Urteil des LSG Bayern vom 21.04.2010

LSG Bayern: reaktive depression, psychische störung, rente, erwerbsfähigkeit, belastung, arbeitsmarkt, karpaltunnelsyndrom, bestrahlung, chemotherapie, icd

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 21.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Bayreuth S 11 R 554/06
Bayerisches Landessozialgericht L 19 R 378/07
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 03.04.2007 wird
zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1955 geborene Klägerin stellte am 09.03.2006 zum fünften Mal einen Antrag auf Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit.
Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt, zuletzt war sie von 1989 bis 2002 als Reinigungskraft versicherungspflichtig
beschäftigt, danach folgten Zeiten der Arbeitsunfähigkeit/Arbeitslosigkeit.
Die Beklagte beauftragte den Allgemeinmediziner und Sozialmediziner Dr.H. mit der Erstellung eines Gutachtens.
Dieser stellte am 10.05.2006 folgende Diagnosen: starkes Körperübergewicht mit Überlastung der tragenden
Skelettanteile, Beschwerden und Funktionsbehinderung der Lendenwirbelsäule, wiederkehrende Atemnotbeschwerden
bei hyperreagiblem Bronchialsystem, unbehandeltes Bluthochdruckleiden, Fehlstellung der Kniegelenke mit
beginnendem Verschleiß und Belastungsbeschwerden, Schwellneigung bd. Beine bei Venenschwäche, Tumorleiden
(Morbus Hodgkin in Heilbewährung), Schilddrüsenunterfunktion, medikamentös behandelt, Zungennervlähmung rechts
(Hypoglossuslähmung). Er gelangte zu dem Ergebnis, die Klägerin könne noch wenigstens sechs Stunden täglich mit
qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.
Mit Bescheid vom 15.05.2006 und Widerspruchsbescheid vom 14.07.2006 lehnte die Beklagte die Gewährung einer
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab.
Die am 28.08.2006 beim Sozialgericht (SG) Bayreuth eingegangene Klage hat die Klägerin unter Vorlage eines Attests
ihres behandelnden Internisten Dr.G. vom 24.08.2006 begründet. Das SG Bayreuth hat die medizinischen Unterlagen
beigezogen und ein Gutachten von dem Internisten Dr.K. eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 13.03.2007
folgende Diagnosen gestellt: chronisch obstruktive Bronchitis bei chronischem Nikotinabusus, sinubronchiales
Syndrom bei chronischer Sinusitis maximalis, Bluthochdruck und Adipositas, Wirbelsäulensyndrom bei degenerativen
Veränderungen und Osteopenie im gesamten Achsenskelett, intermittierende Lumbalgien, Schulterarmsyndrom
beidseits mit geringer Funktionseinschränkung, Gonarthrose beidseits mit geringer Funktionseinschränkung,
Carpaltunnelsyndrom beidseits ohne nennenswerte Funktionseinschränkung, Hypoglossusparese rechts bei Zustand
nach OP und Radiochemotherapie 1999 bei Morbus Hodgkin, chronisch venöse Insuffizienz. Die Klägerin könne auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch wenigstens sechs Stunden täglich mit qualitativen Einschränkungen tätig sein.
Mit Gutachten vom gleichen Tag hat der Neurologe Dr.L. folgende Diagnosen gestellt: lumbales Schmerzsyndrom bei
degenerativen Veränderungen ohne radikuläre Ausfallerscheinungen, Morbus Hodgkin mit kompletter Remission nach
Chemotherapie und Radiato Hypoglossusparese rechts, Varikosis beidseits, Karpaltunnelsyndrom beidseits, Katarakt
beidseits, Adipositas, chronische obstruktive Atemwegserkrankung, Gonarthrose bds. Die Klägerin könne noch
wenigstens sechs Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen Einschränkungen
verrichten.
Mit Gerichtsbescheid vom 03.04.2007 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach den Gutachten von Dr.K. und Dr.L.
könne die Klägerin noch wenigstens sechs Stunden täglich körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder
Körperhaltung, ohne schweres Heben und Tragen, ohne einseitig belastendeTätigkeiten und ohne besondere
Anforderungen an die Gebrauchsfähigkeit der Hände sowie ohne Einwirkung von Nässe, Kälte, Zugluft und
atemreizenden Stoffen verrichten. Ein Berufsschutz iS des § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) bestehe
nicht.
