Urteil des LG Stuttgart vom 24.02.2016

verschulden, betriebsgefahr, wirtschaftliches interesse, halter

LG Stuttgart Urteil vom 24.2.2016, 13 S 46/15
Schadenersatzanspruch des Eigentümers eines unfallbeschädigten Fahrzeugs:
Zurechenbarkeit der Betriebsgefahr des Halters
Leitsätze
Wenn bei einem beiderseits nicht unabwendbaren Verkehrsunfall bei keinem der
beteiligten Fahrer ein Verschulden festzustellen ist, kann der vom Halter und Fahrer
personenverschiedene Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs den Halter des
anderen Fahrzeugs und dessen Haftpflichtversicherung dem Grunde nach auf Ersatz
seines gesamten Schadens in Anspruch nehmen, weil es an einer gesetzlichen
Zurechnungsnorm fehlt, wonach sich der Eigentümer die Betriebsgefahr des Halters
zurechnen lassen müsste.
Tatbestand
I.
1 Der Kläger/Berufungskläger (im Folgenden Kläger) nimmt nach einem
Verkehrsunfall die Beklagten/Berufungsbeklagten (künftig Beklagte), den Beklagten
Ziff. 1 als Halter und die Beklagte Ziff. 2 als Haftpflichtversicherung, auf Zahlung
weiteren Schadenersatzes in Anspruch. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt Halter
und Anwartschaftsberechtigter des an die L. sicherungsübereigneten beschädigten
Fahrzeugs …. Die L. hat den Kläger ermächtigt, Schadensersatzansprüche aus
dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen gegen die Beklagten im eigenen
Namen geltend zu machen. Hinsichtlich der Reparaturkosten wurde der Kläger
ermächtigt, die Forderung an sich zu stellen und die Reparaturkosten zu bezahlen.
Hinsichtlich der Wertminderung wurde der Kläger lediglich ermächtigt, Zahlung an
die finanzierende Bank zu verlangen. Darüber hinaus verfolgt der Kläger über die
bereits geleisteten Zahlungen der Beklagten hinausgehende Ansprüche auf
vorgerichtliche Sachverständigenkosten, Nutzungsausfallentschädigung und eine
allgemeine Unkostenpauschale.
2 Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von … stattgegeben.
3 In seiner Begründung führte das Amtsgericht aus, dass dem Kläger ein Anspruch
auf Ersatz von 50 % seines unfallbedingten Schadens zustehe. Nach dem Ergebnis
der durchgeführten Beweisaufnahme könne der Unfallhergang nicht aufgeklärt und
ein Verschulden nicht festgestellt werden, da nicht geklärt werden könne, ob zuerst
die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ihren Abbiegevorgang oder der Beklagte
Ziff. 1 seinen Überholvorgang eingeleitet habe. Daher sei von einer 50-prozentigen
Haftung auszugehen. Unter Zugrundelegung eines Schadens von … bestehe der
Anspruch in Höhe von … .
4 Gegen dieses dem Kläger am 10.04.2015 zugestellte Urteil hat der Kläger mit
Schriftsatz vom 23.04.2015 Berufung eingelegt.
5 Die Berufung wendet sich dagegen, dass das Amtsgericht bei sämtlichen
Schadenspositionen von einer hälftigen Haftungsverteilung ausgegangen ist und
nicht berücksichtigt hat, dass die L. als Sicherungseigentümerin nicht Halterin des
klägerischen Fahrzeugs ist. Der Eigentümerin könne bei den fahrzeugbezogenen
Schadenspositionen die Betriebsgefahr nicht zugerechnet werden, da eine
Zurechnungsnorm nicht existiere (vgl. BGH, Urteil vom 10.7.2007, VI ZR 199/06 und
OLG Karlsruhe, Urteil vom 02.12.2013, 1 U 74/13).
