Urteil des LSG Bayern vom 14.05.2003

LSG Bayern: grobe fahrlässigkeit, leichte fahrlässigkeit, anhörung, rücknahme, arbeitsentgelt, rechtswidrigkeit, missverhältnis, behörde, fehlerhaftigkeit, erlass

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 14.05.2003 (nicht rechtskräftig)
S 10 AL 48/98
Bayerisches Landessozialgericht L 10 AL 310/00
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.05.2000 aufgehoben und die
Klage abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die teilweise Rücknahme der Bewilligung und die Rückforderung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit
vom 21.02.1996 bis 20.02.1997.
Die am 1940 geborene Klägerin war bis 30.06.1993 bei der Fa. F. 18,5 Wochenstunden in der Montage beschäftigt
und bezog zuletzt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 1.616,14 DM. Danach erhielt sie Arbeitslosengeld
(Alg) bis 20.02.1996 nach einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 400,00 DM und einem wöchentlichen Leistungssatz
von 124,80 DM.
Auf Antrag wurde ihr mit Bescheid vom 29.02.1996 Anschluss-Alhi ab 21.02.1996 nach einem wöchentlichen
Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zunächst 1.590,00 DM mit einem wöchentlichen Leistungssatz von zunächst 262,20
DM gewährt. Mit Schreiben vom 27.02.1996 zur Erläuterung dieses Bescheides teilte die Beklagte ihr mit, wegen der
gesundheitlichen Leistungseinschränkungen sei das wöchentliche Arbeitsentgelt bei einer Arbeitszeit von 18,5
Wochenstunden auf gerundet 370 DM - ausgehend von einem tariflich erzielbaren monatlichen Arbeitsentgelt in Höhe
von 1.588,92 DM - festzusetzen.
Aufgrund eines Fortzahlungsantrages vom 28.01.1997 bemerkte die Beklagte das im Bescheid vom 29.02.1996 zu
hoch festgesetzte wöchentliche Arbeitsentgelt und hörte deshalb die Klägerin zu einer beabsichtigten Rücknahme und
Rückforderung der überzahlten Leistungen mit Schreiben vom 20.02.1997 an.
Ab 21.02.1997 erhielt die Klägerin Alhi lediglich nach einem Bemessungsentgelt von 400 DM in Höhe von 63,00 DM
wöchentlich.
Mit Bescheid vom 05.08.1997 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alhi aufgrund des Bescheides vom 29.02.1996
teilweise für die Zeit vom 21.02.1996 bis 20.02.1997 zurück. Die Klägerin habe erkennen können, dass ihr die
Leistung nicht in der bewilligten Höhe zugestanden habe. Die geleistete Alhi sei höher gewesen als das Alg und auch
als das zuletzt bezogene Nettoarbeitsentgelt. Die Beklagte forderte deshalb von der Klägerin zu Unrecht erhaltene
Leistungen in Höhe von 6.803,50 DM zurück. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom
05.01.1998); insbesondere nach Erhalt des Schreibens vom 27.02.1996 habe die Klägerin erkennen können, dass das
der Leistung zugrunde liegende wöchentliche Arbeitsentgelt zu hoch gewesen sei.
Mit der dagegen zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, aufgrund ihrer
Bildung und mangelnder Rechtskenntnisse habe sie auf die Berechnung der Beklagten vertraut, Überzahlungen
verbraucht und lebe derzeit in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen.
Mit Urteil vom 23.05.2000 hat das SG den Bescheid vom 05.08.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
05.01.1998 aufgehoben. Unabhängig davon, ob die Klägerin grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des
Bewilligungsbescheides nicht erkannt habe, habe die Beklagte den Bescheid nicht innerhalb der Einjahresfrist gemäß
§ 45 Abs 4 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben. Diese Frist habe im vorliegenden Fall mit
Fertigung des Schreibens vom 29.02.1996 begonnen, bereits damals sei die fehlerhafte Sachbearbeitung für die
Beklagte erkennbar gewesen und es haben zu diesem Zeitpunkt alle Erkenntnisse vorgelegen, die zur Rücknahme der
rechtswidrigen Bewilligung erforderlich gewesen seien. Einer Anhörung habe es wegen nicht erforderlicher
Ermessenserwägungen nicht bedurft.