Zur Begründung der beim Bayer. Landessozialgericht erhobenen Berufung hat die Klägerin vorgebracht, bei ihr
bestehe eine reaktive Depression, die eine Erwerbsfähigkeit schon ausschließe.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte für die Zeit ab 2007 von dem die Klägerin behandelnden Lungenarzt Dr D.,
Orthopäden Dr.E., und den die Klägerin behandelnden Allgemeinarzt Dr.C. eingeholt und den Psychiater und
Neurologen Dr.F. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dr.F. hat in seinem Gutachten vom 04.01.2010
folgende Diagnosen gestellt: chronisch-obstuktive Bronchitis, degeneratives Wirbelsäulensyndrom ohne radikuläre
Symptomatik, Karpaltunnelsyndrom beidseits ohne relevante Ausfallssymptome, leichte Hörminderung beidseits,
Dissoziative Störung (ICD-10: F44.0), Z.n. M. Hodgkin 1996 mit damaliger Bestrahlung und Chemotherapie, arterielle
Hypertonie, Hypoglossusparese rechts. Die Klägerin könne noch wenigstens sechs Stunden täglich leichte und
gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Sitzen sowie in wechselnder Stellung verrichten. Zu vermeiden
seien Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen und mit besonderer
Belastung des Bewegungs- und Stützsystems.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des SG Bayreuth vom 03.04.2007 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 15.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.07.2006 aufzuheben und Beklagte zu verurteilen,
der Klägerin auf ihren Antrag vom 09.03.2006 die gesetzlichen Leistungen einer Rente wegen Erwerbsminderung zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung
mitgeteilt.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten erster und
zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, aber nicht
begründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin weder einen Anspruch auf Rente wegen voller oder
teilweiser Erwerbsminderung noch wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit hat, denn die Klägerin
kann noch wenigstens sechs Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen
Einschränkungen verrichten und ein Berufsschutz besteht nicht.
Gemäß § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen
teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der
Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt
der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit
außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden
täglich erwerbstätig zu sein. Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben gemäß § 43 Abs 2
SGB VI Versicherte, die auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Die Klägerin ist noch in der Lage, wenigstens sechs Stunden täglich leichte und gelegentlich mittelschwere
Tätigkeiten überwiegend im Sitzen sowie in wechselnder Stellung zu verrichten. Zu vermeiden sind Tätigkeiten mit
besonderer nervlicher Belastung, an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen, besonderer Belastung des Bewegungs- und
Stützsystems. Besondere Anforderungen an die Gebrauchsfähigkeit der Hände können nicht gestellt werden, zu
vermeiden sind Einwirkungen von Nässe, Kälte, Zugluft und atemreizenden Stoffen.
Zur Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin stützt sich der Senat sowohl auf die Feststellungen
des Sachverständigen Dr. F. sowie der vom SG als Sachverständigen gehörten Dr.K. und Dr.L ...
Eingeschränkt ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Wesentlichen durch eine chronisch-obstuktive Bronchitis, ein
degeneratives Wirbelsäulensyndrom ohne radikuläre Symptomatik, Karpaltunnelsyndrom beidseits ohne relevante
Ausfallssymptome, leichte Hörminderung beidseits, eine dissoziative Störung (ICD-10: F44.0), Z.n. M. Hodgkin 1996
mit damaliger Bestrahlung und Chemotherapie, arterielle Hypertonie, Hypoglossusparese rechts. Die
Funktionseinschränkungen bedingen jedoch keine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens sondern ergeben
die o.g. qualitativen Einschränkungen.
Die Gutachten der Sachverständigen sind schlüssig und nachvollziehbar. Sie wurden unter Berücksichtigung der bei
der Klägerin erhobenen Befunde und Beschwerden der Klägerin erstellt. Insbesondere hat Dr.F. die Parese des
Nervus Hypoglossus rechts sozialmedizinisch gewürdigt. Er führt dazu aus, es handele sich dabei um eine
Schädigung des die Zungenmuskulatur versorgenden Hirnnerven rechts. Durch ungleiche Innervation der
Zungenmuskulatur komme es zu einem Abweichen der Zunge bei Herausstrecken nach rechts. Dieser Befund sei
erstmals 2004 durch Dr.K. beschrieben worden. Die daraufhin erfolgte weiterführende Diagnostik habe in der
Bildgebung keine relevanten Befunde gezeigt. Es sei davon auszugehen, dass es im Rahmen der damaligen
Bestrahlungsbehandlung der rechten Hals- und Mundbodenregion zu einer Schädigung des Nervens gekommen sei. In
dieser Region sei auch die Entfernung eines Lymphknotens erfolgt, so dass möglicherweise auch eine mechanische
Irritation ursächlich sein könne. Bei der aktuellen Untersuchung habe auch der Aspekt einer leichten
Mundastschwäche bestanden, so dass insgesamt die Folge einer Bestrahlung wahrscheinlicher sei. Es handele sich
zwar um einen klinisch auffälligen Befund, der für die Frage der Erwerbsfähigkeit aber nur geringe Bedeutung habe.
Eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit resultiere daraus nicht. Ebenso liegt eine gravierende psychische Störung,
besondere manifeste depressive Störung bei der Klägerin nicht vor. Dr. F. erläutert, zwar seien in den standardisierten
Befunderhebungsbögen erhöhte Depressionsscores zur Darstellung gekommen. Klinisch korreliere dies jedoch nicht
mit einer manifesten ICD-relevanten Diagnose.
Eine Summierung von Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nicht vor.
Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI besteht
ebenfalls nicht. Die Klägerin hat keine Ausbildung absolviert, ein Berufsschutz steht insofern nicht zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.