Urteil des LSG Bayern vom 05.09.2007

LSG Bayern: gegen die guten sitten, klagerücknahme, nebenkosten, prozesshandlung, hauptsache, täuschung, irrtum, anschluss, drohung, zivilprozessordnung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 05.09.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 2 KR 564/06 LW
Bayerisches Landessozialgericht L 4 KR 177/07
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 20. Juni 2006 wird
zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Übernahme der Kosten für Betriebshilfen in der Zeit vom 30.11. bis 28.12.1999 (2.290,58 Euro). Der
1938 geborene Kläger ist von Beruf Landwirt.
Er hatte in der Zeit von 1995 bis 1997 zum Schein mit einer damaligen Bekannten einen Pachtvertrag über seine
landwirtschaftlichen Grundstücke geschlossen und von der Pächterin Pachtzins, verauslagte Betriebshelferkosten,
Lohn für eigene Dienstleistungen in Höhe von circa 430.000,00 DM gefordert. Im Rahmen eines Klageverfahrens
gegen die frühere Pächterin beantragte er Prozesskostenhilfe; das Amtsgericht T.-Landwirtschaftsgericht legte die
Angelegenheit der Staatsanwaltschaft T. wegen Verdachts des versuchten Betrugs vor. Das Amtsgericht T.
verhängte mit Urteil vom 22. März 2004 gegen ihn wegen versuchten Betrugs in einem besonders schweren Fall eine
Freiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten. Auf die Berufung des Klägers und der Staatsanwaltschaft gegen
dieses Urteil verwarf das Landgericht T. mit Urteil vom 2. August 2004 seine Berufung mit der Maßgabe, dass die
Freiheitsstrafe ein Jahr und drei Monate beträgt. Die dagegen vom Kläger eingelegte Revision wurde mit Beschluss
des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 23. März 2005 als unbegründet verworfen.
Der Kläger hat am 30.11.2004 Klage beim Sozialgericht München (SG) auf Zahlung von 2.290,58 Euro für
Betriebshilfe erhoben. Das SG hat die vor Beginn des strafgerichtlichen Verfahrens erhobenen Klagen im April 2003
ausgesetzt und, nachdem das Amtsgericht T. und das Landgericht T. den Kläger wegen versuchten Betrugs zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt hatten, die Verfahren im April 2006 unter Vergabe neuer Aktenzeichen aufgenommen.
In der Verhandlung am 27. April 2006, zu der der Kläger mit seiner damaligen Prozessbevollmächtigten erschienen
ist, hat der Kläger nach Rücksprache mit seiner Bevollmächtigten die im Protokoll näher bezeichneten Streitsachen
zurückgenommen. Hierzu hat die Klägerbevollmächtigte erläutert, dass sie die Klagen, für die keine wirksame
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verspätet eingereicht wurden,
zurückgenommen werden, ebenso die Klagen für die keine Verwaltungsentscheidung, eine bindende Entscheidung der
Verwaltung vorliegt und somit kein Vorverfahren durchgeführt worden ist. Ferner hat der Kläger davon abgesehen, mit
vermeintlichen Betriebshelfer-Ansprüchen gegen Beiträge der Beklagten aufzurechnen. Die Rücknahmen sind den
Beteiligten vorgelesen und von der Klägerbevollmächtigten ausdrücklich mit Zustimmung des Klägers genehmigt
worden. Der Hinweis des Vorsitzenden der Kammer, die Beitragsangelegenheit (Beitragsforderung 46.000,00 Euro,
Säumniszuschläge und sonstige Nebenkosten 20.000,00 Euro) gütlich zu regeln, ist von den Beteiligten zur Kenntnis
genommen worden. Sein Vergleichsvorschlag über eine ratenweisen Tilgung der Beiträge von 1997 bis 27. April 2006
sowie über einen gegenseitigen Forderungsverzicht (Säumniszuschläge, Zinsen und Betriebshelferkosten) ist vom
Kläger gebilligt, von der Beklagten abgelehnt worden. Die Verhandlung hat zwei Stunden und 10 Minuten gedauert.
Der Kläger hat am 23. Mai 2006 die Klagerücknahme widerrufen, er sei vom Gericht bedroht worden.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 20. Juni 2006 festgestellt, dass die Rechtsstreitigkeiten, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung vom 27. April 2006 gewesen sind, durch Rücknahme erledigt sind.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 29. Juni 2006; er sei in der mündlichen Verhandlung vor dem SG
arglistig getäuscht und bedroht worden. Er habe nur die Doppelklagen zurücknehmen wollen, nicht aber die übrigen
Verfahren. Die Anfechtung sei sofort erfolgt. Mit Schreiben vom 27. Januar 2007 hat er noch vorgebracht, er sei bei
der mündlichen Verhandlung am 27. April 2006 verhandlungsunfähig gewesen, während der Haft sei er geschlagen
worden. Er beantrage die Auszahlung der geltendgemachten Betriebshelferkosten.
