Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11.02.2003

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Landessozialgericht Baden-Württemberg
Urteil vom 11.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stuttgart S 5 RA 6819/00
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 13 RA 1687/02
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. April 2002 aufgehoben. Die Klage
wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob dem Kläger Altersrente für langjährig Versicherte ab einem früheren
Zeitpunkt zusteht.
Der 1935 geborene Kläger war zuletzt als selbständiger Kaufmann Inhaber eines Ladengeschäfts. Er gehört der
gesetzlichen Rentenversicherung seit September 1949 an. Seit Januar 1984 entrichtete er durchgängig freiwillige
Beiträge. Im Kontenklärungsverfahren ergingen zwei Bescheide vom 5. November 1997. Mit dem ersten wurden nicht
nachgewiesene Anrechnungszeiten aus den Jahren 1952 bis 1954 abgelehnt. Das Gleiche erfolgte durch den zweiten
Bescheid für Anrechnungszeiten aus den Jahren 1956 und 1957. Diesem Bescheid war als Anlage eine Berechnung
der Monatsrente, ein Versicherungsverlauf sowie die Berechnung der Entgeltpunkte beigefügt. Ebenfalls unter dem 5.
November 1997 erging eine Rentenauskunft. Diese umfasste etwa drei Seiten Text. Auf Seite 2 war unter der
Überschrift "Hinweise zum Rentenanspruch und zu den Wartezeiten" erläutert, eine Rente werde nur gezahlt, wenn die
Wartezeit, die persönlichen und die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien und ein
Rentenantrag gestellt sei. Ein frühestmöglicher Rentenbeginn könne nur erreicht werden, wenn der Antrag innerhalb
von drei Monaten nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt werde. Für die verschiedenen Rentenarten seien
unterschiedliche Wartezeiten mit rentenrechtlichen Zeiten zu erfüllen. Die Wartezeit für die Altersrente an langjährig
Versicherte ... betrage 35 Jahre ... diese Wartezeit sei erfüllt. Die Altersrente für langjährig Versicherte könne bei
erfüllter Wartezeit nur gezahlt werden, wenn das 63. Lebensjahr vollendet sei und die Hinzuverdienstgrenze nicht
überschritten werde. Die Bescheide vom 5. November 1997 griff der Kläger nicht an. Zum 30. Juni 1998 beendete er
seine selbständige Tätigkeit.
Am 18. April 2000 beantragte der Kläger Altersrente für langjährig Versicherte wegen Vollendung des 63.
Lebensjahres. Die Rente solle vom frühestmöglichen Rentenbeginn an gezahlt werden. Durch Bescheid vom 6. Juni
2000 bewilligte die Beklagte die Rente ab 1. April 2000 (anfänglicher monatlicher Zahlbetrag DM 1.082,57). Mit seinem
Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe erst durch den Bescheid erfahren, dass er schon zum 30. Juni 1998
die Anwartschaft für die Rente erreicht habe. Außerdem habe er ohne Not über den genannten Zeitpunkt hinaus
freiwillige Beiträge entrichtet. Die Beklagte legte zur Begründung des zurückweisenden Widerspruchsbescheids vom
27. November 2000 dar, da der Antrag erst im April 2000 und damit später als drei Kalendermonate nach Erfüllung der
Anspruchsvoraussetzungen gestellt worden sei, könne die Rente erst ab Beginn des Antragsmonats, also 1. April
2000 geleistet werden. - Durch Bescheid vom 6. Februar 2001 bewilligte die Beklagte ohne Änderung des
Nettobetrags der Rente Zuschüsse zum Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag.
Am 11. Dezember 2000 hat der Kläger zum Sozialgericht (SG) Stuttgart Klage erhoben. Er hat geltend gemacht, die
Beklagte hätte ihn im Kontenklärungsverfahren deutlich auf die Möglichkeit zur Beantragung der Rente hinweisen
müssen. Mithin habe sie nicht auf eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit hingewiesen, die jeder verständige
Versicherte mutmaßlich genutzt hätte. Mittels des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei ein rechtzeitiger
Rentenantrag zu fingieren. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Allein die Erfüllung der
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine vorzeitige Altersrente bedinge ohne weiteres keine Verpflichtung
zu einem Hinweis. Im Übrigen sei die umfassend informierende Rentenauskunft vom 5. November 1997 erteilt worden.
Durch Urteil vom 17. April 2002 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, Altersrente bereits ab
1. Juli 1998 zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen dargelegt, die Beklagte sei zu einem rechtzeitigen
Hinweis verpflichtet gewesen. Die Anspruchsvoraussetzungen hätten sich anhand der im Versicherungskonto
gespeicherten Daten leicht feststellen lassen. Der Hinweispflicht habe sich die Beklagte nicht aufgrund der
Rentenauskunft vom 5. November 1997 entziehen können. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger noch nicht die
allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Im Übrigen seien die Hinweise in der Auskunft allgemein gehalten,
berücksichtigten insbesondere nicht die erst in Zukunft liegende Vollendung des 63. Lebensjahres des Klägers und
seien durch eine Vielzahl weiterer Hinweise zu anderen Rentenarten unterbrochen. Dem Versicherten sei es nicht
zuzumuten, sich aus dieser Vielzahl allgemeiner Hinweise einzelne Bruchstücke einschlägiger Informationen
herauszusuchen. Nach alledem greife der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ein.
