Urteil des LSG Bayern vom 15.10.2004

LSG Bayern: entziehung, mitwirkungspflicht, arbeitslosigkeit, entziehen, drucksache, ergänzung, form, konkretisierung, leistungsanspruch, begriff

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 15.10.2004 (rechtskräftig)
Sozialgericht Landshut S 6 AL 103/01
Bayerisches Landessozialgericht L 8 AL 274/03
Bundessozialgericht B 11a AL 5/05 R
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12. Juni 2003 und der Bescheid
vom 14. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2001 aufgehoben. II. Die
Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Entziehung der Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 17.12.2000 streitig.
Der 1963 geborene Kläger bezog nach Beschäftigungen als Vulkanisierarbeiter und Lagerist ab 16.12.1999
Arbeitslosengeld (Alg) und ab 25.09.2000 Alhi. Die Beklagte forderte ihn mit einem am 08.11.2000 übergebenen
Schreiben auf, Eigenbemühungen bei mindestens fünf Arbeitgebern zu unternehmen und am 05.12.2000, 8.00 Uhr,
entsprechende Nachweise vorzulegen bzw. überprüfbare Angaben zu machen. Würden keine ausreichenden
Eigenbemühungen unternommen, läge Arbeitslosigkeit nicht vor, so dass die Entscheidung über die ihm bewilligte
Leistung für den Zeitraum ab dem Zugang dieser Aufforderung bis zu dem genannten Nachweistermin
zurückzunehmen oder aufzuheben sei (§§ 45, 48 SGB X i.V.m. § 330 SGB III). Darüberhinaus beabsichtige man, die
Leistung wegen fehlender Mitwirkung bis zu deren Nachholung gem. § 66 SGB I ganz zu entziehen bzw. zu versagen.
Laut Vermerk vom 11.12.2000 sprach am 05.12.2000 die Ehefrau des Klägers vor und übergab eine
Arbeitsunfähigkeits(AU)-Bescheinigung für die Zeit ab 05. bis voraussichtlich 08.12.2000. Nach dieser Bescheinigung
durfte der Kläger kein Kfz lenken.
Mit Bescheid vom 14.12.2000 entzog die Beklagte die Leistung ab 06.12.2000. Trotz Belehrung über die Rechtsfolgen
habe der Kläger zu dem vorgesehenen Zeitpunkt keine Nachweise vorgelegt. Wegen der fehlenden Mitwirkung könne
man nicht beurteilen, ob er seiner Verpflichtung nachkomme, alle Möglichkeiten zur Beendigung der
Beschäftigungslosigkeit zu nutzen. Man könne daher nicht feststellen, ob er weiterhin arbeitslos im Sinne der §§ 118,
119 SGB III sei. Sollte er der Mitwirkungspflicht nachkommen und Nachweise vorlegen, werde man prüfen, ob die
entzogene Leistung ganz oder teilweise erbracht werden könne.
Mit seinem Widerspruch gab der Kläger an, sich telefonisch bei verschiedenen Arbeitgebern um Arbeit bemüht, jedoch
nur Absagen erhalten zu haben. Auch das SIS habe er ständig benutzt. Wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden
(Krampfanfälle) und fehlender Mobilität sei es für ihn sehr schwierig, eine Arbeit zu bekommen. Er sei auch nicht
darauf hingewiesen worden, dass ihm ab 06.12.2000 keine Alhi mehr gezahlt werde, wenn die Eigenbemühungen nicht
nachgewiesen würden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2001 änderte die Beklagte den Bescheid vom 14.12.2000 dahingehend ab, dass
die Alhi erst mit Wirkung ab 17.12.2000 entzogen wurde. Im Übrigen wies sie den Widerspruch als unbegründet
zurück. Der Kläger habe seine Mitwirkungspflichten, die sich allgemein aus § 60 Abs.1 SGB I und konkret aus § 119
Abs.5 SGB III ergäben, verletzt. Im Rahmen dieser Vorschriften sei er verpflichtet gewesen, eigene Bemühungen um
einen Arbeitsplatz, d.h. konkrete Bewerbungen bei Arbeitgebern, nachzuweisen. Ein solcher Nachweis sei nicht
erbracht und fehle bis heute. Die bloße Behauptung von angeblich erfolglosen Bewerbungen genüge nicht. Weil damit
aber nicht feststellbar sei, ob überhaupt die materiellrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alhi
vorlägen, sei es sachgerecht, ihm diese Leistung gem. § 66 Abs.1 SGB III zu entziehen. Dabei sei bedacht worden,
dass die Alhi als Leistung lebensunterhalts- und existenzsicherende Funktion habe. Gleichwohl könne die Leistung
nicht weitergezahlt werden, wenn die gesetzlich geforderten Anspruchsvoraussetzungen nicht nur fraglich seien,
sonderen deren Nachweis gänzlich fehle und die Verantwortung hierfür der Kläger selbst zu tragen habe. Auf den
Leistungsentzug sei er unmißverständlich in der Rechtsfolgenbelehrung zum Schreiben vom 08.11.2000 hingewiesen
worden. Lediglich der Zeitpunkt der Entziehung sei abzuändern gewesen, weil nach § 66 SGB I eine Leistung nur mit
Wirkung für die Zukunft entzogen werden könne.
