Urteil des LG Wiesbaden vom 15.04.2010

LG Wiesbaden: markt, fahrzeug, beurteilungsspielraum, fachkunde, kaufpreis, erstellung, geschäftsführer, haftpflichtversicherung, handel, wiederbeschaffungswert

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Gericht:
LG Wiesbaden 8.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 S 1/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 280 BGB, § 328 BGB, § 631
BGB
Haftung des außergerichtlichen Sachverständigen wegen
falscher Wertermittlung
Orientierungssatz
1. Maßgebend für die Pflichten des Sachverständigen bei Erstellung des
Sachverständigen ist der Inhalt des Vertrags zwischen dem Geschädigten und dem
Sachverständigen. Die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners ist in den
Schutzbereich des Vertrages zwischen dem Sachverständigen und der Geschädigten
einbezogen.
2. Der Sachverständige darf bei der Schätzung des Restwerts auf denjenigen Kaufpreis
abstellen, der auf dem allgemeinen regionalen Markt für das unfallbeschädigte
Kraftfahrzeug zu erzielen war. Hierbei genügt die Einholung von drei Angeboten als
Schätzungsgrundlage.
3. Dem Sachverständigen obliegt ein gewisser Beurteilungsspielraum, der es ihm auch
ermöglichen muss, aus eigener Sach- und Fachkunde zu beurteilen, ob er Angebote für
seriös oder für völlig überzogen hält.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 13.07.2005 verkündete Urteil des
Amtsgerichts Wiesbaden wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von
110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte
vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I.
Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz
wegen fehlerhafter Restwertberechnung geltend. Am 24.08.2002 kam es aufgrund
alleinigen Verschuldens des Versicherungsnehmers der Klägerin zu einem
Verkehrsunfall, wodurch der Pkw der Unfallgegnerin …, bei dem es sich um einen
zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls erst 23 Tage alten Peugeot 206 handelte,
erheblich beschädigt wurde. Die Unfallgegnerin beauftragte die Beklagte mit der
Erstattung eines Gutachtens zur Bezifferung ihres Fahrzeugschadens gegenüber
der Klägerin. Dieses Gutachten wurde von der Beklagten am 29.08.2002 erstattet.
Im Rahmen des Gutachtens gab einer der beiden Geschäftsführer der Beklagten
als im seriösen lokalen Handel erzielbaren Restwert des Fahrzeuges einen Betrag
in Höhe von 2.600,00 € an. Zur Ermittlung des Restwertes nahm der
Geschäftsführer der Beklagten, Herr …, u. a. eine Angebotsabfrage über die
Onlinebörse „…“ vor, welche Angebote aus dem nichtregionalen Bereich zwischen
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Onlinebörse „…“ vor, welche Angebote aus dem nichtregionalen Bereich zwischen
1.760,00 € und 4.650,00 € erbrachte. Hiervon wurden die beiden höchsten
(4.650,00 € und 4.370,00 €) von der Beklagten aussortiert. Die Unfallgegnerin
veräußerte das Fahrzeug am 29.08.2002 zu einem Kaufpreis von 2.700,00 € an ein
Autohaus. Die Klägerin rechnete auf Basis des streitgegenständlichen Gutachtens
gegenüber der Unfallgegnerin den Fahrzeugschaden wie folgt ab:
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe den Restwert des Fahrzeugs
falsch ermittelt. Bei zutreffender Bewertung hätte der Restwert bei 5.400,00 €
gelegen. Die Differenz zwischen dem zutreffenden Restwert von 5.400,00 € und
dem fehlerhaft von der Beklagten ermittelten Restwert von 2.600,00 € hätte die
Klägerin bei richtiger Bewertung bei ihrer Schadensregulierung einbehalten
können, weshalb ihr ein Schaden in Höhe von 2.800,00 € entstanden sei.
Die Klägerin hat in erster Instanz beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.800,00 € nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1
des DÜG vom 09.06.1998 seit 31.01.2003 zu zahlen.