6 Hingegen hat der Kläger die Feststellungen des Amtsgerichts, dass das
Unfallgeschehen unaufklärbar sei, mit der Berufung nicht angegriffen. Zu den
fahrzeugbezogenen Schadenspositionen rechnet der Kläger ….
7 Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung und führen vertiefend
aus, dass das Amtsgericht ein Verschulden der Fahrerin des klägerischen
Fahrzeuges fehlerhaft nicht festgestellt habe, obwohl der Sachverständige in
seinem Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass sich die Zeugin nicht rechtzeitig zur
Fahrbahnmitte eingeordnet hat. Ausgehend von diesem Verschulden sei eine
Haftungsverteilung, wie das Amtsgericht vorgenommen, nicht zu beanstanden und
ein Verschulden des klägerischen Fahrzeugs der Sicherungseigentümerin
zurechenbar, zumal die Entscheidung des BGH (Urteil vom 10.7.2007, VI ZR
199/06) lediglich die deliktische Haftung betreffe.
8 In der Berufungsinstanz haben die Parteivertreter unstreitig gestellt, dass von der
Beklagten Ziff. 2 an den Kläger … bezahlt wurden.
9 Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II.
10 Die Berufung ist zulässig. Sie wurde insbesondere form- und fristgerecht
eingereicht und begründet.
11 Auch in der Sache hat die Berufung überwiegend Erfolg.
12 Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein weiterer Schadensersatzanspruch in
Höhe von … gemäß §§ 7, 17 Abs. 2 StVG, 115 VVG zu. Das Amtsgericht hat nicht
berücksichtigt, dass sich die Eigentümerin des klägerischen Fahrzeugs, da Sie
nicht dessen Halterin ist, die Betriebsgefahr nicht zurechnen lassen muss und
daher einen Anspruch auf Ersatz von 100 % ihres Schadens hat (vgl. BGH, Urteil
vom 10.7.2007, VI ZR 199/06).
13 1. Die von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeit der gewillkürten
Prozessstandschaft des Klägers, welcher mit der Klage auch fremde
Schadenersatzansprüche der Eigentümerin des Fahrzeugs geltend macht, ist zu
bejahen. Denn der Kläger wurde von der Eigentümerin des unfallbeschädigten
Fahrzeugs unter Bezugnahme auf den konkreten Schadensfall zur
Geltendmachung der Schadensersatzansprüche im eigenen Namen ermächtigt
(Anlage K 1) und gegen die Zulässigkeit der gewillkürten Prozessstandschaft
bestehen keine Bedenken, da der Kläger als Sicherungsgeber ein wirtschaftliches
Interesse an der Durchsetzung der streitgegenständlichen
Schadensersatzansprüche hat. Eine Benachteiligung der Beklagten ist nicht
ersichtlich.
14 2. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Schadenersatz der
Sicherungseigentümerin wegen Beschädigung des Eigentums folgt aus §§ 7
StVG, 115 VVG.
15 Das Amtsgericht hat in seinem Urteil festgestellt, dass der Hergang des
streitgegenständlichen Verkehrsunfalls nicht aufklärbar und daher ein Verschulden
der unfallbeteiligten Fahrzeugführer nicht feststellbar ist. An diese Feststellungen
des Amtsgerichts, welche ausdrücklich mit der Berufung nicht angegriffen wurden,
ist die Kammer gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Unter Zugrundelegung
dieses Sachverhalts scheidet -mangels festgestelltem Verschulden des
Unfallgegners- ein deliktischer Anspruch gemäß § 823 BGB aus, sodass lediglich
Schadenersatzansprüche aus der Gefährdungshaftung gemäß § 7 StVG
bestehen.
16 2.1. Die Sicherungsnehmerin muss sich als Eigentümerin des Fahrzeugs, deren
Ansprüche der Kläger vorliegend geltend macht, die Betriebsgefahr des
klägerischen Fahrzeugs, mangels anwendbarer Zurechnungsnorm, nicht
zurechnen lassen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 10.07.2007, VI ZR 199/06; OLG
Karlsruhe, Urteil vom 02.12.2013, 1 U 74/13).
