Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 10.12.2008

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LSG Baden-Württemberg Urteil vom 10.12.2008, L 11 KR 5376/08 ER-B
Einstweiliger Rechtsschutz - Erlass einer einstweiligen Anordnung - Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache - Prüfung der Sach- und
Rechtslage bei existenziell bedeutsamen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Gerichte - Begrenzung der Wahlfreiheit
bei Hilfsmitteln
Leitsätze
1. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist den Gerichten in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame Leistungen der
Krankenversicherung für den Versicherten geht, eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt. Sie haben unter diesen
Voraussetzungen auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG [Kammer], Beschluss
vom 29. Juli 2003, 2 BvR 311/03, BVerfGK 1, 292, 296; Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236 f.). Als
solchermaßen existentiell bedeutsame Leistungen kommen in erster Linie ambulante oder stationäre ärztliche Behandlungen in Betracht. Die
Versorgung mit Hilfsmitteln, deren Beschaffung und ggf. notwendige individuelle Anpassung ohnedies meist eine gewisse Zeit benötigt, ist nicht
existentiell in dem Sinne, dass die Gewährung effektiven Rechtsschutzes eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren ausschließt.
2. Die sich aus § 33 SGB I ergebende Wahlfreiheit des Versicherten ist auf verschiedene, aber gleichermaßen geeignete und wirtschaftliche
Hilfsmittel begrenzt (vgl. BSG, Urteil vom 3. November 1999, B 3 KR 16/99 R, SozR 3-1200 § 33 Nr. 1).
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 03. November 2008 wird zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt die Antragsgegnerin. Im Übrigen sind Kosten nicht zu
erstatten.
Gründe
1 Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers
ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt.
2 Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift vorliegt, eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach Absatz 2
Satz 2 auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
3 Vorliegend kommt, da es dem Antragsteller ersichtlich um die Regelung eines vorläufigen Rechtszustandes geht, nur eine Regelungsanordnung
nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der
Erfolgsaussicht in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des
Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind
glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).
4 Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage
an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (vgl. BVerfG [Kammer], Beschluss vom 2. Mai 2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Im
Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ist ihnen allerdings in den Fällen, in denen es um existentiell bedeutsame Leistungen der
Krankenversicherung für den Antragsteller geht, eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt. Sie haben unter diesen
Voraussetzungen die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG [Kammer], Beschluss vom 29. Juli 2003, 2 BvR 311/03, BVerfGK
1, 292, 296; Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236 f.). Ist dem Gericht in einem solchen Fall eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG [Kammer],
Beschluss vom 2. Mai 2005, a.a.O., m.w.N.); die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind umfassend in die Abwägung einzustellen. Die
Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. November
2002, a.a.O., S. 1237; Beschluss vom 29. November 2007, 1 BvR 2496/07, NZS 2008, 365). Als existentiell bedeutsame Leistungen der
Krankenversicherung kommen in erster Linie ambulante oder stationäre ärztliche Behandlungen in Betracht. Die Versorgung mit Hilfsmitteln,
deren Beschaffung und ggf. notwendige individuelle Anpassung ohnedies meist eine gewisse Zeit benötigt, ist nicht existentiell in dem Sinne, dass
die Gewährung effektiven Rechtsschutzes eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausschließt.
5 Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl an einem Anordnungsgrund als auch an einem Anordnungsanspruch. Der Kläger lebt bereits seit 1996 im
betreuten Wohnen in der vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen der Caritas (Haus T.), wo er bislang ohne den
Patientenlifter versorgt werden konnte. Dass sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert hat und er ohne die Ausstattung mit dem
Hilfsmittel das Bett nicht mehr verlassen kann, ist nicht dargetan. Auch die Ermittlungen der Beklagten, nämlich das Ergebnis des Hausbesuchs
der A.-Fachkraft, sprechen dafür, dass dem Kläger zuzumuten ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Denn er ist körperlich
noch in der Lage zu stehen, kann auch noch selbständig die Toilette aufsuchen und bewohnt die Wohnung des betreuten Wohnens mit seiner
Lebensgefährtin, so dass gegenwärtig der Transfer vom Bett in den Rollstuhl gesichert ist. Offensichtlich kann er noch berufstätig sein, also die
Wohnung verlassen.