Gegen das ihr am 24. April 2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15. Mai 2002 beim Landessozialgericht
Berufung eingelegt. Sie trägt vor, eine Hinweispflicht bestehe regelmäßig nur für die Regelaltersrente nach Vollendung
des 65. Lebensjahres. Bei den vorzeitigen Altersrenten sei demgegenüber der Anspruch abhängig von einem
höchstpersönlich auszuübenden Gestaltungsrecht. Insbesondere komme es auf Hinzuverdienstgrenzen an. Die
Hinweispflicht solle nur dann entstehen, wenn die Leistungsvoraussetzungen in der Person des Adressaten eines
Hinweises erfüllt seien. Im Übrigen sei die Verpflichtung zu einem Hinweis dadurch ausgeschlossen oder erfüllt, dass
die Rentenauskunft vom 5. November 1997 erteilt worden sei. Hiermit sei der Kläger über die Möglichkeiten und
Voraussetzungen hinreichend informiert gewesen. Die Auffassung des SG, die Rentenauskunft sei zu unübersichtlich
gewesen, überspanne die Anforderungen. Insbesondere enthalte die Auskunft auch ein Angebot zu ergänzender
Auskunft und Beratung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. April 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er entgegnet, die Hinweispflicht müsse regelmäßig auch für vorzeitige Altersrenten geltend. Die den Versicherten
eingeräumten Gestaltungsrechte dürften dem nicht entgegenstehen. Dem SG sei darin zu folgen, dass die
zutreffenden Auskünfte mühsam aus den erteilten Hinweisen herausgesucht werden müssten. Auch der
Vormerkungsbescheid enthalte keine ausreichenden Informationen.
Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Verwaltungsakten der
Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des SG
keinen Anspruch auf Altersrente vor dem 1. April 2000.
Die einschlägigen Rechtsgrundlagen sind im angefochtenen Urteil zutreffend dargestellt. Der Kläger hatte mit dem 12.
Juni 1998 sein 63. Lebensjahr vollendet. Damit hätte ihm gemäß § 36 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB
VI) in der ursprünglichen bis 31. Dezember 1999 geltenden Fassung Altersrente für langjährig Versicherte
zugestanden. Die Wartezeit von 35 Jahren rentenrechtlicher Zeiten war erfüllt; Hinzuverdienst im Sinne von § 34 SGB
VI wurde nicht mehr erzielt. Die Rente hätte gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI vom Beginn des folgenden
Kalendermonats an, also ab 1. Juli 1998 zugestanden. Dem steht jedoch entgegen, dass sie nicht im Sinne der
zitierten Vorschrift bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt worden ist, in dem
die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren; vielmehr konnte (vgl. Satz 2 der Vorschrift) wegen späterer
Antragstellung die Rente erst ab dem Kalendermonat des Antrags geleistet werden, hier also aufgrund des Antrags
vom 18. April 2000 ab Beginn dieses Monats. Entgegen den Erwägungen des SG kommt ein früherer Rentenbeginn
hier nicht in Betracht.
Der Kläger vermag keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend zu machen. Dieser Anspruch ist auf die
Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der
Versicherungsträger die ihm aufgrund Gesetzes oder eines konkreten Sozialrechtsverhältnisses dem Versicherten
gegenüber bestehenden Pflichten insbesondere zur Auskunft und Beratung ordnungsgemäß wahrgenommen hätte
(vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zur hier einschlägigen Frage Bundessozialgericht - BSG - BSGE 79, 168 =
SozR 3-2600 § 115 Nr. 1; BSGE 81, 251 = SozR a.a.O. Nr. 2; SozR a.a.O. Nrn. 3, 4 und 5). Eine rechtswidrige
Pflichtverletzung muss einen Nachteil des Versicherten bewirkt haben, wobei die verletzte Pflicht darauf gerichtet sein
muss, gerade vor den eingetretenen Nachteilen zu bewahren.