Dagegen richtet sich die zum Bayer. Landessozialgericht erhobene Berufung der Beklagten. Die Jahresfrist gemäß §
45 Abs 4 Satz 2 SGB X beginne regelmäßig frühestens nach erfolgter Anhörung zu laufen und sei somit bei Erlass
des angefochtenen Bescheides noch nicht abgelaufen. Die Klägerin habe einfachste Überlegungen hinsichtlich der
Höhe der Leistungen nicht angestellt und damit grob fahrlässig gehandelt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 23.05.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, es liege allenfalls leichte Fahrlässigkeit vor,
dem Bewilligungsbescheid seien keine Anhaltspunkte zu entnehmen, aus denen mehr oder minder augenfällig auf
eine Fehlerhaftigkeit des Bescheides zu schließen wäre. Da die Richtigkeit amtlicher Mitteilungen aber für die Klägerin
seit jeher grundsätzlich außer Zweifel stehe, habe sie keine Veranlassung zu einer vergleichenden Prüfung von
Bewilligung und aufklärendem Schreiben vom 27.02.1996 gesehen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Sie ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid vom 05.08.1997 idG des Widerspruchsbescheides vom
05.01.1998 aufgehoben. Die Klägerin war bösgläubig iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X und die Rücknahme der
Bewilligung erfolgte innerhalb der Einjahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit stellt
§ 45 Abs 1, 4 SGB X dar.
Die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 29.02.1996 lag vor, denn die Beklagte hatte der Klägerin
unstreitig zu hohe Alhi gewährt. Sie ist von einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 1.590,00 DM statt von 370,00 DM
(so Schreiben vom 27.02.1996) ausgegangen.
Allerdings eröffnet § 45 Abs 4 SGB X die Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten für die
Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von dessen Tatbeständen kommt
vorliegend nur die Nr 3 in Betracht. Hiernach kann ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbs 2 SGB X).
Der Klägerin ist die positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides hier nicht nachzuweisen, so
dass allein zu prüfen ist, ob ihre Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der
Begünstigte schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet hat, was im
gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Das Maß der Fahrlässigkeit ist nach der persönlichen Urteils- und
Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen
(subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; vgl zum Ganzen: BayLSG vom 10.12.2001 - L 10 AL 93/99 - veröffentl. in Juris
mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der
Rechtsanwendung Anhaltspunkt für den Berechtigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu
erkennen (vgl zum Ganzen: BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Dafür ist aber Voraussetzung, dass sich die tatsächlichen
oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder aus anderen Umständen ergeben und für das
Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Das setzt zunächst voraus, dass der
Leistungsempfänger den Bewilligungsbescheid zur Kenntnis genommen hat. Eine Obliegenheit, Bescheide zu lesen,
besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist.
Die Klägerin, die zutreffende Angaben gemacht hat, war zwar nicht gehalten, den Bewilligungsbescheid des Näheren
auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen (BSG aaO). Der Antragsteller darf nämlich davon ausgehen, dass die Behörde
seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (BSG aaO; BVerwGE 92, 81, 84). Dies gilt nach der
Rechtsprechung des BSG auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt
werden, weil sonst Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen
Tatsachen aufgebürdet würde (BSG aaO).
Allerdings ist dem Leistungsempfänger grobe Fahrlässigkeit dann vorzuwerfen, wenn der Fehler ihm bei seinen
subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "ins Auge springt" (vgl BSG aaO). So ist es hier.