Die Beklagte hat in erster Instanz beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, der Restwert sei im Gutachten von ihr zutreffend
angegeben worden, wobei sie mehrere Angebote regionaler Anbieter eingeholt
habe. Dabei habe sie Restwertanfragen gerichtet an die Fa. …, …, das … GmbH in
…, die Fa. … in … und die Fa. … aus …. Während die Firmen …, … und … kein
Interesse an dem Fahrzeug gehabt hätten, habe die Fa. … ein Angebot von
3.000,00 € inklusive Mehrwertsteuer abgegeben. Zur Kontrolle sei von der
Beklagten über die Restwertbörse „…“ eine Anfrage gestartet worden, wobei die
beiden höchsten Angebote aussortiert worden seien, insbesondere deshalb, da die
Fa. …, welche das zweithöchste Angebot mit 4.370,00 € abgegeben habe, in
Kollegenkreisen schon mehrmals aufgefallen sei, weil sie Angebote später nicht
gehalten habe bzw. die Fahrzeuge zu diesem Preis nicht tatsächlich habe
abnehmen wollen. Die anderen online erzielbaren Angebote, welche aus Sicht der
Beklagten nachvollziehbar und in einem realistischen Bereich abgegeben worden
seien, hätten in einer Spanne zwischen 3.333,00 € und 1.760,00 € gelegen, wobei
so genannte „Null-Gebote“ naturgemäß nicht berücksichtigt worden seien. Unter
Berücksichtigung des Umstandes, dass von den Restwertangeboten der speziellen
Restwerthändler eine Handelsspanne für den örtlichen Fachhändler von 10 – 20 %,
d. h. im Mittel 15 %, abzuziehen sei, hätte sich ein Restwert von rund 2.600,00 €
ergeben, den die Beklagte sodann festgestellt habe.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 13.07.2005 hat das Amtsgericht die Klage
abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei für den von ihr
behaupteten Schaden beweisfällig geblieben. Der im Rahmen der
Beweisaufnahme beauftragte Sachverständige YY habe den Restwert aus heutiger
Sicht nicht mehr ermitteln können. Eine Rückrechnung auf das Jahr 2002 komme
nicht in Betracht, da diese aus dem Bereich reiner Spekulation nicht mehr
herauskomme. Im Übrigen stehe dem Sachverständigen ein gewisser
Beurteilungsspielraum zu, dessen Rahmen die Sachverständigen hier nicht
überschritten hätten. Insbesondere obliege es dem Sachverständigen, aus eigener
Sach- und Fachkunde zu beurteilen, ob er Angebote für seriös hält oder für völlig
überzogen. Dabei sei es sowohl vertretbar, das jeweils höchste sowie das
niedrigste Angebot außer Betracht zu lassen, als auch, bei einer entsprechenden
Bandbreite von Angeboten, sich auf den Bereich zu konzentrieren, in dem die
meisten Angebote eingehen.
Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 29.07.2005 zugestellt worden ist, hat die
Klägerin mit am 25.08.2005 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und
diese mit Schriftsatz vom 20.09.2005, bei Gericht eingegangen am 28.09.2005,
begründet.
Sie ist der Ansicht, die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts sei
rechtsfehlerhaft. Das Gutachten des Sachverständigen YY sei so zu verstehen,
dass für das Fahrzeug ein Restwert von 4.600,00 € zugrunde zu legen sei.
Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung des am 29.07.2005 zugestellten Urteils des
Amtsgerichts Wiesbaden vom 13.07.2005 – Aktenzeichen 92 C 4895/03
– die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.800,00 € nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit
dem 31.01.2003 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Insbesondere ist sie unter Berücksichtigung
der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung der Auffassung, ein
Sachverständiger sei nicht verpflichtet, Onlinebörsen abzufragen und könne
deshalb auch nicht verpflichtet sein, ein höheres Angebot einer solchen Börse mit
einzubeziehen.
Im Übrigen wiederholen beide Parteien ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Das Gericht hat Beweis erhoben aufgrund Beweisbeschlusses vom 20.12.2007 (Bl.
442 ff d. A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens.
Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des
Sachverständigen XX vom 28.03.2008 (Bl. 452 ff d. A.) sowie auf dessen mündliche
Erläuterung gemäß Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 25.02.2010 (Bl. 543 ff d.
A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden (§§ 517, 519, 520 ZPO). In der Sache hat sie
jedoch keinen Erfolg.
Ebenso wie dem erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen Dipl.-Ing. YY ist es
auch dem in zweiter Instanz beauftragten Sachverständigen Dipl.-Ing. XX nicht
gelungen, Restwertangebote auf dem regionalen Markt einzuholen.
Der von dem Sachverständigen XX in seinem schriftlichen Gutachten ermittelte
Restwert von 4.100,00 € bis 4.300,00 € entspringt seiner eigenen Kalkulation. Wie
der Sachverständige in der öffentlichen Sitzung vom 25.02.2010 bekundet hat,
handelt es sich bei dem mit 4.100,00 € angegebenen Wert lediglich um den Wert,
welchen der Sachverständige selber ermittelt, um später prüfen zu können, ob die
gemachten Angebote realistisch und akzeptabel sind. Hierbei könne es durchaus
passieren, dass er mit einem solchen Wert dann am Markt überhaupt keinen Erfolg
habe. So sei dies bei einem kürzlichen Fall aufgetreten. Dort habe der
Sachverständige selber einen Wert von 6.000,00 € errechnet, habe aber von sechs
Betrieben lediglich rund 3.000,00 € geboten bekommen. Das Problem des hier zu
beurteilenden Falles sei gewesen, dass der Sachverständige keine weiteren
Anhaltspunkte gehabt habe, jedenfalls nicht vom regionalen Markt und auch nicht
von der Onlinebörse.
