Urteil des LG Stuttgart vom 10.07.2006

LG Stuttgart (streitverkündung, zustellung, zpo, akten, grobe fahrlässigkeit, rechtliches gehör, aug, ablehnung, beschwerde, zivilprozessordnung)

LG Stuttgart Beschluß vom 10.7.2006, 10 T 126/06
Streitverkündung an den gerichtlich bestellten Sachverständigen
Leitsätze
Die Streitverkündung an einen vom Gericht bestellten Sachverständigen ist unzulässig. Die
Streitverkündungsschrift darf ihm nicht zugestellt werden.
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des AG Nürtingen vom 30.03.2006, Az. 12
H 38/04, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragsgegnerin.
3. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Beschwerdewert: 1 000 EUR
Gründe
I.
1
Die Antragsteller beantragten mit Schriftsatz vom 29.12.2004 beim Amtsgericht Nürtingen die Durchführung
eines selbständigen Beweisverfahrens. Das Gericht beauftragte hierzu den Sachverständigen Dipl.-Ing. K. D..
Mit Schriftsatz vom 07.04.2005 (Bl. 26 ff. der Akten) lehnte der Antragsgegnervertreter den Sachverständigen
wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Mit Beschluss vom 22.04.2005 wies das Amtsgericht diesen Antrag
zurück (Bl. 45 ff. der Akten), was vom Landgericht in der Beschwerdeinstanz mit Beschluss vom 22.07.2005
bestätigt wurde (Bl. 67 ff. der Akten). Mit Schriftsatz vom 31.10.2005 lehnte der Antragsgegnervertreter den
Sachverständigen erneut wegen Besorgnis des Befangenheit ab (Bl. 115 der Akten). Auch diesen Antrag wies
das Amtsgericht mit Beschluss vom 15.11.2005 zurück (Bl. 118 ff. der Akten). Mit Schriftsatz vom 21.03.2006
verkündete der Antragsgegnervertreter dem vom Gericht beauftragten Sachverständigen den Streit (Bl. 183 f.
der Akten), weil sich herausgestellt habe, dass das Gutachten des Sachverständigen an erheblichen Mängeln
leide. Aufgrund seiner Fachkunde sei der Sachverständige nicht in der Lage, entsprechende Gutachten zu den
einzelnen Themen zu erstatten. Insoweit werde auf § 839a BGB verwiesen. Dem Sachverständigen sei
mindestens grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen.
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Das Amtsgericht wies mit Beschluss vom 30.03.2006 die Streitverkündung des Antragsgegnervertreters als
unzulässig zurück und stellte die Streitverkündungsschrift nicht zu (Bl. 185 ff. der Akten). Die Streitverkündung
sei rechtsmissbräuchlich erfolgt, weil die Antragsgegner mit ihr nur das Ziel verfolgten, den Sachverständigen
aus dem Verfahren zu entfernen, was sich bereits an den erfolglosen Befangenheitsanträgen zeige. Weiterhin
könne der Sachverständige dem Streit nicht ohne weiteres beitreten; andernfalls riskiere er seine Ablehnung
gemäß §§ 406, 41 ff. ZPO. Trete er wiederum nicht bei, so verliere er sein Recht auf rechtliches Gehör. Die
Fürsorgepflicht gegenüber dem Sachverständigen gebiete die Klarstellung, dass eine Streitverkündung deshalb
unzulässig sei. Im Übrigen sei der Sachverständige nicht Dritter im Sinne von § 72 ZPO, sondern Helfer des
Gerichts.
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Gegen diesen am 05.04.2006 zugestellten Beschluss legte die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom
06.04.2006 „Rechtsmittel“ ein (Bl. 189 f. der Akten). Das Amtsgericht half dem Begehren der Antragsgegnerin
mit Beschluss vom 06.04.2006 nicht ab und legte die Akten dem Landgericht vor (Bl. 193 f. der Akten).
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Mit Beschluss vom 25.04.2006 übertrug die Einzelrichterin das Verfahren auf die Kammer. Für die weiteren
Einzelheiten wird auf den schriftsätzlichen Inhalt der Akte verwiesen.
II.