Zur Begründung seiner zum Sozialgericht Landshut (SG) erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, aufgrund
krankheitsbedingter AU nicht in der Lage gewesen zu sein, eine Arbeitsstelle anzunehmen, weshalb
Eigenbemühungen in diesem Zeitraum nicht möglich gewesen seien. Er berufe sich auf das vorgelegte ärztliche
Attest des Dr.G. vom 08.03.2001, in dem es heißt, der Kläger sei in der Zeit vom 23.10.2000 bis Januar, wenn nicht
Februar 2001 in keinster Weise in der Lage gewesen, einer geregelten und geordneten Arbeit nachzugehen; für den
genannten Zeitraum habe ganz sicher AU bestanden, wohl aus Unkenntnis habe der Kläger nicht um eine
Krankmeldung gebeten.
Mit Urteil vom 12.06.2003 hat das SG die Klage abgewiesen und auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid
Bezug genommen. Die von Dr.G. im Attest vom 08.03.2001 bescheinigte AU sei nicht nachzuvollziehen. Dieser Arzt
habe ab Juli 2000 immer wieder, auf bestimmte Zeiträume begrenzt, AU-Bescheinigungen ausgestellt, die der
Beklagten auch vorgelegt worden seien.
Zur Begründung seiner gegen dieses Urteil eingelegten Berufung verweist der Kläger erneut auf das Attest des Dr.G.
vom 08.03.2001 und die dort bescheinigte Einnahme des Medikamentes Tranxilium und zweier anderer Medikamente;
nach der Medikamentenbeschreibung der Apotheke bewirke Tranxilium in Einzelfällen Gedächtnisstörungen, bei
gleichzeitiger Einnahme dieser drei Medikamente könnten sich diese Nebenwirkungen verstärken. Der
Bevollmächtigte habe in zahlreichen Telefonaten mit dem Kläger gemerkt, dass dieser sich an Inhalte erst kürzlich
stattgefundener Gespräche nicht mehr habe erinnern können. Hieraus lasse sich folgern, dass er die Aufforderung
zum Nachweis von Eigenbemühungen zwar erhalten und die Belehrung verstanden habe, dann jedoch zu Hause im
Alltag aufgrund der eingenommenen Medikamente vergessen habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12.06.2003 und den Bescheid vom 14.12.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23.02.2001 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
§ 119 Abs.5 Satz 2 SGB III konkretisiere die Obliegenheit des § 119 Abs.1 Nr.1 SGB III dahingehend, dass vom
Arbeitslosen ein Nachweis über Eigenbemühungen und damit die Mitwirkung bei der Feststellung leistungsrechtlich
erheblicher Tatsachen gem. § 60 SGB I verlangt werden dürfe. Diese Nachweispflicht werde vom Gesetzgeber
unterhalb einer Beweislast, aber höher als eine bloße Behauptung angesiedelt (BT-Drucksache 13/5935 S.25) und
erfülle damit die Voraussetzungen einer Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs.1 Nr.1 SGB I.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der
Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein
Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.