6 Ein Anspruch des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin auf Versorgung mit einem Patientenlifter dürfte zwar dem Grunde nach bestehen. In
der Stellungnahme der A.-OT-Fachkraft vom 29. September 2008 wird die Versorgung des Antragstellers mit einem Patientenlifter als
„grundsätzlich nachvollziehbar“ bezeichnet. Es wird lediglich bezweifelt, dass das in der Verordnung des behandelnden Arztes aufgeführte Gerät
benötigt und deshalb die Versorgung mit einem anderen Modell in Betracht gezogen wird. Die Ablehnung der Leistung durch die Antragsgegnerin
wurde auch nur damit begründet, dass das Hilfsmittel vom Einrichtungsträger zur Verfügung gestellt werden müsse. Diese Begründung vermag
den Senat nicht zu überzeugen. Die Krankenkassen sind zur Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln grundsätzlich unabhängig davon
verpflichte, ob er in einer eigenen Wohnung oder in einem Heim lebt. Etwas anderes gilt nur bei vollstationärer Pflege in einem Pflegeheim oder in
einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe (BSG, Urteil vom 10. Februar 2000, B 3 KR 26/99 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 37). Dazu gehört
das Haus T., in dem der Kläger wohnt, nicht. Das Angebot im Haus T. richtet sich an erwachsene behinderte Menschen mit einem leichten bis
mittleren Unterstützungsbedarf, die entweder aus einer stationären Einrichtung oder aus dem Elternhaus ausziehen wollen und vorübergehend
oder auf Dauer Unterstützung bei ihrer selbständigen Lebensführung benötigen (Angaben auf der homepage der Einrichtung unter http://www.c.-
s..de/23332.html). Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Versorgung eines Behinderten mit eine Patientenlifter vorrangig Sache der
gesetzlichen Krankenversicherung (BSG, Urteil vom 12. Juni 2008, B 3 P 6/07 R, juris zu einer Deckenliftanlage). Eine Zuständigkeit der
Pflegekasse wurde vom BSG nur angenommen, wenn das Element des Behinderungsausgleichs weitestgehend in den Hintergrund tritt und die
Pflege ganz überwiegend im Vordergrund steht. Dies ist - nach summarischer Prüfung - bei der gegebenen Sachlage nicht der Fall.
7 Ein Anordnungsanspruch wird vom Senat deshalb verneint, weil auch unter Berücksichtigung der dem Antragsteller gemäß § 33 SGB I
eingeräumten Wahlfreiheit noch offen ist, welches Hilfsmittel von der Antragsgegnerin zu beschaffen ist. Dies steht einem Anordnungsanspruch
entgegen, weil die Regelungsanordnung einen Ausspruch (Tenor) verlangt, der hinreichend bestimmt ist, um Grundlage einer möglichen
Vollstreckung zu sein (vgl. VG Meiningen, Beschluss vom 31. März 2008, 1 E 683/07 Me, juris zu der Problematik bei einem geltend gemachten
Anspruch auf Neubescheidung). Die Wahlfreiheit des Antragstellers ist auf verschiedene, aber gleichermaßen geeignete und wirtschaftliche
Hilfsmittel begrenzt (vgl. BSG, Urteil vom 3. November 1999, B 3 KR 16/99 R, SozR 3-1200 § 33 Nr. 1). Ob es sich bei dem in der Verordnung
genannten Patientenlifter um ein wirtschaftliches Hilfsmittel iSd § 12 SGB V handelt, ist offen und bedarf der Klärung, die aber, da ein
Anordnungsgrund nicht gegeben ist, dem Hauptsacheverfahren bzw. hier dem Widerspruchsverfahren vorbehalten bleibt.
8 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat sieht es als sachgerecht an, dass die Antragsgegnerin die außergerichtlichen Kosten
des Antragstellers im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt, obwohl das einstweilige Rechtsschutzverfahren erfolglos geblieben ist. Denn die
Beklagte hat Anlass zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gegeben. Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage durfte der Anspruch
jedenfalls nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das Hilfsmittel gehöre zur Heimausstattung.
9 Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).