Urteil des LSG Bayern vom 23.03.2004

LSG Bayern: wiedereinsetzung in den vorigen stand, verschulden, fristversäumnis, beschwerdeschrift, brief, computer, firma, prüfungspflicht, rechtsweggarantie, auflage

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.03.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 4 SF 5003/99 P
Bayerisches Landessozialgericht L 5 KR 62/03
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 8. November 2002 wird
zurückgewiesen. I. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen eine Beitragsnachforderung sowie Säumniszuschläge aufgrund einer Betriebsprüfung
der Beklagten.
Mit Bescheid vom 18.09.1998 machte die Beklagte eine Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen über DM
48.661,99 zuzüg- lich Säumniszuschlägen von DM 15.632,00 aufgrund einer Betriebsprüfung bei der Klägerin für den
Zeitraum 01.01.1994 bis 31.07. 1997 geltend. Der Bescheid wurde der Klägerin gemäß Einschreiben/ Rückschein am
21.09.1998 zugestellt. Er enthielt die Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen ihn innerhalb eines Monats nach
Zustellung Widerspruch erhoben werden könne.
Mit Übergabe-Einschreiben vom 20.10.1998 beschwerte sich die Geschäftsführerin der Klägerin M. M. unter ihrem
Namen über die Vorgehensweise der Beklagten im Falle der Klägerin sowie der Firma Computer M ...
Mit Fax vom 27.11.1998 legte die Bevollmächtigte der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid ein und beantragte
zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, die Widerspruchsfrist sei ohne Verschulden
versäumt worden. Die Geschäftsführerin M. habe ihrem Bruder J. M. während dessen Besuchs vom 07. bis
11.10.1998 von ihren Problemen mit der Beklagten berichtet. Sie habe erklärt, sie wolle erst einmal selbst
Widerspruch einlegen und sich dann anwaltlich beraten lassen. Ihr Bruder habe die von ihr gefertigten
Widerspruchsschreiben in frankierten Umschlägen zum Briefeinwurf mitgenommen, jedoch absprachenwidrig in das
Ablagefach seines Pkw gelegt und dort vergessen. Am Abend des Übergabetages habe die Geschäftsführerin ihren
Bruder noch angerufen und nach dem Einwurf des Briefes gefragt. Um diese nicht zu beunruhigen, habe Herr M.
unzutreffenderweise den Einwurf bejaht und sich die Nachholung für den nächsten Tag fest vorgenommen. Dazu sei
es aber nicht mehr gekommen. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung vom 27.11.1998 des J. M. legte die
Klägerbevollmächtigte dem Wiedereinsetzungsgesuch bei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.12.1998 wies die Beklagte den Widerspruch wegen Fristversäumnis als unzulässig
zurück. Sie gewährte keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand mit der Begründung, die Klägerin müsse sich
das Verschulden des Bruders der Geschäftsführerin zurechnen lassen. Außerdem habe die Geschäftsführerin
persönlich unter dem 20.10.1998 ein Beschwerdeschreiben an die Beklagte gesandt, in welchem sie sich gegen die
Vorgehensweise im Rahmen der Betriebsprüfung gewandt hatte. Dort sei die Einlegung eines Widerspruches nicht
erwähnt worden.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Landshut hat die Klägerin beantragt, den Bescheid der
Beklagten vom 18.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.12.1998 aufzuheben. Sie hat geltend
gemacht, die Klägerin habe ohne Verschulden die Widerspruchsfrist versäumt, weil sie dem Bruder der
Geschäftsführerin rechtzeitig ein Widerspruchsschreiben übergeben habe. Dieser habe ihr auf Nachfrage den
Posteinwurf des Schreibens bestätigt. Unverzüglich nachdem sie am 24.11.1998 von der Nichteinlegung des
Widerspruches erfahren habe, habe ihre Bevollmächtigte Widerspruch eingelegt. Der als Bote ausgewählte Bruder der
Geschäftsführerin sei als langjähriger Immobilienkaufmann und Bauunternehmer geübt in der Handhabung
geschäftlicher Angelegenheiten gewesen, so dass sie nicht damit habe rechnen müssen, dass dieser den Brief nicht
einwerfen und auf Nachfrage wahrheitswidrig den Einwurf angeben würde.