Aufgrund der Angaben im Bescheid vom 29.02.1996 springt es geradezu ins Auge, dass das darin angegebene
wöchentliche Bruttoarbeitsentgelt zu hoch war. Der dort angegebene wöchentliche Betrag (zunächst 1590,00 DM), der
nahezu dem letzten monatlichen Bruttoarbeitsentgelt entsprach, war beinahe viermal höher als das bisher der
Bewilligung von Alg zugrunde gelegte Arbeitsentgelt. Auch der Leistungssatz der Alhi war mehr als doppelt so hoch
wie der bisherige Leistungssatz des Alg. Dieses grobe Missverhältnis war offensichtlich. Rechtskenntnisse oder
anderweitige besondere Kenntnisse (z.B der Berechnungsvorschriften) der Klägerin waren nicht erforderlich, um
diesen Fehler zu erkennen, nachdem der Betrag von 1.590,00 DM als wöchentliches Bruttoarbeitsentgelt bezeichnet
wurde. Nicht herangezogen werden kann zur Begründung der groben Fahrlässigkeit hingegen das Schreiben vom
27.02.1996, denn dieses ist der Klägerin erst nach dem Bescheid vom 29.02.1996 bekanntgegeben worden, so dass
dann grobe Fahrlässigkeit nicht von Anfang an vorgelegen hätte.
Dafür, dass die persönliche Einsichtsfähigkeit der Klägerin in dieses Missverhältnis eingeschränkt sein könnte, finden
sich keine Anhaltspunkte, zumal die Fehlerhaftigkeit beim bloßen Lesen offensichtlich wird; irgendwelche gedankliche
oder rechnerische Erwägungen besonderer Art waren zum Erkennen des Missverhältnisses nicht erforderlich. Die
Klägerin hat somit grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht erkannt.
Gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X muss die Beklagte die Bewilligung innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der
Tatsachen aufheben, welche die Aufhebung des wegen wesentlicher Änderung rechtswidrig gewordenen
begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Für den Beginn der Jahresfrist maßgebliche
Kenntnis der Behörde setzt voraus, dass der zuständige Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung
erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Das verlangt jedenfalls Kenntnis des rechtserheblichen äußeren Sacherhalts
sowie darüber hinaus auch Kenntnis sog. innerer Tatsachen, sofern diese ebenfalls zu den normierten
Tatbestandsvoraussetzungen gehören (vgl BSG vom 25.04.2002 - B 11 AL 69/01 R - veröffentl. in Juris). Sowohl der
äußere Sachverhalt als auch die inneren Tatsachen waren der Beklagten erst nach Durchführung der Anhörung vom
20.02.1997 bekannt gewesen.
Nach der Rechtsprechung (BSG vom 06.03.1997 - 7 RAr 40/96 - veröffentl. in Juris, im Anschluss an BSGE 77, 295)
beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung zu laufen. So ist es hier, denn zur Prüfung des
Vorliegens grober Fahrlässigkeit ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Betroffenen, also auf Umstände
abzustellen, die sich nur in seltenen Fällen anhand objektiver Umstände beurteilen lassen. Zu diesen
entscheidungserheblichen Tatsachen muss dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (vgl
BSG aaO). Die Jahresfrist hat damit frühestens mit der Antwort auf die Anhörung (05.03.1997) zu laufen begonnen
und ist bei Erlass des Bescheides vom 05.08.1997 noch nicht abgelaufen. Ob die Anhörung selbst neue Erkenntnisse
erbracht hat, erlangt keine entscheidende Bedeutung.
Bei der Rücknahmeentscheidung hat die Beklagte kein Ermessen auszuüben, § 152 Abs 2 AFG.
Gemäß § 50 Abs 1 SGB X ist die Klägerin zur Erstattung der überzahlten Leistung verpflichtet.
Nachdem alle weiteren Voraussetzungen zur Rücknahme der Bewilligung für die Vergangenheit vorliegen (ua
Anhörung gemäß § 24 SGB X), ist der streitgegenständliche Bescheid vom 05.08.1997 idG des
Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 rechtmäßig und das Urteil des SG daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.