Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2003
LSG Bwb: gleichrangigkeit, unterhaltspflicht, beurteilungsspielraum, arbeitslosenhilfe, gleichstellung, verwaltung, begriff, bevorzugung, angemessenheit, selbstbehalt
Landessozialgericht Baden-Württemberg
Urteil vom 11.12.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Karlsruhe S 14 AL 3485/99
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 12 AL 1786/02
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karls-ruhe vom 11.04.2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte im Rahmen der Abzweigung die Leis-tungen des Klägers nach
dem Unterhaltsvorschussgesetz außer Acht lassen durfte.
Der Kläger gewährt nach dem Unterhaltsvorschussgesetz Leistungen an das Kind S. H., wel-ches aus der Ehe
zwischen dem Leistungsempfänger P. K. H. (Beigeladener zu 1.) und B. H. hervorgegangen ist. Die Eheleute H. leben
seit Oktober 1998 getrennt. Der Beigeladene zu 1. kommt seiner Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter S. nicht
nach. Er bezog von der Be-klagten seit dem 01.04.1999 zunächst Arbeitslosengeld, anschließend Arbeitslosenhilfe.
Seit dem 01.07.1999 zweigte die Beklagte auf Antrag des Magistrats der Stadt Wiesbaden (Beigeladene zu 2.), der
einem weiteren minderjährigen Kind des Beigeladenen zu 1., P. U. (Beigeladene Nr. 3) Leistungen nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz gewährte, einen Betrag von kalendertäglich 12,92 DM ab. Die Abzweigung endete mit der
Volljährigkeit der Beige-ladenen Nr. 1 am 25.07.2000.
Mit Schreiben vom 22.07.1999 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Abzweigung nach § 48 SGB I, da er seit
dem 01.12.1998 Leistungen von (derzeit 230,- DM) pro Monat gewäh-re. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit
Bescheid vom 29.07.1999 mit der Begründung ab, dass der Leistungsberechtigte die laufenden Geldleistungen zur
Bestreitung des eigenen Le-bensunterhalts benötige. Deshalb bestünde wegen fehlender Leistungsfähigkeit auch
keine Unterhaltspflicht, so dass die Voraussetzungen einer Auszahlung nach § 48 SBG I nicht er-füllt seien.
Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch: Der Beigeladene zu 1. sei zwei minderjährigen Kindern gegenüber
unterhaltsverpflichtet, die im Rahmen der Abzweigung gleichrangig zu berücksichtigen seien. Es widerspreche dem
Prinzip des Gleichranges, wenn die Beklagte wie hier geschehen, für ein Kind, für das ein Unterhaltstitel bestehe,
vorrangig abzweige. Mit Wi-derspruchsbescheid vom 24.08.1999 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers
zurück: Die Entscheidung über die Abzweigung stehe in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Liege ein rechtskräftiger
und vollstreckungsfähiger Unterhaltstitel vor, sei grundsätzlich bis zur Höhe des Leistungssatzes die im Titel als
Unterhaltsbetrag festgesetzte Summe an den berechtigten Dritten auszuzahlen. Bei solchen Sachverhalten stehe ihr
hinsichtlich der Höhe der Abzwei-gung kein Ermessen zu. Die Beklagte habe zwar die Gleichrangigkeit der beiden
Kinder zu beachten, der Unterschied liege jedoch darin, dass für das eheliche Kind S. H. kein Unter-haltstitel vorliege.
Hiergegen hat der Kläger am 16.10.1999 Klage zum Sozialgericht Karlsru-he (SG) erhoben: Die Vorgehensweise der
Beklagten widerspreche den gesetzlichen Bestim-mungen. Ein wesentlicher Zweck des § 48 SGB I sei es, dem
Unterhaltsberechtigten ohne Umwege über einen Unterhaltsprozess und daran anschließende Pfändungen
Geldleistungen zufließen zu lassen. Die Beklagte beachte nicht den Gleichrang der minderjährigen Kinder. Hieran
ändere sich auch nichts durch den Unterhaltstitel.
Die Beklagte hat an ihrer Rechtsauffassung festgehalten. Liege ein Unterhaltstitel vor, so sei dessen Inhalt zur
gesetzlichen Unterhaltspflicht verbindlich. In diesem Fall sei grundsätzlich nicht mehr zu prüfen, ob überhaupt eine
Verpflichtung des Leistungsberechtigten bestehe.