Zutreffend hat das SG vorrangig die Hinweispflicht der Beklagten nach § 115 Abs. 6 SGB VI geprüft. Hiernach sollen
die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung
erhalten können, wenn sie diese beantragen (Satz 1). In gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung
kann bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgen sollen (Satz 2). Die aufgrund
letzterer Vorschrift erlassenen gemeinsamen Richtlinien der Rentenversicherungsträger (vgl. etwa bei Niesel, Kasseler
Kommentar, zu § 115 SGB VI am Ende) enthalten die Fälle des Anspruchs auf vorzeitige Altersrenten nicht. Für
diese Renten ist in der eingangs zitierten Rechtsprechung der Grundsatz entfaltet worden, dass eine Hinweispflicht
nur in den Fällen besteht, in denen der Versicherungsträger davon ausgehen muss, dass die Berechtigten einen
Rentenantrag aus Unkenntnis (noch) nicht gestellt haben (vgl. BSG SozR 3-2600 § 115 Nr. 5 m.w.N.) Gehört hiernach
jemand zu einer abgrenzbaren Gruppe von Versicherten, die eine Altersrente im allgemeinen vom frühestmöglichen
Zeitpunkt an beziehen, so lässt das Fehlen eines rechtzeitigen Rentenantrags grundsätzlich den Schluss zu, dass
dies auf Unkenntnis des Versicherten beruht. An einer solchen Fallgestaltung fehlt es aber, wenn sich die
Anspruchsvoraussetzungen im Einzelfall nicht von vornherein anhand des Versicherungskontos feststellen lassen.
Nach der hier einschlägigen Neuregelung des § 34 Abs. 2 Satz 1 SGB VI durch Gesetz vom 15. Dezember 1995,
BGBl. I S. 1809 schließt das Überschreiten der Hinzuverdienstgrenzen den "Anspruch" auf die Rente, also das
Stammrecht aus (vgl. hierzu Bundestags-Drucksache 13/3150 S. 41 zu Nr. 5), nicht nur wie nach der bis dahin
geltenden Fassung der Vorschrift lediglich den jeweiligen monatlichen Zahlungsanspruch (vgl. nochmals BSG a.a.O.).
Der Hinzuverdienst des Versicherten ist der Beklagten nicht bekannt; damit kann nicht mehr von einer "Gruppe" von
Versicherten gesprochen werden, die im allgemeinen die Rente dem Grunde nach zu einem einheitlichen Zeitpunkt
(Lebensalter) in Anspruch nehmen können und wollen. Dies aber bedeutet, dass eine Pflicht zur Spontanberatung nur
nach der allgemeinen Vorschrift des § 14 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch bestand. Hierfür reicht es aus, dass
der Kläger zusammen mit mehreren Bescheiden die Rentenauskunft (vgl. hierzu im Einzelnen § 109 SGB VI) vom 5.
November 1997 erhalten hat, die ihn in verständlicher Form über die verschiedenen Altersrenten unterrichtet hat.
Diese Auskunft ist bereits zeitnah zur Vollendung des 63. Lebensjahres des Klägers im Juni 1998 ergangen. Auf Seite
2 der Auskunft ist unter der Überschrift "Hinweise zum Rentenanspruch und zu den Wartezeiten" über die
Voraussetzungen für die verschiedenen Rentenarten aufgeklärt. Der letzte Absatz der Seite weist unter Bezugnahme
auf den gleichzeitig erteilten Versicherungsverlauf darauf hin, die Wartezeit für die Altersrente an langjährig
Versicherte, die 35 Jahre betrage, sei im Fall des Klägers erfüllt. Auf der folgenden Seite 3 ist in der Mitte dargelegt,
diese Altersrente könne (nur) gezahlt werden, wenn das 63. Lebensjahr vollendet sei und die Hinzuverdienstgrenze
nicht überschritten werde. Im weiteren werden die Hinzuverdienstgrenzen aufgeführt.
Entgegen der Auffassung des SG erachtet der Senat im Rahmen der dargelegten Anforderungen die Rentenauskunft
vom 5. November 1997 noch für übersichtlich und verständlich. Der Text umfasst nur etwas mehr als drei Seiten, also
deutlich weniger, als allgemeine Informationsschriften und Merkblätter an Umfang aufweisen. Im Übrigen ist darauf
hingewiesen und angeboten, dass bei weiteren Fragen die Auskunfts- und Beratungsstellen der Beklagten in Anspruch
genommen werden können. Die Wartezeiten und die Altersgrenzen für die einzelnen Renten sind richtig genannt.
Ebenso ist mit Bezug auf den Versicherungsverlauf klargestellt, dass im Einzelfall des Adressaten jeweils die
Wartezeit erfüllt sei. Das eigene Geburtsdatum ist jedem Versicherten bekannt. Über die Erforderlichkeit eines
rechtzeitigen Antrags - spätestens innerhalb von drei Monaten nach Erfüllung der Voraussetzungen - ist zutreffend
und verständlich aufgeklärt. Dass die verschiedenen Rentenarten - jeweils in kurzen Absätzen - zusammen aufgeführt
sind, verschafft der Auskunft nicht eine nicht mehr hinnehmbare Unübersichtlichkeit. Die Lektüre der Auskunft ist
jedem auch nur durchschnittlich verständigen Versicherten zuzumuten. Von der Beklagten darf nicht verlangt werden,
für jede einzelne Rentenart ein gesondertes Anschreiben zu verwenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.