17 In § 17 Abs. 2 StVG ist ausdrücklich die Haftungsverteilung der Halter
untereinander geregelt. Eine analoge Anwendung dieser Norm auf Ansprüche des
Fahrzeugeigentümers, welcher nicht Halter ist, scheidet aus. Denn trotz der
Änderungen in § 17 Abs. 3 StVG hat der Gesetzgeber, dem ein Auseinanderfallen
von Halter- und Eigentümerstellung bewusst war, die Regelung in § 17 Abs. 2
StVG unverändert beibehalten. Eine Analogie scheidet daher sowohl mangels
einer unbewussten Lücke als auch im Hinblick auf den eindeutigen
Gesetzeswortlaut aus (vgl. BGH, Urteil vom 10.7.2007, VI ZR 199/06). Etwas
anderes kann, nach Ansicht der Kammer, auch nicht aus den Ausführungen den
BGH in seinem Urteil vom 7.12.2010, VI ZR 288/09 entnommen werden. Zwar führt
er aus, dass in dem Fall wenn „wegen nicht nachweisbaren Verschuldens nur
Ansprüche des Leasinggebers aus Gefährdungshaftung im Sinne des § 7 StVG
[bestehen, der Fahrzeugeigentümer] sich im Haftungssystem des
Straßenverkehrsgesetzes das Verschulden des Fahrers des Leasingfahrzeugs
bereits bei der Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs gegen den
Unfallgegner nach §§ 9, 17 StVG, § 254 BGB anspruchsmindernd zurechnen
lassen“. Dies kann aber nur dann gelten, wenn zwar kein Verschulden des
Unfallgegners jedoch ein Verschulden des Fahrers des Leasing- bzw.
sicherungsübereigneten Fahrzeugs feststeht. Dies trifft jedoch für den
streitgegenständlichen Verkehrsunfall gerade nicht zu.
18 Ebenfalls scheiden als Zurechnungsnormen § 9 StVG sowie § 254 BGB aus.
19 Nachdem § 254 BGB bereits keine Anwendung findet, da keine deliktische
Haftung vorliegt, scheidet vorliegend auch eine Zurechnung gemäß § 9 StVG aus,
da ein Verschulden der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs gerade nicht
festgestellt wurde. Es kommt insoweit auch eine analoge Anwendung des § 9
StVG nicht in Betracht. Eine entsprechende verschuldensunabhängige
Anwendung auf die mitwirkende Betriebsgefahr würde dem Haftungssystem des
StVG, der die Abwägung der Betriebsgefahr ausschließlich in § 17 StVG regelt,
nicht entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 10.7.2007, VI ZR 199/06).
20 2.2. Mangels Zurechnung der Betriebsgefahr beläuft sich der vom Kläger geltend
gemachte fahrzeugbezogene Schaden auf …
21 3. Der Anspruch der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten errechnet sich ….
22 4. In Höhe der Hauptforderung von … ergibt sich der Zinsanspruch aus §§ 286,
288 BGB. Hinsichtlich der erstmals mit der Klage geltend gemachten weiteren
Forderung beruht der Zinsanspruch auf § 291, 288 BGB.
III.
23 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 2, 100 Abs. 4 ZPO.
24 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10,
711 ZPO.
IV.
25 Die Revision gegen das Urteil ist gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen.
26 Im Hinblick auf eine Vielzahl von Fällen in denen aufgrund von
Sicherungseigentum oder eines Leasingvertrages Eigentümer und Halter eines
Fahrzeugs auseinanderfallen, ist es im Hinblick auf die Entscheidung des BGH
vom 10.07.2007 von grundsätzlicher Bedeutung, ob im Rahmen der
Gefährdungshaftung die Betriebsgefahr dem Eigentümer zurechenbar ist, zumal
die Ausführungen des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 7.12.2010, VI ZR
288/09 so verstanden werden können.