Mit Urteil vom 11.04.2002 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 29.07.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24.08.1999 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu er-teilen. In den Entscheidungsgründen auf die im Übrigen
verwiesen wird, hat es unter anderem ausgeführt, die Beklagte habe die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht
eingehalten. Der Hinweis, es stehe jedem Unterhaltsgläubiger, der die Abzweigung begehre frei, einen solchen Titel zu
erwirken, widerspreche dem Sinn und Zweck der Abzweigungsregelung als einer Art sozialrechtlicher
"Soforthilfemaßnahme". Die Erwägungen der Beklagten, sie könne sich nicht im Rahmen der Ermessensausübung
über Beschlüsse und Urteile der Zivilgerichte hinwegsetzen, führten zu keinem anderen Ergebnis. Minderjährige
Kinder stünden, unabhän-gig davon, ob ihre Unterhaltsansprüche tituliert seien oder nicht, in gleicher Rangfolge hin-
sichtlich der Unterhaltsberechtigung (§ 1609 BGB).
Hiergegen richtet sich die am 23.05.2002 eingelegte Berufung der Beklagten: Entgegen der Auffassung des SG sei
die Entscheidung der Beklagten lediglich den Unterhaltsanspruch des Kindes mit Unterhaltstitel zu berücksichtigen,
nicht ermessensfehlerhaft. Im Rahmen der Er-messensentscheidung, ob und in welchem Umfang ein
Unterhaltsanspruch zu befriedigen sei, habe die Beklagte eine zivilgerichtliche Entscheidung in Form eines
Unterhaltstitels zu beach-ten und sei hieran bei ansonsten unveränderten Einkommensverhältnissen des
Unterhaltsver-pflichteten gebunden. Es sei nicht Aufgabe der Beklagten, eine eigenständige Unterhaltsrege-lung
zwischen den Beteiligten vorzunehmen. Gerade hierzu würde es aber führen, wenn die Beklagte unabhängig von
bestehenden Unterhaltstiteln nach eigenem Ermessen die Verteilung der zur Verfügung stehenden Unterhaltsbeträge
vornehmen würde. Damit werde auch nicht die grundsätzliche Gleichrangigkeit der streitigen Unterhaltsansprüche
außer Acht gelassen. Die Beklagte habe vielmehr zwangsläufig bei der Ausübung ihres Ermessens verschiedene,
sich teils entgegenstehende Kriterien gegeneinander abzuwägen, wie sie zum Beispiel im Be-stehen eines den
jeweiligen Berechtigten begünstigenden Unterhaltstitels gegenüber der Gleichrangigkeit von Unterhaltstiteln aller
Berechtigten zu sehen seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. April 2002 und den Be-scheid der Beklagten vom 29.07.1999 in der
Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 24.08.1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Urteil des SG sei zuzustimmen. Das Erfordernis eines Titels sei lebensfremd, weil dann zu erwarten sei, dass
für minderjährige Kinder innerhalb einer funktionierenden Lebensgemeinschaft Unterhaltstitel präventiv geschaffen
werden müssten, um bei einer möglichen Trennung die sofortige Gleichstellung mit Kindern aus einer anderen
Beziehung zu sichern. Dies könne nicht Wille des Gesetzgebers sein.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten in dem Termin vom 04.06.2003 den Sach- und Streitstand erörtert.
Bezüglich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten sowie auf die
Gerichtsakten I. und II. Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Das SG hat die angefochtenen Bescheid zurecht aufgehoben, sie sind ermessensfehlerhaft.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I können laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts zu dienen
bestimmt sind, in angemessener Höhe an den Ehegatten oder die Kinder des Leistungsberechtigten ausgezahlt
werden, wenn er ihnen gegenüber seiner gesetz-lichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Abzweigung sind, was zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist, erfüllt.
Der Kläger hat in dem streitigen Zeitraum von der Beklagten Ar-beitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe erhalten. Diese
Leistungen stellen Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I dar.
Der Kläger ist seinen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seinen beiden Kindern nicht nachgekommen. Weshalb
diese Kinder Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erhalten.
Die Entscheidung der Beklagten, die Abzweigung lediglich in voller Höhe zugunsten des Kindes vorzunehmen,
welches einen Unterhaltstitel erwirkt hat, ist ermessensfehlerhaft.