5
Das Begehren des Antragsgegnervertreters ist als sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Nürtingen vom 30.03.2006 auszulegen. Diese ist gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zulässig und
insbesondere fristgemäß eingelegt. Mit seinem Beschluss vom 30.03.2006 wies das Amtsgericht die
Streitverkündung der Antragsgegnerin als unzulässig zurück und verweigerte damit die Zustellung der
Streitverkündungsschrift. Diese Ablehnung der von Amts wegen vorzunehmenden Zustellung steht der
Zurückweisung eines Verfahrensgesuchs gleich (so OLG Celle, Beschluss vom 24.08.2005, BauR 2006, 140
ff., 141 mwN).
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Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin hat aber in der Sache keinen Erfolg. Denn das Amtsgericht war
nach Ansicht der Kammer dazu berechtigt, die Zustellung der Streitverkündung zu verweigern.
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In Rechtsprechung und Literatur herrscht bislang Uneinigkeit darüber, ob die Zustellung einer
Streitverkündungsschrift an einen Sachverständigen vom Gericht abgelehnt werden darf oder nicht. Teilweise
wird vertreten, dass die Zulässigkeit der Streitverkündung erst vom Folgegericht geprüft werden dürfe; das
Gericht der Hauptsache fungiere lediglich als Zustellungsgehilfe und müsse von Amts wegen die Zustellung
dieses bestimmenden Schriftsatzes gemäß §§ 73 Satz 2, 166 Abs. 2 ZPO ohne weitere Prüfung einer
Zulässigkeit der Streitverkündung veranlassen (so OLG Celle, Beschluss vom 24. 08.2005, BauR 2006, 140
ff.; zustimmend Ulrich, BauR 2006, S. 724, 726 f.). Die Gegenauffassung hält jedenfalls dann die
Verweigerung des Hauptsachegerichts, die Streitverkündungsschrift zuzustellen, für berechtigt, wenn
ausnahmsweise ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen des Antragstellers auf der Hand liege (in dieser Weise
einschränkend OLG Celle, Beschluss vom 14.11.2005, BauR 2006, 722 ff.). Vertreten wird aber auch die
Auffassung, dass eine Streitverkündung an den vom Gericht beauftragten Sachverständigen generell
unzulässig sei, als rechtsmissbräuchlich angesehen werden müsse und deshalb die Streitverkündungsschrift
nicht zuzustellen sei. Ihre Zustellung ist hiernach sogar rechtswidrig (so OLG Stuttgart, Beschluss v.
22.03.2006, Az. 6 W 7/06, IBR 2006, 305; OLG Koblenz, Beschluss vom 28.09.2005, BauR 2006, 144 ff.; in
der Sache ebenso OLG München, Beschluss vom 29.07.2005, IBR 2006, 239; eine Streitverkündung ebenfalls
ablehnend OLG Bamberg, Beschluss vom 09.01.2006, Az. 4 U 186/05, IBR 2006, 306; zustimmend
Kamphausen, BauR 2006, S. 142 ff.; ders. IBR-Online 2006, 121 - Anmerkung; ders. IBR 2006, 239 -
Anmerkung; mit ausführlicher dogmatischer Begründung Böckermann, MDR 2002, 1348 ff., 1351).
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Im vorliegenden Fall erfolgte die Streitverkündung nach Ansicht der Kammer rechtsmissbräuchlich. Denn nach
dem bisherigen Verfahrensverlauf hatte der Antragsgegnervertreter bislang zweimal vergeblich versucht, den
Sachverständigen durch Befangenheitsanträge vom Verfahren auszuschließen. Als sich die Fortsetzung des
Verfahrens mit demselben Sachverständigen abzeichnete, erklärte der Antragsgegnervertreter die
Streitverkündung an den Sachverständigen. Zu diesem Zeitpunkt war das Verfahren nicht abgeschlossen; ganz
im Gegenteil sollten weitere Ausführungen des Sachverständigen folgen. Nach Ansicht der Kammer zeigt sich
an dem bisherigen Verfahrensverlauf, dass der Antragsgegnervertreter mit seiner Streitverkündung kein
sachliches Ziel verfolgte. Er wollte vielmehr - gleichsam über die Hintertür der Streitverkündung - seinen
bislang erfolglosen Versuchen, den Sachverständigen vom Verfahren auszuschließen, endlich zum Erfolg
verhelfen. Schon aufgrund dieser besonderen Umstände war das Amtsgericht nicht dazu verpflichtet, die
Streitverkündungsschrift zustellen zu lassen, sondern durfte die Zustellung wegen Rechtsmissbrauchs
verweigern.
