Urteil des LSG Bayern vom 15.09.2005

LSG Bayern: Az.: S 8 R 641/03, aufschiebende wirkung, multiple sklerose, versicherungsträger, aussetzung, erlass, belastung, toilette

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 15.09.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 8 R 641/03
Bayerisches Landessozialgericht L 20 R 482/05 ER
I. Die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 06.04.2005 - Az.: S 8 R 641/03 - wird bis zur
Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt (§ 199 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat mit Urteil vom 06.04.2005 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Rente
wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab 01.12.2003 bis 30.11.2006 zu gewähren. Das SG stützt seine
Entscheidung in erster Linie auf die von ihm bei dem Neurologen Dr.K. und dem Internisten Dr.S. eingeholten
Gutachten. Obwohl diese Sachverständigen die Klägerin noch für fähig erachteten, leichte Arbeiten mehr als sechs
Stunden täglich zu verrichten, kam das SG zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit der ihr verbliebenen körperlichen
Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage sei, zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
erwerbstätig zu sein. Die Klägerin, bei der eine Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) festgestellt worden
sei, habe bei vernünftiger Betrachtung mit ihrem eingeschränkten Leistungsvermögen keine reelle Chance, einen
Arbeitsplatz zu erhalten. Die attestierten Funktionseinschränkungen, die Tätigkeiten mit häufigem Heben, Tragen oder
Bewegen von Lasten über 6 Kilogramm und Tätigkeiten mit Absturzgefahr und erhöhter Unfallgefahr ausschlössen
sowie Tätigkeiten mit Anforderungen von guter Feingeschicklichkeit der Hände, führten ebenso wie die Notwendigkeit
von unvorhersehbaren Arbeitsunterbrechungen zu einer wesentlichen Benachteiligung gegenüber von Mitbewerbern
um einen Arbeitsplatz.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil am 27.05.2005 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie mit Schriftsatz vom
27.06.2005 vorträgt, die allein aufgrund der Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit beider Hände sowie der
Notwendigkeit, eine Tätigkeit wegen Sehstörungen unterbrechen zu können und jederzeit eine Toilette erreichen zu
können, getroffene Entscheidung des SG könne nicht schlüssig nachvollzogen werden. Diese Beeinträchtigungen
rechtfertigten nicht die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, da eine schwere spezifische
Leistungsbehinderung damit nicht verbunden sei.
Mit der am 05.07.2005 bei Gericht eingegangenen Berufungsbegründung beantragt die Beklagte auch, die
Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil auszusetzen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, den
Antrag der Beklagten zurückzuweisen. Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des SG bestünden
nicht.
Nach § 154 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es
sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine
aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit nach Erlass des Urteils ein, wenn ein
Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Versicherten eine Rente zu zahlen. Der Versicherungsträger ist daher
verpflichtet, die sog. "Urteilsrente" einzuweisen, die der Versicherte aber wieder zu erstatten hat, wenn das Urteil des
Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.
Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des
Landessozialgerichts gemäß § 199 Abs 2 SGG durch einstweilige Anordnung die Voll- streckung aus dem Urteil
aussetzen - soweit die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) soll eine Aussetzung allerdings nur dann erfolgen, wenn das
Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (BSG 12, 138; 33, 118, 121). Nach der herrschenden Meinung in
Literatur und Rechtsprechung ist der Auffassung des BSG nicht uneingeschärnkt zu folgen und eine Aussetzung der
Vollstreckung auch dann anzuordnen, wenn es nur überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Leistungsträger mit
seinem Rechtsmittel jedenfalls in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird (s. Niesel, Der Sozialgerichtsprozess,
4.Aufl, Rdnr 400; Meyer-Ladewig, SGG, 7.Auflage, § 199 Rdnrn 8 und 8a mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob in der
Zwischenzeit geleistete Beträge nach Aufhebung des Urteils dann eingetrieben werden können. Das Interesse des
Leistungsträgers an der Rüccerstattung der Leistung ist umso höher zu bewerten, je größer die Erfolgsaussichten der
Berufung des Leistungsträgers einzuschätzen sind. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass insbesondere dann,
wenn in absehbarer Zeit ein Anspruch auf Altersrente entsteht, der Versicherungsträger nach § 51 Abs 2 SGB I
aufrechnen kann bzw. sonst nach § 52 SGB I eventuell einen anderen Leistungsträger mit der Verrechnung
beauftragen kann.
Vorliegend überwiegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Beklagte mit ihrem Rechtsmittel jedenfalls in wesentlichem
Umfang Erfolg haben wird. Nach den Feststellungen der vom SG gehörten Gutachter Dr.K. und Dr.S. kann die
Klägerin mehr als sechs Stunden täglich zumindest leichte Arbeiten in wechselnder Stellung in geschlossenen
Räumen verrichten. Dabei müssen Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung, Tätigkeiten an unfallgefährdeten
Arbeitsplätzen, Tätigkeiten mit besonderer Belastung des Bewegungs- und Stützsystems und Tätigkeiten unter
ungünstigen äußeren Bedingungen vermieden werden. Zudem ist die Gebrauchsfähigkeit beider Hände eingeschränkt,
da keine besonderen Anforderungen an die Feinmotorik der Hände gestellt werden dürfen. Es sollte zudem die
Möglichkeit bestehen, zeitweise für 15-20 Minuten eine Tätigkeit bei Sehstörungen zu unterbrechen. Eine Toilette
sollte jederzeit gut erreichbar sein.
Gemäß § 43 Abs 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu
berücksichtigen. Das SG sieht die Klägerin wegen der Auswirkungen der bei ihr festgestellten Gesundheitsstörungen
nicht mehr in der Lage, zu den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Nach der ständigen
Rechtsprechung des BSG lässt das Leistungsvermögen eines Versicherten eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes möglicherweise dann nicht zu, wenn wegen der Summierung
ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. wegen schwerer spezifischer Leistungsbehinderung keine
Arbeitsstellen zur Verfügung stehen. In solchen Fällen muss der Leistungsträger konkret einen geeigneten
Arbeitsplatz benennen. Die bei der Klägerin vorliegenden Leistungsstörungen scheinen auch in ihrer Kombination
keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen darzustellen und die von Dr.S. geforderte Möglichkeit,
zeitweise für etwa 15-20 Minuten eine Tätigkeit bei Sehstörungen zu unterbrechen, kann nicht als so schwere
spezifische Leistungsbehinderung eingestuft werden, dass deshalb unter den üblichen Bedingungen des
Arbeitsmarktes keine Erwerbstätigkeit möglich wäre. Eine endgültige Beurteilung des Leistungsvermögens der
Klägerin ist jedoch erst nach Durchführung weiterer Ermittlungen durch den Senat möglich.
Unter diesen Umständen besteht unter Abwägung einerseits des Interesses der Klägerin an der Vollstreckung des
Urteils und andererseits des Interesses der Beklagten daran, vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage nicht leisten
zu müssen, Anlass, die Vollstreckung aus dem mit der Berufung angefochtenen Urteil des SG Würzburg
auszusetzen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs 4 SGG.
Diese Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs.2 Satz 3 SGG).