Verlauf entspricht dem Verlauf, der bei einer
Rotatorenmanschettenverletzung angenommen werden kann, wie Dr.P. und Dr.S. übereinstimmend ausführen.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass ein Vorschaden am rechten Schultergelenk der Klägerin vorlag, der die
wesentliche Ursache für den Rotatorenmanschettenriss gewesen wäre. Auf den von Dr.S. ausgewerteten
Röntgenaufnahmen fanden sich geringe degenerative Veränderungen am Acromeon in Form einer Sklerosierung und
am Tuberculum major in Form von Konturunregelmäßigkeiten. Ein Humeruskopfstand bestand nicht, vielmehr betrug
der acromeohumerale Abstand, dessen Normalwert ein Abstand zwischen 7 und 14 mm ist, bei der Klägerin 9 mm
(Röntgenaufnahmen vom 06.03.1999 und 30.04.2003) bzw. 7 mm (Röntgenaufnahme vom 09.11.1999). Im Übrigen
weist Dr.S. darauf hin, dass eine Interpretation von Fremdaufnahmen nur bei exakter Kenntnis der Einstelltechnik des
Röntgenapparates und der Kippung möglich ist. Des Weiteren wurde auch keine Arthrose im eigentlichen
Schultergelenk, also zwischen Humeruskopf und Gelenkpfanne sowie im Acromioclaviculargelenk, festgestellt. Es
kann also nur davon ausgegangen werden, dass bei der Klägerin geringe degenerative Veränderungen am Acromeon
und am Tuberculum majus nachzuweisen sind, die jedoch als geringgradig einzustufen sind und nicht
notwendigerweise eine Degeneration der Rotatorenmanschette als Vorschaden beweisen.
Für den kausalen Zusammenhang sprechen im Übrigen das leere Vorerkrankungsverzeichnis, der Arztbesuch
innerhalb 24 Stunden mit Feststellung einer eingeschränkten Beweglichkeit mit Kraftverlust, der positive
Sonographiebefund sowie die spätere Bestätigung im Kernspintomogramm. Bei Abwägung der für und gegen einen
ursächlichen Zusammenhang sprechenden Umstände kommt der Senat somit zu der Überzeugung, dass wesentliche
Ursache für die bei der Klägerin bestehende Rotatorenmanschettenruptur der Unfall vom 05.03.1999 ist.
Der Auffassung des Dr.F. im Gutachten vom 23.11.2001/ 25.11.2003 vermochte der Senat nicht zu folgen. Er geht
davon aus, dass das Wegrutschen eine aktive planmäßige Muskelanspannung zur Folge hatte und beschreibt im
Übrigen deutliche Verschleißerscheinungen des rechten Schultergelenks. Im Gegensatz dazu halten die
Sachverständigen Dr.P. und Dr.S. eine plötzliche passive Traktion für gegeben, eine Auffassung, der der Senat im
Hinblick auf die eingehenden und überzeugenden Darlegungen des Dr.S. folgt. Nachdem Dr.F. Röntgenaufnahmen aus
dem Jahre 1999 nicht vorgelegen haben und er ein Gutachten nach Aktenlage erstellt hat, kommt seinen
Ausführungen zu einem etwaigen Vorschaden keine Bedeutung zu.
Nach allem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben. Sie ist unbegründet und daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG
nicht vorliegen.