Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28.02.2003

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Landessozialgericht Baden-Württemberg
Urteil vom 28.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Karlsruhe S 5 KR 3611/00
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 4 KR 4091/01
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Kostenübernahme für eine RiV-Therapie (RiV = Reaktionsmuster in Vertebratenzellen
[Wirbeltierzellen] nach Dr. med habil. S.) über den 30. September 2000 hinaus streitig.
Der am 1964 geborene Kläger ist nunmehr bei der Beklagten seit 2001 als Bezieher einer Erwerbsunfähigkeitsrente im
Rahmen der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) versichert. Er ist seit dem Jahre 1986 HIV-positiv. Die Anzahl
der CD-4-Helferzellen im peripheren Blut, die das Ausmaß der Erkrankung signalisieren, waren im August 1996 bei
einem Normalwert zwischen 600 bis 1200 auf 29 Helferzellen abgesunken. Die Erkrankung war von verschiedenen
Infektionen begleitet. Die Behandlung mit der Medikamentenkombination Crixivan, Epivir und Zerit musste wegen
Unverträglichkeit abgebrochen werden, so dass die den Kläger behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin Sa., die
eine Schwerpunktpraxis für HIV-Erkrankungen in F. betreibt, in ihrer ärztlichen Bescheinigung vom 08. August 1996
zu der Empfehlung kam, nach Ausschöpfung der Therapie mit herkömmlichen antiretroviralen Mitteln sei die
Durchführung einer RiV-Therapie angezeigt. Bei dieser werden dem Patienten die in seinem Organismus nicht
ausreichend gebildeten RiV-Partikel durch Impfung zugeführt, wodurch die Produktion von weiteren HIV-RNA-Kopien
verhindert und der gesamte Krankheitsverlauf gebremst, wenn nicht gar gestoppt werde. Entsprechend diesem
Therapievorschlag nahm der Kläger Ende August 1996 eine RiV-Behandlung bei Dr. med. habil. S. (Dr. S.) in G. auf,
der seit 1997 nicht mehr Vertragsarzt ist. Diese war insoweit erfolgreich, als sich die Zahl der Immunzellen im Blut
des Klägers wieder den Normwerten annäherte, Begleitkrankheiten zurückgingen und der Kläger wieder eine berufliche
Tätigkeit bis zum Beginn des Rentenbezugs ausüben konnte. Die Beklagte übernahm mit Bescheid vom 21. August
1996 die Kosten für die RiV-Therapie bei Dr. S. zunächst befristet bis zum 31. Dezember 1996 in voller Höhe nach
Befürwortung der Therapie durch den Chirurgen und Sozialmediziner Dr. M. vom von der Beklagten eingeschalteten
Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) am 09. August 1996. Ein ml RiV-Impfstoff kostete dabei DM
1.950,00. Die Therapie erforderte die Injektion von täglich ein bis zwei ml (insgesamt fünf ml an drei aufeinander
folgenden Tagen). Mit der Wiederholung dieser Injektionsfolge im Abstand von zwei bis drei Wochen und je nach
Schwere des Falles alle zwei Wochen zwei ml, bis keine HIV-RNA-Kopien mehr nachgewiesen sind. Entsprechend
dem Hinweis in dem Bescheid vom 21. August 1996 beantragte der Kläger am 11. Dezember 1996 die Verlängerung
der bei Dr. S. stattfindenden Behandlung. Dr. M. vom auch wegen der Frage der Befristung oder der Dauerzusage
eingeschalteten MDK befürwortete am 18. Dezember 1996 die Bewilligung der Therapie auf Dauer, worauf die
Beklagte mit Bescheid vom 20. Dezember 1996 die Kosten der Therapie bei Dr. S. für den Kläger weiterhin in voller
Höhe auf Dauer übernahm. Am 13. Dezember 1997 beantragte der Kläger die Übernahme für die RiV-Therapie unter
Vorlage eines Befundberichtes des Dr. S. vom 12. Dezember 1997 für das Jahr 1998, wiederum unter Vorlage einer
statistischen Auswertung. Nach positiver Stellungnahme des Dr. M. vom 13. Januar 1998 teilte die Beklagte dem
Kläger am 17. Januar 1998 mit, dass die Voraussetzungen für die RiV-Therapie weiterhin gegeben seien und die
Kosten übernommen würden. In gleicher Weise bestätigte die Beklagte im Schreiben vom 29. Dezember 1998 den
Verlängerungsantrag des Klägers vom 01. Dezember 1998 nach Zustimmung des Dr. M. am 22. Dezember 1998.