Mit Urteil vom 08.11.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die
Beklagte habe den Widerspruch der Klägerin zu Recht wegen Versäumnis der Widerspruchsfrist zurückgewiesen. Sie
habe auch zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt, weil eine schuldhafte Fristversäumnis
vorliege. Der Bruder der Geschäftsführerin habe schuldhaft den Posteinwurf der Widerspruchsschreiben versäumt,
zumal ihm anlässlich der Nachfrage, ob er die Schreiben eingeworfen habe, deren besondere Bedeutung hätte ins
Auge springen müssen. Seine unzutreffende Antwort und sein nachfolgendes Verhalten belegten deutlich, dass er
unzuverlässig gewesen sei. Hieraus sei zu schließen, dass er entweder in wichtigen Dingen grundsätzlich nicht die
erforderliche Genauigkeit und Zuverlässigkeit besessen habe, so dass die Klägerin sich ihn nicht hätte als Boten
aussuchen, oder dass sie sich nicht auf eine nur telefonische Nachfrage hätte verlassen dürfen.
Dagegen hat die Klägerin am 12.03.2003 Berufung eingelegt, die sie mit Schriftsätzen vom 22. und 23.03.2004 unter
anderem damit begründet hat, die Verfristungen seien leider aus ständiger Überforderung der Geschäftsführerin
passiert.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 08.11.2002 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 18.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.12.1998 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Landshut vom 08.11.2002
zurückzuweisen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Verwaltungsakten der Beklagten, die
Widerspruchsakten sowie die Akten des Sozialgerichts Landshut S 4 SF 5083/02 P, S 4 SF 5084/02 P-ER und S 4
SF 5001/00 P-ER. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat die Beklagte den Widerspruch der Klägerin vom 27.11.1998
gegen den Bescheid vom 18.09.1998 als verfristet zurückgewiesen. Diese Entscheidung hat das Sozialgericht
Landshut mit Urteil vom 08.11.2002 zu Recht bestätigt.
Der streitige Bescheid vom 18.09.1998 war der Klägerin gemäß Einschreibe-Rückschein vom 21.09.1998 an diesem
Tag formgerecht zugestellt worden (§ 65 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -). Er enthielt auch eine
zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung der Erhebung eines Widerspruchs binnen Monatsfrist (§§ 66, 84 Sozialgerichts -
SGG -; vgl. auch § 36 SGB X). Diese Frist war bei Eingang des Widerspruchs bei der Beklagten am 27.11.1998
bereits abgelaufen, § 64 SGG (vgl. auch § 26 SGB X).
Die Zurückweisung dieses Widerspruches als verfristet durch Widerspruchsbescheid vom 27.11.1998 ist zu Recht
ergangen, weil der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Widerspruchsfrist
nicht zu gewähren war (§ 64 SGG; vgl. auch § 27 SGB X). Denn die Klägerin hat schuldhaft die Frist versäumt.
Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, ist als Maßstab für die Verschuldensfrage diejenige Sorgfalt heranzuziehen,
die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen des Einzelfalles nach allgemeiner
Verkehrsanschauung zuzumuten ist. Weil § 67 SGG die Rechtsweggarantie oder das rechtliche Gehör wahrt, dürfen
keine überspitzten Anforderungen daran gestellt werden, welche Vorkehrungen der Betroffene gegen drohende
Fristversäumung treffen muss (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar 7. Auflage, § 67 Rdnr.3b m.w.N.). Dabei kann
die zumutbare Sorgfalt bei rechtskundigen und geschäftsgewandten Personen größer als bei anderen angesetzt
werden (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr.3d). Die Klägerin ist gemäß § 13 Abs.3 GmbH-Gesetz i.V.m. §§ 6 Abs.1, 1
Abs.1 und § 6 Abs.2 Handelsgesetzbuch Vollkaufmann. Sie trifft deshalb im Rechtsverkehr die gesteigerte Sorgfalt-
und Prüfungspflicht, die das Handels- und Gesellschaftsrecht einer GmbH zuweisen. Zur Überzeugung des Senats
ergibt sich aus dem gesamten Inhalt der Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrensakten sowie insbesondere aus
dem eigenen Vorbringen der Klägerin, dass sie diesem Sorgfaltsmaßstab nicht Genüge geleistet hat.