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Die Kammer ist weiterhin - unabhängig von der im vorliegenden Verfahren gewonnenen Überzeugung konkret
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens - der Ansicht, dass eine Streitverkündungsschrift an einen
Sachverständigen auch generell nicht zuzustellen ist, weil eine solche Zustellung rechtswidrig wäre. Denn eine
Streitverkündung gegenüber einem gerichtlich bestellten Sachverständigen ist ebenso wie eine
Streitverkündung gegenüber einem erkennenden Richter nach Ansicht der Kammer unzulässig und widerspricht
den elementaren Grundsätzen der Zivilprozessordnung („Systemwiderspruch“ nach OLG Stuttgart, a.a.O.). Mit
der Streitverkündung benachrichtigt eine verfahrensbeteiligte Partei einen „Dritten“ vom Schweben des
Prozesses, um auf diese Weise ihre Position gegenüber dem „Dritten“ zu verbessern, als nunmehr die
gesetzlichen Vorschriften über die Nebeninterventionswirkung eingreifen. Als Ausgleich hierfür wird dem
„Dritten“ die Möglichkeit eröffnet, sich an dem schwebenden Prozeß aktiv zu beteiligen, um darauf in seinem
Sinne und damit parteilich Einfluß zu nehmen (zum Ganzen Stein/Jonas/Bork, 22. Auflage 2004, § 72 Rn. 1).
Eine solche Position eines „Dritten“ wird aber weder der erkennende Richter noch ein Sachverständige
einnehmen können. Denn dieser einseitigen Interessenvertretung widerspricht die zwingend auf Unparteilichkeit
angelegte Funktion des erkennenden Richters ebenso wie des Sachverständigen. Mag zwar letzterer nach der
Zivilprozessordnung als „Beweismittel“ vorgesehen sein. Mit ihm hilft sich das Gericht aber seinerseits über die
fehlende eigene Sachkunde hinweg und er wird - trotz Beweismittel - zugleich „Gehilfe des Gerichts“ (dazu
Damrau, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 2. Auflage 2000, § 402 Rn. 2). Seine
Unparteilichkeit leitet sich damit aus seiner Stellung im Rahmen des Prozesses ab und wird durch § 406 ZPO,
der die Ablehnung des Sachverständigen bei Zweifeln an dieser Unabhängigkeit vorsieht, ausdrücklich
manifestiert. Mit dieser Vorgabe unvereinbar ist demgegenüber die Interessenvertretung im Rahmen der
Streitverkündung, die aber im Sinne einer Waffengleichheit gegenüber der einseitig, durch bloße Zustellung der
Streitverkündungsschrift hergestellten Nebeninterventionswirkung, notwendig ist. Der Sachverständige ist
deshalb nicht „Dritter“ im Sinne von § 72 ZPO. Dieser offensichtliche und elementare Widerspruch führt aber,
auch zur Sicherung des weiteren Verfahrensablaufs, dazu, dass eine Zustellung der Streitverkündungsschrift
ausnahmsweise rechtswidrig wäre (zur weiteren dogmatischen Begründung ausführlich Böckermann, a.a.O.)
und wurde deshalb vom Amtsgericht zu Recht verweigert wurde.
10 Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO. Die Rechtsbeschwerde wurde gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3
iVm. Abs. 2 ZPO zugelassen, weil der diesem Verfahren zugrundeliegenden Rechtsfrage, nämlich
Streitverkündung an einen gerichtlich bestellten Sachverständigen sowie Verweigerung der Zustellung der
Streitverkündungsschrift durch das Prozessgericht nicht nur grundsätzliche Bedeutung nach § 574 Abs. 2 Nr. 1
ZPO zukommt, sondern hierzu auch eine bislang uneinheitliche Entscheidungspraxis innerhalb der
Oberlandesgerichte festzustellen ist, die nach Ansicht der Kammer einer Klärung durch eine diese Rechtsfrage
behandelnde Entscheidung des Bundesgerichtshofs bedarf, § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.