Urteil des LG Trier vom 17.07.2003

LG Trier: ausschluss der haftung, bedingter vorsatz, unfallversicherung, schüler, unfallversicherer, heilbehandlung, augenverletzung, geschoss, einzelrichter, haftungsprivileg

Bürgerliches Recht
LG
Trier
17.07.2003
3 O 209/02
Schadensersatz nach Schulunfall
3 O 209/02
Landgericht Trier
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt
gegen
, gesetzlich vertreten durch die Eltern:
- Beklagter -
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt
hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts Trier
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Juni 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht
Dr. Viesel
- als Einzelrichter -
für
R e c h t
1.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.006,89 Euro
nebst Zinsen von 5 % über dem Basiszinssatz aus einem Teilbe-
trag von 2.816,95 Euro seit dem 23.10.2002 sowie aus einem
weiteren Teilbetrag von 189,94 Euro seit 10.01.2003 zu zahlen.
2.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der
Klägerin sämtliche Kosten bis zur Höhe des zivilrechtlichen
Schadensersatzanspruches zu erstatten, die ihr aus der Ent-
schädigung des Schulunfalles der Zeugin M vom
05.09.2001 noch entstehen werden.
3.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
4.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i. H. v. 120 % des
beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d :
Die Klägerin ist Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung. Mit der vorliegenden Klage macht sie
Aufwendungen für die Schülerin M geltend, die am 05.09.2001 durch ein Papiergeschoss am Auge
verletzt worden ist.
Der am 12.02.1988 geborene Beklagte und die verletzte M besuchten am Unfalltag gemeinsam die
Klasse 8 der Realschule in . Während der Pause vor Beginn der letzten Unterrichtsstunde schossen der
Beklagte und auch andere Schüler vor dem Eintreffen des Lehrers mit zusammengefalteten
Papiergeschossen, indem sie diese Papiergeschosse mit einem dünnen Gummi abfeuerten, den sie
zwischen zwei Finger hielten und mit der anderen Hand spannten. Der Beklagte war an diesem Tag u. a.
von seinem Mitschüler D mit einem zusammengefalteten Papierkügelchen auf diese Weise beschossen
worden, was ihn veranlasst hatte, seinerseits Papiergeschosse auf den Mitschüler D abzuschießen. Ein
auf den Mitschüler D gerichtetes Papiergeschoss verfehlte sein Ziel und flog in das rechte Auge der Mit-
schülerin M, die unmittelbar neben D saß. Die Entfernung zwischen dem Beklagten und dem Mitschüler D
bei der Abfeuerung des Papiergeschosses betrug etwas mehr als 2 m.
Die Klägerin beziffert die ihr als gesetzliche Unfallversicherung entstandenen Aufwendungen, die sie für
die Heilbehandlung der Schülerin M erbracht hat, auf insgesamt 3.006,89 Euro. Mit der vorliegenden
Klage nimmt sie den Beklagten in Regress, wobei zusätzlich die Feststellung begehrt wird, dass der
Beklagte auch alle weiteren Heilbehandlungskosten aus dem Schulunfall vom 05.09.2001 zu ersetzen
hat.
Die Klägerin trägt vor,
das Schießen von Papierkügelchen könne auch im Schulalltag nicht als Kinderei oder Spielerei
bezeichnet werden, da damit stets die Gefahr einer Augenverletzung verbunden sei. Der Beklagte habe
im Alter von 13 Jahren die erforderliche Einsicht gehabt, dass die mit dem Gummi abgefeuerten
Geschosse zu Verletzungen führen könnten. Er sei daher nach den allgemeinen Vorschriften deliktisch
verantwortlich und müsse im Wege des Regresses die ihr für die Heilbehandlung der Mitschülerin M
entstandenen Aufwendungen ersetzen. Bei der Art der Augenverletzung (cataractacomplicata) sei
unfallbedingt mit weiteren Behandlungen zu rechnen, so dass der Feststellungsanspruch gerechtfertigt
sei.
Die Klägerin beantragt,
1.
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 3.006,89 Euro
nebst Zinsen von 5 % über dem Basiszins der EZB aus einem
Teilbetrag von 2.816,95 Euro seit dem 23.10.2002 sowie aus
einem Teilbetrag von 189,94 Euro seit Rechtshängigkeit zu zah
len.
2.
Festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klä-
gerin sämtliche Kosten bis zur Höhe des zivilrechtlichen
Schadensersatzanspruches zu erstatten, die ihr aus der Ent-
schädigung des Schulunfalles der Zeugin M vom
05.09.2001 noch entstehen werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor:
Es sei für ihn weder vorhersehbar geschweige denn beabsichtigt gewesen, bei den Spielereien mit den
Papierkügelchen andere Mitschüler zu verletzen. Es habe sich um eine Neckerei und Spielerei gehandelt,
die zum Schulalltag gehöre. Er habe sich für die zuvor von dem Mitschüler D abgeschossenen
Papierkügelchen zur Wehr setzen wollen, indem er ein Papiergeschoss auf dessen Jacke schieße. Das
Geschoss habe dann unglücklicherweise die neben ihm sitzende Mitschülerin M getroffen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass mit der Neuregelung der §§ 104 ff. SGB VII inhaltlich keine
Änderung zu den früheren Vorschriften der §§ 636 ff. RVO beabsichtigt gewesen seien. Nach der früheren
Regelung sei die Haftungsprivilegierung bei Schulunfällen nur dann weggefallen, wenn sich der Vorsatz
des Schülers auch auf die Verletzungsfolgen erstreckt habe. Das sei hier jedoch nicht der Fall gewesen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze verwiesen.