Die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Fristversäumnis auf ständiger Überforderung der
Geschäftsführerin M. beruhe. Denn bei einer ständigen Überforderung besteht eine Verpflichtung, dieser mit
geeigneten Maßnahmen entgegenzuwirken, um den Überforderungszustand zu beseitigen. Denn aus Überforderung
entstehen naturgemäß und zwangsläufig Fehler, insbesondere auch in Form von Terminsversehen und
Fristversäumnissen. Die Teilnahme am Rechtsverkehr erfordert es aber, erkannte Fehlerquellen, wie insbesondere
eine dauerhafte Überforderung, zu beseitigen. Die entsprechenden Maßnahmen wären der Klägerin auch zumutbar
gewesen, so dass ihr wegen der geltend gemachten Überforderung ein Organisationsverschulden entgegengehalten
werden muss.
Die Klägerin kann auch nicht den Verschuldensvorwurf auf den als Boten eingesetzten Bruder der Geschäftsführerin
M. abwälzen. Denn sie hatte zur Einlegung des Widerspruchs nach ihren eigenen Angaben den Weg des einfachen
Briefes, den sie nicht selbst eingeworfen hat, gewählt. Dieses Vorgehen ist fehlerhaft. Zwar durfte die Klägerin -
entgegen den Ausführungen des SG - den ihr als verlässlich bekannten Bruder als Boten auswählen, denn seine
Unzuverlässigkeit war erst im späteren Verlauf zu Tage getreten. Ein gewissenhaft Widerspruchführender hätte sich
aber in der Situation der Widerspruchsübermittlung durch einfachen Brief sowie des nicht persönlichen Briefeinwurfes
der Risiken dieses Übermittlungsweges bewusst sein müssen. Zu rechnen ist insoweit nämlich mit der Möglichkeit
des Briefverlustes durch den Boten - wie hier - sowie auf dem Postwege. Wenn auch beide Möglichkeiten nach den
Besonderheiten des streitigen Falles nicht überwiegend wahrscheinlich gewesen waren, wären sie jedoch Anlass
gewesen, bei einem Schreiben wie der Beschwerdeschrift der Geschäftsführerin M. vom 20.10.1998 - also innerhalb
der noch laufenden Widerspruchsfrist -, welches zudem per Übergabe-Einschreiben zugestellt wurde, vorsorglich
nochmals Widerspruch einzulegen oder auf den bereits eingelegten Widerspruch hinzuweisen. Beides hat die
Geschäftsführerin M. nicht getan, obgleich es ihr unter Berücksichtigung aller Umstände ohne weiteres möglich und
zumutbar und insbesondere mit nur ganz geringem Aufwand verbunden gewesen wäre. Dieses Nichteinhalten einer
Sorgfaltspflicht durch die Geschäftsführerin trifft die Klägerin, so dass fehlendes Verschulden nicht anzunehmen und
Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nicht zu gewähren ist.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Beschwerdeschrift der Geschäftsführerin M. vom 20.10.1998,
insbesondere kann dieses nicht als Widerspruch für die Klägerin angenommen werden. Denn dieses Schreiben hat die
Geschäftsführerin M. nicht namens, in Vollmacht oder im Auftrag der Klägerin erstellt. Aus Briefkopf und Unterschrift
ist vielmehr ersichtlich, dass es sich um ein persönliches Schreiben handelt, mit welchem M. M. persönlich über
bestimmte Vorgehensweisen Beschwerde führen wollte. Eine Umdeutung als Widerspruch kommt nicht in Betracht,
auch wenn in einem Widerspruchsschreiben das Wort "Widerspruch" nicht vorkommen muss. Vielmehr ist das
Schreiben so auszudeuten, dass M. M. durch persönliches Einwirken auf den persönlich angesprochenen
Regierungsdirektor M. konkrete Vorgänge rügen wollte. Dies ergibt sich auch daraus, dass der streitige Bescheid
sowie ein weiterer Bescheid aus einer Betriebsprüfung in der Firma Computer M. dort nicht Erwähnung finden.
Die Berufung bleibt damit in vollem Umfange ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.2 und 3 SGG).