In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als begründet. Die Voraussetzungen für eine Entziehung der Alhi gem. §
66 Abs.1 SGB I liegen nicht vor.
Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich bei der Verpflichtung nach § 119 Abs.5 Satz 2 SGB III, auf
Verlangen Eigenbemühungen nachzuweisen, nicht um eine Mitwirkungspflicht im Sinne der §§ 60 bis 62, 65 SGB I,
deren Verletzung die Beklagte berechtigen würde, die Leistung unter Ausübung von Ermessen mit der Maßgabe zu
entziehen, dass für den Fall der Nachholung der Mitwirkung - unter weiterer Ermessensausübung - rückwirkend die
Leistung weiter gewährt werden könnte. Vielmehr stellt § 119 Abs.5 Satz 2 SGB III die Konkretisierung der
Beschäftigungssuche im Sinne des § 119 Abs.1 SGB III dar und ist damit ein Teilelement des Begriffes der
Arbeitslosigkeit im Sinne des § 118 Abs.1 Nr.2 SGB III. Kann von Beschäftigungssuche und damit Arbeitslosigkeit in
diesem Sinne nicht ausgegangen werden, besteht kein Anspruch auf Alg bzw. Alhi. In diesem Fall kommt aber eine
Entziehung nach § 66 Abs.1 SGB I nicht in Betracht, da diese Vorschrift voraussetzt, dass ein Antragsteller seiner
Mitwirkungspflicht nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts
erheblich erschwert wird. Diese Vorschrift betrifft den Fall, dass wegen fehlender Mitwirkung sich das Vorliegen einer
Anspruchsvoraussetzung nicht oder nur schwer nachweisen läßt, während im vorliegenden Fall, den Wegfall der
Arbeitslosigkeit wegen fehlendem Nachweis entsprechender Eigenbemühungen unterstellt, bereits feststeht, dass die
Voraussetzungen für den Anspruch nicht - mehr - vorliegen.
Diese Auslegung der Verpflichtung des § 119 Abs.5 Satz 2 SGB III ergibt sich aus den Erläuterungen in der BT-
Drucksache 13/4941 S.175, wonach nach dem neuen Recht der Begriff der Arbeitslosigkeit das Fehlen einer
Beschäftigung einerseits und das Suchen einer neuen Beschäftigung andererseits umfasst, und § 119 die nähere
Umschreibung des für das Leistungsrecht neuen Merkmals der Beschäftigungssuche enthält. Da bei nicht
ausreichender Beschäftigungssuche - wozu auch der Nachweis von Eigenbemühungen zählt - der Anspruch entfällt,
käme nur die Aufhebung der Bewilligung der Alhi nach § 48 SGB X in Betracht (vgl. Wissing in Nomos-Kommentar,
SGB III, RdNr.59 zu § 119).
Der Entziehungsbescheid kann nicht in einen Aufhebungsbescheid in diesem Sinne umgedeutet werden, da es sich
hierbei um einen Bescheid anderen Inhalts handeln würde; der Entziehungsbescheid enthält keine Aussage zu den
materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruches, während der Aufhebungsbescheid den materiell-rechtlichen
Anspruch verneint (vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr.13).
Es kann dahinstehen, ob im Sinne des Vortrages des Klägers für die Zeit ab 23.10.2000 von einer AU auszugehen ist
mit der Folge, dass ab 03.12.2000 wegen Ablaufes der Leistungsfortzahlung über sechs Wochen nach § 126 SGB III
kein Leistungsanspruch mehr besteht; denn auch dieser Umstand würde die Beklagte nur zu einer Aufhebung der
Bewilligung nach § 48 SGB X und nicht zu einer Entziehung nach § 66 SGB I berechtigen; zudem würde es insoweit
an der Verletzung einer Mitwirkungspflicht fehlen. Weiterhin kann dahinstehen, ob dem Kläger aus gesundheitlichen
Gründen entsprechende Eigenbemühungen und deren Nachweis zumutbar waren.
Somit waren auf die Berufung des Klägers das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12.06.2003 und der Bescheid
vom 14.12.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2001 aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 160 Abs.2 Nr.1 SGG zugelassen.