Nachdem die Beklagte die Rechnung des Dr. S. vom 18. Januar 1999 über die Behandlung des Klägers mit fünf ml
zum Gesamtpreis von DM 9.750,00 bezahlt hatte, verweigerte sie mit Bescheid vom 15. März 1999 auch unter
Hinweis, dass Dr. S. nicht mehr Vertragsarzt sei und es sich um eine alternative Behandlungsmethode handle, ohne
erneute Einschaltung des MDK die weitere Kostenübernahme. Zur Begründung seines Widerspruchs legte der Kläger
die Stellungnahme der Ärztin Sa. sowie die statistische Auswertung über den Bestand an Helferzellen, den Bericht
des Dr. S. vom 13. April 1999 sowie weitere Laborbefunde und einen Aufsatz des Dr. S. über das RiV-induzierte
Abwehrsystem (RIA) vor. Nachdem die Beklagte dem Kläger das ihre Ansicht stützende Urteil des Sozialgerichts
(SG) Duisburg vom 16. Oktober 1998 (S 9 KR 155/97) zur Kenntnis gegeben hatte, half sie mit Bescheid vom 15. Juni
1999 dem Widerspruch ab, erstattete die Kosten der zwischenzeitlich eingereichten Rechnungen und übernahm auch
die Kosten der weiteren Behandlungen bis zum 17. Juli 2000. Mit Bescheid vom 20. Juli 2000, der am 24. Juli 2000
an den Kläger abgesandt wurde, lehnte die Beklagte die weitere Kostenübernahme über den 30. September 2000
hinaus mit der Begründung ab, am 21. August 1996 sei eine befristete und mit Bescheid vom 20. Dezember 1996 eine
Zusage auf Dauer erteilt worden. Im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. November 1999
(B 1 KR 9/97 R = SozR 3 – 2500 § 27 Nr. 12) sei es jedoch nicht mehr möglich, die Kosten für die RiV-Impftherapie
ab 01. Oktober 2000 zu übernehmen. Der Bewilligungsabschnitt sei das Kalendervierteljahr, so dass der Bescheid
vom 20. Dezember 1996 nur Bindungswirkung bis 31. März 1997 entfalte. Die nachfolgenden Kostenerstattungen
stellten insoweit stillschweigende Folgebewilligungen dar. Im Übrigen habe die RiV-Impftherapie keinen Eingang in die
vertragsärztliche Versorgung gefunden. Da die Wirksamkeit dieser experimentellen Therapie auf immunologischer
Grundlage nicht nachgewiesen sei, könne keine weitere Kostenübernahme erfolgen. Den hiergegen u.a. mit der
Begründung eingelegten Widerspruch, dass die Beklagte keine bessere Behandlungsmöglichkeit aufzeigen könne,
und ergänzender Äußerung des Dr. S. vom 17. August 2000 wies der bei der Beklagten gebildete
Widerspruchausschuss mit Widerspruchsbescheid vom 09. November 2000 zurück, nachdem der Kläger bereits am
13. Oktober 2000 beim SG Karlsruhe Leistungsklage erhoben hatte.
Zur Begründung wiederholte der Kläger sein Vorbringen, legte verschiedene Befundunterlagen vor und verwies darauf,
dass die medizinische Notwendigkeit immer noch gegeben und die Kostenübernahme auf Dauer zugesagt sei. Die
Beklagte trat der Klage unter Vorlage ihrer Verwaltungsakten und unter Bezugnahme auf Bescheid und
Widerspruchsbescheid entgegen. Das SG holte die Auskunft des Dr. S. vom 20. März 2001 sowie der Ärztin Sa. vom
22. April 2001 ein, wobei letztere die Verbesserung der gesundheitlichen Situation nach der RiV-Therapie ebenso
bestätigte wie Dr. S., der darauf hinwies, dass bei Abbruch der RiV-Behandlung nach etwa acht Wochen die
Wiederherausbildung des Aidskrankheitsbildes beginne. Das SG gab mit Urteil vom 27. August 2001, das der
Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 17. September 2001 zugestellt wurde, der Klage statt und verurteilte die
Beklagte unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide, die Kosten für eine RiV-Impftherapie über den 30. September
2000 hinaus zu übernehmen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Hiergegen richtet sich die am 05. Oktober 2001 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg
eingelegte Berufung der Beklagten, zu deren Begründung sie sich im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im
Verwaltungsverfahren und im Klageverfahren bezieht. Es handle sich im Endeffekt nicht um eine Dauerbewilligung,
wie das SG angenommen habe. Aus § 25 Abs. 1 Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV) folge, dass die gesamte von
einem Vertragsarzt innerhalb ein und desselben Kalendervierteljahres ambulant vorgenommene Behandlung als
einheitlicher Behandlungsfall gelte, so dass der Bescheid vom 20. Dezember 1996 nur bis zum 31. März 1997
Bindungswirkung habe entfalten können. Falls dem nicht gefolgt würde, sei eine Bildung von Bewilligungsabschnitten
in den Verwaltungsakten vom 21. August und 20. Dezember 1996, 17. Januar und 29. Dezember 1998 zu sehen. Die
Beklagte hat noch das sozialmedizinische Gutachten des Arztes B. vom MDK Freiburg vom 13. Mai 2002 vorgelegt,
wonach die Wirksamkeit der RiV-Therapie zur Behandlung der HIV-Infektion nicht gesichert sei. Das Verfahren
befinde sich im Stadium der klinischen Forschung.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. August 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG für richtig.