Damit war festzustellen, dass es sich bei dem durch den Sachverständigen XX
angegebenen Wert nicht um den durch Angebot und Nachfrage zu bestimmenden
Restwert des Fahrzeuges handelt, sondern um den Ausgangswert, den der
Sachverständige seinen Berechnungen zugrunde gelegt hätte, der sich jedoch
weder im regionalen noch im überörtlichen Bereich hat verifizieren lassen.
Die Klägerin ist damit für ihre Behauptung, die Beklagte habe den Restwert mit
2.600,00 € unzutreffend ermittelt, beweisfällig geblieben. Maßgebend für die
Pflichten des Sachverständigen bei Erstellung des Gutachtens ist der Inhalt des
Vertrags zwischen dem Geschädigten und dem Sachverständigen (BGH, VersR
2009, S. 413 ff). Die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners ist dabei in den
Schutzbereich des Vertrages zwischen dem Sachverständigen und der
Geschädigten einbezogen (BGH, a. a. O.). Bei der Erstellung seines Gutachtens ist
der Sachverständige jedoch nicht verpflichtet, die optimale
Verwertungsmöglichkeit für das Fahrzeug unter Einschluss der Onlinebörsen zu
ermitteln, da der Umfang des Gutachtens des Sachverständigen durch den
Gutachtenauftrag und nicht durch das Interesse des Haftpflichtversicherers des
Unfallgegners an einer besonders kostensparenden Schadensabrechnung
bestimmt wird (BGH, a. a. O.). Der Sachverständige darf deshalb bei der
Schätzung des Restwertes auf denjenigen Kaufpreis abstellen, der auf dem
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Schätzung des Restwertes auf denjenigen Kaufpreis abstellen, der auf dem
allgemeinen
erzielen war. Hierbei genügt die Einholung von drei Angeboten als
Schätzgrundlage (BGH, a. a. O.). Nur dann, wenn eine korrekte Wertermittlung
nicht gegeben ist und dadurch das Sachverständigengutachten nicht als
geeignete Schätzungsgrundlage taugt, ist das erkennende Gericht nicht gehindert,
auf der Grundlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens den auf dem
regionalen Markt erzielbaren Restwert nach § 287 ZPO zu schätzen (BGH, VersR
2010, S. 130 ff).
Dass das Sachverständigengutachten der Beklagten als ausreichende
Schätzgrundlage nicht genügt, hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht nachweisen
können. Nachdem es weder dem Sachverständigen Dipl.-Ing. YY noch dem
Sachverständigen Dipl.-Ing. XX gelungen ist, entsprechende Angebote auf dem
regionalen Markt einzuholen, ist nicht bewiesen, dass die durch den
Geschäftsführer der Beklagten vorgenommene Abfrage auf dem regionalen Markt
unzureichend bzw. unzutreffend war. Sofern die Klägerin meint, bei Anwendung
dieser Beweisgrundsätze müsse jede Klage des Versicherers aufgrund
Beweisfälligkeit abgewiesen werden, ist dem nicht zuzustimmen. Dass eine
Wertermittlung auf dem regionalen Markt im vorliegenden Fall selbst in erster
Instanz nicht mehr möglich war, liegt darin begründet, dass bei dem Pkw bereits
ab April 2003 und damit weniger als neun Monate nach dem
streitgegenständlichen Unfall bereits das Nachfolgemodell dem Handel zur
Verfügung stand. Nach Ausführungen des Sachverständigen XX handelt es sich
vorliegend um ein so genanntes „Auslaufmodell“ in einem darüber hinaus
vergleichsweise hohen Preissegment, welches in der Veräußerung ohnehin sehr
problematisch sei. Grundsätzlich könne nach den Angaben des Sachverständigen
ein regionaler Markt ohne einen Modellwechsel etwa bis zu 2 Jahre festgestellt und
abgefragt werden, was hier jedoch aufgrund des stattgefundenen Modellwechsels
nicht möglich gewesen sei. Diese spezielle Situation führte vorliegend dazu, dass
lokale Restwertangebote nicht mehr ermittelt werden konnten. Die über
Onlinebörsen abgefragten Angebote des Sachverständigen YY sind aus den oben
dargelegten Erwägungen der Restwertermittlung nicht zugrunde zu legen.
Wie das Amtsgericht zutreffend ausführt, obliegt dem Sachverständigen ein
gewisser Beurteilungsspielraum, der es ihm auch ermöglichen muss, aus eigener
Sach- und Fachkunde zu beurteilen, ob er Angebote für seriös oder für völlig
überzogen hält. Unter Berücksichtigung dieser Umstände kann das Gericht nicht
feststellen, dass der Sachverständige diesen Beurteilungsspielraum vorliegend
ermessensfehlerhaft überschritten hat oder Maßstäbe angesetzt hat, die dazu
führen würden, dass sein Gutachten als ausreichende Schätzgrundlage nicht
verwertbar wäre.
Aus diesen Gründen war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711
ZPO.
Gründe im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO, die für eine Zulassung der Revision
sprechen, sind nicht gegeben.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.