Die Beklagte hat demgegenüber ausgeführt, das Gericht habe in der mündlichen Verhandlung keinen Druck auf den
Kläger ausgeübt. Die Klagerücknahmen seien, wie im Protokoll vermerkt, dem Kläger vorgelesen und von ihm
genehmigt worden. Es fehle auch an einem Wiederaufnahmegrund.
Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 20.06.2006 aufzuheben und
festzustellen, dass die anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht durch Klagerücknahme erledigt worden sind sowie die
Kosten für Betriebshilfen im geltend gemachten Umfang zu erstatten.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG.
Auf den Inhalt der beigezogenen Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143,151 Sozialgerichtsgesetz - SGG), aber
unbegründet.
Zu Recht hat das SG mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 20. Juni 2006 festgestellt, dass die zu Grunde
liegenden Streitsachen in der mündlichen Verhandlung am 27. April 2006 durch die Erklärung der Klagerücknahme der
Prozessbevollmächtigten des Klägers in der Hauptsache erledigt worden ist (§ 102 SGG). Nach dieser gesetzlichen
Vorschrift kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen; die Klagerücknahme erledigt den
Rechtsstreit in der Hauptsache.
Es bestehen keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der Klagerücknahmen. Der Kläger selbst hat mit Schreiben vom
20. November 2006 gegenüber dem Senat eingeräumt, dass er die die "Doppelklagen" betreffenden Verfahren
zurückgenommen hat. Hiervon sind nahezu 2/3 der Verfahren betroffen. Das SG hat die Erklärung der
Prozessbevollmächtigten in die Sitzungsniederschrift aufgenommen. Die Erklärung ist in der mündlichen Verhandlung
vorgelesen und von der Prozessbevollmächtigten des Klägers genehmigt worden. Hierbei ist unschädlich, dass das
SG zum Teil die Aktenzeichen der Verfahren verwendet hat, die bereits auf andere Art und Weise erledigt worden sind
und nicht die Aktenzeichen der aktuellen Verfahren. Denn die Rücknahme betrifft ein Verfahren als solches und nicht
dessen Aktenzeichen. Mit der Aufnahme der Verfahren im Anschluss an den Aussetzungsbeschluss sind zwar
jeweils neue Aktenzeichen vergeben worden, diese haben jedoch das Verfahren insgesamt betroffen. Das neu
aufgenommene Verfahren wird hierbei nur mit einem anderen Aktenzeichen versehen. Aufgrund der beigezogenen
Akten, die die auf andere Art und Weise erledigten Klagen betreffen, hat der Senat jeweils festgestellt, dass mit den
Klagerücknahmen die Verfahren als solche erledigt worden sind.
Für die Behauptung des Klägers, er sei in der mündlichen Verhandlung vor dem SG nicht verhandlungsfähig gewesen,
gibt es keinerlei Beleg. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Erklärungen der Klagerücknahme von der
Prozessbevollmächtigten des Klägers abgegeben worden und bereits deshalb wirksam sind.
Als Prozesshandlung kann die Klagerücknahme grundsätzlich nicht widerrufen und nicht angefochten werden. Es ist
daher unerheblich, ob eine Prozesshandlung nur zum Schein vorgenommen worden ist, ob Irrtum, Täuschung,
Drohung oder ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegen. Abgesehen davon gibt es nicht den geringsten Hinweis
dafür, dass das SG den Kläger getäuscht oder bedroht hätte. Im Gegenteil ist in diesem Zusammenhang
festzustellen, dass das SG versucht hat, den Gesamtkomplex der zahlreichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Kläger
und Beklagten, die die Ansprüche auf Betriebshilfe und die Beitragsansprüche betreffen, im Wege eines Vergleichs
mit Verzicht auf Säumniszuschläge und Nebenkosten durch die Beklagte und der Möglichkeit einer ratenweisen
Zahlung durch den Kläger zu bereinigen. Diesem Vergleich hatte der Kläger zugestimmt, aber nicht die Beklagte.
Prozesshandlungen können grundsätzlich nur unter engen Voraussetzungen widerrufen werden, wenn die Gründe für
eine Restitutionsklage (§ 202 SGG i.V.m. § 580 Zivilprozessordnung) gegeben sind. Dies ist zu verneinen;
insbesondere gibt es auch hier keinen Hinweis für eine Amtspflichtverletzung des SG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 2).