Das Gericht hat den Beklagten gemäß § 141 ZPO zum Unfallhergang angehört. Auf die
Sitzungsniederschrift wird insoweit Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage ist begründet. Der Klägerin steht der aus § 110 Abs. 1 SGB VII i. V. m. § 823 Abs. 1 BGB geltend
gemachte Regressanspruch gegen den Beklagten nach Grund und Höhe zu.
Der Beklagte war für die Verletzungen, die das von ihm abgeschossene Papierkügelchen bei der
Mitschülerin M verursachte, deliktisch in vollem Umfang verantwortlich, da ein 13jähriger Junge die
erforderliche Einsicht hat, dass ein solches Papiergeschoss zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder
zu Verletzungen führen kann, wenn es gegen das Gesicht oder gar gegen das Auge eines anderen trifft
(§§ 823, 828 BGB). Nach §§ 104, 110 Abs. 1 SGB VII ist danach der Beklagten verpflichtet, für die infolge
des Unfalles entstandenen Aufwendungen der Klägerin bis zur Höhe des zivilrechtlichen
Schadensersatzanspruches Ersatz für die unfallbedingten Personenschäden zu leisten. Der bei
Schulunfällen in der gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehene Haftungsausschluss greift entgegen
der Auffassung des Beklagten nicht ein.
Ein Ausschluss der Haftung des Beklagten für die Folgen des vorliegenden Schulunfalles ergibt sich bei
Ansprüchen des Geschädigten aus den §§ 104 Abs. 1, 105 Abs. 1 SGB VII i. V. m. § 106 Abs. 1 Nr. 1 und §
2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII. Danach ist bei einer Verletzung eines Mitschülers der Schädiger nur dann zum
Ersatz des Personenschadens nach dem Recht der unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB) verpflichtet,
wenn er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes (NJW 2003, 1605) greift das Haftungsprivileg auch nach der Neuregelung der gesetzlichen
Unfallversicherung in §§ 104, 105 SGB VII ein, wenn der Schädiger zwar vorsätzlich gehandelt hat, der
eingetretene Schaden indes nicht vom Vorsatz umfasst war. Der Gesetzgeber hat indes für die von der
Klägerin geltend gemachten Regressansprüche in § 110 Abs. 1 S. 3 SGB VII ausdrücklich festgelegt, dass
sich das Verschulden, das bei einer vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Herbeiführung des Versiche-
rungsfalles den Haftungsausschluss aufhebt, sich nur auf das den Versicherungsfall verursachende
Handeln oder Unterlassen zu beziehen braucht. Die Entsperrung der Haftung tritt damit bei Regress-
ansprüchen, die der gesetzliche Unfallversicherer nach § 110 Abs. 1 SGB VII gegen den Schädiger
geltend macht, auch dann ein, wenn der durch die Verletzung entstandene Schaden nicht vom Vorsatz
umfasst war. Auch wenn bei den typischen Schulunfällen - wie hier - durch Spielereien und Raufereien
außerhalb des eigentlichen Schulunterrichts im Normalfall die Mitschüler gegenseitig sich keine
ernsthaften und dauerhaften Verletzungen zufügen wollen (vgl. BGHZ 75, 328, 333) und somit ein
bedingter Vorsatz für die Verletzungsfolge entfällt, bleibt der Schädiger somit nach § 110 Abs. 1 SGB VII
dem gesetzlichen Unfallversicherer gegenüber zum Ersatz der verletzungsbedingten Aufwendungen
haftbar.
Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen ergibt sich danach vorliegend Folgendes:
Bei der Anhörung des Beklagten haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass der Beklagte beim
Abschießen des Papierkügelchens, das die Mitschülerin M getroffen hat, eine ernsthafte Verletzung eines
anderen Mitschülers gewollt hat. Denn nach den glaubhaften Angaben des Beklagten wollte er mit dem
Papiergeschoss lediglich den Pullover (Körper) des Mitschülers D treffen, der ihn zuvor ebenfalls
beschossen hat. Der möglicher Eintritt einer ernsthaften Verletzung ist vom Beklagten weder billigend in
Kauf genommen worden, noch grobfahrlässig außer Acht gelassen worden. Nach der früheren
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu §§ 636 ff. RVO wäre danach eine Haftung des Beklagten für
die Folgen des Schulunfalles vom 05.09.2001 nicht gegeben gewesen. Nach der ausdrücklichen
Regelung in § 110 Abs. 1 S. 3 SGB VII ist der Beklagte als Schädiger indes - wie ausgeführt - nunmehr
verpflichtet, die von der Klägerin geltend gemachten Regressansprüche zu erfüllen.
Die Höhe der Klageansprüche ist durch die vorgelegten Krankenunterlagen belegt und im Einzelnen nicht
bestritten worden. Nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Klägerin ist auf Grund der Verletzung
der Mitschülerin M mit weiteren unfallbedingten Aufwendungen zu rechnen. Der mit dem Klageantrag
Ziffer 2. geltend gemachte Feststellungsantrag ist daher begründet.
Die Zinsforderung ist nach den §§ 286, 288 BGB gerechtfertigt.
Die übrigen Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 91, 709 ZPO.
(Dr. Viesel)
- Einzelrichter -
Ausgefertigt
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäfts-
stelle des Landgerichts