Die Entscheidung, ob die Beklagte eine Abzweigung nach § 48 SBG I durchführt, steht in ihrem Ermessen. Die Höhe
der Abzweigung hat angemessen zu erfolgen. Diesbezüglich steht der Beklagten ein Beurteilungsspielraum zu. Bei
dem Begriff "angemessene Höhe" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, d.h., einen Rechtsbegriff,
der nach Inhalt und Umfang weitgehend ungewiss ist und der Ausfüllung für den Einzelfall bedarf. Der Verwal-tung ist
insoweit ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, jedoch hindert dies nicht die gericht-liche Überprüfung, ob die
Verwaltung den ihr zustehenden Spielraum bei der Begrenzung und Auslegung des Begriffs eingehalten hat (BSGE
55, 245).
Die generelle Nichtberücksichtigung des nichtehelichen Kindes stellt einen Ermessensfehl-gebrauch dar. Die Beklagte
ist zwar bezüglich einer Unterhaltsforderung, die tituliert ist, inso-fern daran gebunden, als der Abzweigungsbetrag
nicht höher sein darf, als der nach dem Un-terhaltstitel ausgewiesene Betrag (BSG SozR 1200 § 48 Nr. 8 und Nr. 10).
Das SG hat zutref-fend ausgeführt, dass die generelle Nichtberücksichtigung des nicht mit einem Unterhaltstitel
ausgestatteten Kindes sowohl dem Sinn und Zweck des § 48 SGB I, als auch dem materiellen Unterhaltsrecht nicht
entspricht. Die in § 48 Abs. 1 SGB I normierte Abzweigungsregelung ermöglicht es dem Leistungsträger solchen
Personen, die unterhaltsbedürftig sind und die die ihnen zustehenden Leistungen von dem Unterhaltsverpflichteten
nicht erhalten, erleichterten Zugang zu dessen Einnahmen aus Sozialleistungen zu verschaffen. Es ist gerade nicht
not-wendig, dass der Leistungsberechtigte einen Titel gegen den Unterhaltsverpflichteten zuvor erwirkt. Die
Unterhaltsverpflichtung muss sich lediglich aus dem Unterhaltsrecht ergeben. Die Bevorzugung eines
Unterhaltsberechtigten mit entsprechendem Titel ist gesetzlich nicht normiert und kann auch nicht über den Wortlaut
des § 48 SGB I gefordert werden. Minderjäh-rige Kinder stehen, worauf das SG ebenfalls zurecht hingewiesen hat, in
gleicher Rangfolge hinsichtlich der Unterhaltsberechtigung (§ 1609 BGB). Dem entsprechend haben beide Kin-der
Anspruch auf ihren gesetzlichen Unterhalt. Entscheidet sich die Beklagte nunmehr dazu eine Abzweigung
vorzunehmen (wobei der Senat für eine andere Entscheidung keine An-haltspunkte sieht), steht sie in der Pflicht
entsprechend der Gleichrangigkeit im materiellen Recht auch die beiden Unterhaltsberechtigten möglichst gleich zu
behandeln. Dementspre-chend darf ein Unterhaltsanspruch des Kindes, das keinen Titel erwirkt hat, nicht ignoriert
werden.
Aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte gerade die Gleichrangigkeit ignoriert hat und ein Titelerfordernis postuliert
hat, das einer gesetzlichen Grundlage entbehrt, sind die genannten Bescheide aufzuheben, weil insofern ein
Ermessensfehlgebrauch gegeben ist. In der Ausfül-lung des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums bezüglich der
Angemessenheit der Höhe der Abzweigungen zugunsten der unterhaltsberechtigten Kinder, kann sich die Beklagte
eines pauschalierenden und mit damit vereinfachten Verfahrens bedienen. Dieses Verfahren und die dabei
anzuwendenden Pauschalsätze müssen jedoch der Gestalt sein, dass sie tendenziell ge-eignet sind, den notwendigen
Selbstbehalt für den Leistungsempfänger sicherzustellen (Hessi-sches LSG Urteil vom 21.06.2000 - L 6 AL 259/00).
Hierbei wäre es rechtmäßig, bei der Er-mittlung des Abzweigungsbetrages die Düsseldorfer Tabelle als maßgeblich
anzusehen (vgl. SozR 1200 § 48 Nr. 8 und Nr. 10).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.