Der Berichterstatter hat am 12. Dezember 2001 den Sachverhalt mit den Beteiligten erörtert und hierbei auch auf das
Urteil des Senats vom 30. November 2001 (L 4 KR 143/00) hingewiesen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten
sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die entsprechend den Form- und Fristvorschriften des § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingelegte
Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne
mündliche Verhandlung entschieden hat, ist wegen Überschreitens des Beschwerdewertes statthaft und auch
zulässig, jedoch nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli
2000 in der durch den Widerspruchsbescheid vom 09. November 2000 unveränderten Gestalt nicht dem geltenden
Recht entspricht und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Die Beklagte ist verpflichtet, die Kosten der RiV-Therapie
beim Kläger bei medizinischer Notwendigkeit weiterhin zu übernehmen.
Das SG hat sein der Klage stattgebendes Urteil zutreffend begründet. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen
zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG in vollem Umfang an. Zur Verdeutlichung ist jedoch
im Hinblick auch auf das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren und die Ergebnisse des MDK-Gutachtens
des Arztes B. noch Folgendes auszuführen: Bei dem Bescheid vom 20. Dezember 1996 handelt es sich um einen
Bescheid mit Dauerwirkung, der nur insoweit eingeschränkt ist, als die Kostenübernahme für die RiV-Therapie von der
therapeutischen Notwendigkeit einer Verordnung abhängt, die jedoch durchgehend durch die Ärztin Sa. bestätigt
wurde. Eine Aufhebung des Bescheides vom 20. Dezember 1996 kann nur nach § 48 des Zehnten Buches des
Sozialgesetzbuchs (SGB X) in Betracht kommen, wobei Anhaltspunkte für eine Änderung der tatsächlichen und
rechtlichen Verhältnisse nicht gegeben sind. Zum einen war die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (Urteil vom
16. Dezember 1993 - 4 RK 5/92 = SozR 3 - 2500 § 13 Nr. 4) zur Bindung an die Entscheidungen des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (BA) und alternativen Heilmethoden zum Zeitpunkt des Erlasses
des Bescheids schon längst bekannt, so dass sich die Beklagte nun nicht auf einen fehlenden Wirksamkeitsnachweis
durch kontrollierte Studien berufen kann, was das wesentliche Ergebnis des Gutachtens des Arztes B. vom 27. Juni
2002 ist. Aus diesem Gutachten ergibt sich vielmehr auch, dass die RiV-Therapie beim Kläger positive Wirkung
gezeigt hat; er stand schließlich bis 31. Dezember 2000 noch in einem Beschäftigungsverhältnis, war aufgrund
dessen bei der Beklagten pflichtversichert und ist erst seit 01. Januar 2001 Rentner.
Ausgehend davon, dass der Bescheid vom 20. Dezember 1996 einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung darstellt, was
sich auch aus der vorangegangenen entsprechenden Anfrage der Beklagten vom 16. Dezember 1996 beim MDK
ergibt, konnte der Bescheid nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X aufgehoben werden. Zur Frage einer
wesentlichen tatsächlichen oder rechtlichen Änderung fehlt es an jeglichen Erwägungen im hier streitigen Bescheid
vom 20. Juli 2000. Ebenso wenig finden sich entsprechende Erwägungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid
vom 09. November 2000, der im Wesentlichen die Begründung des Ausgangsbescheids wiederholt. Sofern sich die
Beklagte auf § 45 SGB X berufen wollte, was explicit nicht geschehen ist, erforderte dies, dass die
Leistungsbewilligung von Anfang an wegen des außervertraglichen Charakters der RiV-Therapie rechtswidrig gewesen
sein müsste. Abgesehen davon, dass sich dies schwerlich feststellen lässt, verlangt die Rücknahme einer von
Anfang an rechtswidrigen Leistungsbewilligung, sei es für die Vergangenheit oder auch nur für die Zukunft, die
Ausübung von Ermessen. Solches Ermessen hat die Beklagte ersichtlich nicht ausgeübt. Dies ergibt sich weder aus
den angegriffenen Bescheiden noch aus der Berufungsbegründung. Die Beklagte ist selbst noch von einer
vierteljährlichen Bewilligungspraxis ausgegangen, nachdem der Kläger etwa alle Jahre einen Antrag gestellt hat.
Dieser diente ersichtlich nur der Darstellung der weiteren medizinischen Notwendigkeit der Behandlung und nicht der
Erneuerung eines Bewilligungsabschnitts.
Die Berufung der Beklagten erwies sich somit als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlass.