Urteil des LG Stuttgart vom 22.04.2015

vernehmung von zeugen, verschulden, betriebsgefahr, teilweise abweisung

LG Stuttgart Urteil vom 22.4.2015, 13 S 172/14
Verkehrsunfallhaftung: Zurücktreten der Betriebsgefahr eines vorbeifahrenden
Pkw bei Kollision mit der geöffneten Fahrertür eines parkenden Pkw
Leitsätze
Öffnet der Fahrer eines am rechten Fahrbahnrand geparkten Fahrzeugs unachtsam
die Autotür in den Verkehrsraum des fließenden Verkehrs hinein, dann begründet das
ein erhebliches Verschulden, hinter dem die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs
im fließenden Verkehr regelmäßig zurücktritt.
Revision nicht zugelassen.
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Esslingen vom
04.11.2014, Az. 7 C 712/14, a b g e ä n d e r t: Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen trägt der Kläger.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Berufungsstreitwert: 739,73 EUR
Gründe
I.
1 Der Kläger macht Ansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.
2 Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Unfall durch ein erhebliches
Verschulden der Fahrerin des am rechten Fahrbahnrand parkenden klägerischen
Fahrzeugs (Türöffnen in den Verkehrsraum) verursacht wurde, dass den
Beklagten Ziff.1 kein Verschulden (nicht zu schnell, ausreichender Abstand) trifft,
dass die Beklagten aber eine 20%-ige Betriebsgefahr tragen müssen, welche auch
hinter dem erheblichen Verschulden nicht zurücktritt. Gegen dieses Urteil haben
die Beklagten Berufung eingelegt - die teilweise Abweisung der Klage ist
rechtskräftig -, mit welcher sie weiterhin eine vollständige Klagabweisung
anstreben.
3 Wegen der Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen des
angefochtenen Urteils gem. § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen. Auf die
Darstellung des Berufungsvorbringens wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a, 542, 544
ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO verzichtet.
II.
4 Die form- und fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehene
Berufung der Beklagten hat Erfolg, sie führt zu einer vollständigen Klagabweisung.
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1)
Soweit das Amtsgericht feststellt, dass die Klägerseite ein erhebliches
Verschulden trifft, die Beklagtenseite dagegen kein Verschulden, ist das Urteil des
Amtsgerichts nicht angefochten und daher der Entscheidung der
Berufungskammer zugrunde zu legen.
6 Zutreffend hat das Amtsgericht auch festgestellt, dass die Beklagten den
Unabwendbarkeitsbeweis nicht führen konnten. Zu dieser Auffassung ist das
Amtsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Vernehmung
von Zeugen aufgrund freier Überzeugungsbildung gem. § 286 ZPO rechtsfehlerfrei
gelangt. Das Berufungsgericht ist gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die
Feststellungen des Amtsgerichts gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte
Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit begründen. Solche Anhaltspunkte
ergeben sich weder aus der Akte noch aus der Berufungsbegründung. Das
Amtsgericht hat die Tatsachen insoweit weder verfahrensfehlerhaft festgestellt
noch verstößt die Würdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine
Erfahrungssätze, gerichts- oder allgemein bekannte Tatsachen. Vielmehr erscheint
es auch der Berufungskammer angesichts der Ausführungen des
Sachverständigen naheliegend und richtig, dass die Unabwendbarkeit nicht
feststeht. Letztlich kommt es darauf aber nicht an.
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2)
Die Kammer folgt nämlich nicht der Rechtsansicht des Amtsgerichts, dass die
Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs neben dem erheblichen Verschulden auf
Klägerseite bestehen bleibe; jene tritt hier zurück.
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a)
Nach § 17 Abs. 1 StVG hängt bei einer Schadensverursachung durch mehrere
Kraftfahrzeuge die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden
Ersatzes von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere davon ab, inwieweit
der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Fahrzeug verursacht
worden ist. Diese Abwägung ergibt hier, dass die Fahrerin des klägerischen
Fahrzeugs den Unfall so überwiegend fahrlässig verursacht hat, dass im Verhältnis
dazu die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten Ziff.1 kein
anspruchsminderndes Eigengewicht hat.
9 Nicht nur nach der ständigen Kammerrechtsprechung, sondern auch nach der
gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs tritt die einfache
Betriebsgefahr regelmäßig hinter einem erheblichen Verschulden der Gegenseite
zurück (vgl. BGH Urteil vom 27.05.2014 - VI ZR 279/13). Gerade bei dem
plötzlichen Öffnen der Fahrertür eines parkenden Pkws unter Verstoß gegen § 14
StVO ist nach ganz herrschender Ansicht, welcher die Kammer folgt, von einem
solchen schweren Verschulden auszugehen, weil das Fließen des Verkehrs nur
dann gewährleistet ist, wenn sich die mit angemessener Geschwindigkeit und
regelgerechtem Abstand Vorbeifahrenden darauf verlassen können, dass nicht
unerwartet eine Fahrzeugtür in den Fahrbereich hinein geöffnet wird (vgl.
beispielhaft LG Saarbrücken Beschluss vom 28.01.2010 - 13 S 228/09; KG
Beschluss vom 06.03.2008 - 12 U 59/07; LG Limburg Urteil vom 09.10.2009 - 4 O
341/08; OLG Hamburg Beschluss vom 11.06.2004 - 14 U 35/04; OLG Stuttgart
Urteil vom 07. 04.2010 – 3 U 216/09).
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b)
Im vorliegenden Fall liegt auch keine erhöhte Betriebsgefahr vor, welche
ausnahmsweise nicht zurücktreten würde. Darauf, dass an der Unfallstelle
regelmäßig und auch zum Unfallzeitpunkt starker Parksuchverkehr geherrscht
habe, kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Denn aus diesem Vortrag
würde sich auch dann, wenn er unstreitig wäre, weder ein vermindertes
Verschulden der Klägerseite noch eine erhöhte Betriebsgefahr auf der
Beklagtenseite ergeben. Auch bei regem Parksuchverkehr muss ein
Aussteigender mit großer Vorsicht vorgehen und ein Fahrender darf sich darauf
verlassen, dass nicht unvermittelt eine Türe geöffnet wird.
11 Dass der Beklagte Ziff.1 anhand eines aufleuchtenden Innen- oder Kontrolllichts
an der Tür des Pkws des Klägers die Absicht der Fahrerin des klägerischen
Fahrzeugs vorab hätte erkennen können, hat das Amtsgericht gerade nicht
festgestellt, weswegen auch insoweit die Betriebsgefahr nicht erhöht ist. Und
schließlich führte auch der Umstand - wenn er denn tatsächlich so gegeben
gewesen wäre -, dass sich die Beifahrerin auf dem Gehweg neben dem
klägerischen Fahrzeug befand, nicht zu einem anderen Ergebnis. Zum einen steht
schon gar nicht fest, ob der Beklagte diese Beifahrerin in der herrschenden
Dunkelheit sehen konnte und gesehen hat. Zum anderen ist die Berufungskammer
der Ansicht, dass Personen auf dem Gehweg vorbeifahrenden Fahrzeugen keinen
Anlass geben, einen größeren Abstand als 0,5 m zu parkenden Fahrzeugen
einzuhalten oder besonders langsam (deutlich unter 30 km/h) zu fahren. Personen
auf dem Gehweg sind ein ständiges und keineswegs zu besonderer Vorsicht
Anlass gebendes Phänomen. Eine Vermutung, dass Personen auf dem Gehweg
bedeuten, dass demnächst jemand aus dem Fahrzeug steigen werde, neben dem
sie sich befinden, gibt es nicht.
III.
12 Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
13 Anlass, die Revision nach § 543 ZPO zuzulassen, besteht nicht, weil die
Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts
oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine weitere Entscheidung
des Revisionsgerichts zu den relevanten Rechtsfragen nicht erfordert.