Urteil des LG Ravensburg vom 26.09.2013

rechtswidrigkeit, turnhalle, sorgfalt, vollstreckung

LG Ravensburg Urteil vom 26.9.2013, 4 O 47/13
Körperverletzung am Rande eines Fasnachtsumzuges: Sozialadäquates
Verhalten bei spielerischem Hochheben und Absetzen einer erwachsenen
Person
Leitsätze
1. Zur Beurteilung eines Verhaltens als sozialadäquat (hier: spielerisches Hochheben
einer Person unter jungen Leuten am Rande eines Fasnachtsumzugs).
2. Wer eine erwachsene Person ohne wahrnehmbare gesundheitliche
Einschränkungen solcherart hochhebt, handelt nicht sorgfaltswidrig, wenn er sie
absetzt, indem er sie bei nur noch relativ geringem Abstand der Füße zum Boden aus
seinen Händen hinabgleiten lässt.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden
Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe
von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Streitwert:
Klagantrag Ziff. 1:
113,54 EUR
Klagantrag Ziff. 2:
4.000,00 EUR
Klagantrag Ziff. 3:
2.500,00 EUR
insgesamt:
6.613,54 EUR
Tatbestand
1 Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen einer Körperverletzung in Anspruch.
2 Am 28.1.2012 fand nachmittags in E... (R…) ein Fasnachtsumzug statt. Der
Beklagte nahm hieran als Mitglied der Narrengruppe R..., einer Unterabteilung des
TSV A... e.V., teil. Im Anschluss an den Umzug fand in der Turnhalle, immer noch
im Rahmen der Fasnachtsveranstaltung, eine Party statt. Die damals 20 Jahre alte
Klägerin kam mit ihrer jüngeren Schwester M..., ihrem damaligen Freund P... H...
und dem Bekannten St... H... gegen Ende des Umzugs nach E...; die jungen Leute
begaben sich dann direkt zum Bereich der Turnhalle.
3 Dort trafen sie auf den Beklagten, der zumindest P... H... bereits kannte. Während
die jungen Leute beieinander standen, hob der Beklagte die Klägerin hoch und
legte sie über seine Schulter, drehte sich mit ihr und setzte sie wieder ab. Er
machte dies wenig später ein zweites Mal. Wie das Absetzen der Klägerin aussah
und ob sie sich sogleich hierbei verletzte ist streitig. Jedenfalls lag die Klägerin
dann auf dem Boden, musste von Mitarbeitern des Sanitätsdienstes versorgt und
schließlich mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden.
4 Die Klägerin trägt vor:
5 Dass der Beklagte sie ein zweites Mal hochgehoben habe, sei gegen ihren Willen
geschehen. Beim Absetzen habe er sie wohl fallengelassen bzw. sei sie ihm
entglitten. Sie habe sich eine Patella-Luxation zugezogen, das heißt, dass die
Kniescheibe aus ihrer Führung sprang. Sie habe zunächst im Krankenhaus eine
Kunststoffschiene am Bein erhalten und sei dann im April operiert worden, wobei
ihr eine Kunststoffkniescheibe eingesetzt worden sei. Im Ergebnis sei sie mehrere
Monate arbeitsunfähig gewesen und habe sich nur mit Hilfe von Krücken
fortbewegen können.
6 Als Schmerzensgeld sei ein Betrag von mindestens 4.000,00 EUR angemessen.
Ihr materieller Schaden in Form von Selbstbeteiligungskosten nebst
Kostenpauschale belaufe sich auf 113,54 EUR.
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Die Klägerin beantragt:
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1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 113,54 EUR nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 87,54 EUR seit dem
31.05.2012 und aus 26,00 EUR seit dem 23.10.2012 zu bezahlen.
9
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein in das Ermessen des Gerichts
gestelltes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 31.05.2012 zu bezahlen.
10 3. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche
weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die auf den Unfall
vom 28.01.2012 zurückzuführen sind, die materiellen Schäden soweit nicht
Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind
oder noch übergehen werden, die immateriellen Schäden soweit nicht
vorhersehbar.
11 4. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 511,11 EUR nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.10.2012 zu bezahlen.
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Der Beklagte beantragt,
13 die Klage abzuweisen.
14 Der Beklagte macht geltend:
15 Ein derartiges Hochheben sei im Rahmen von Fasnachtstreiben durchaus üblich.
Er habe die Klägerin auch beim zweiten Mal ordentlich abgesetzt. Sie sei noch
einige Schritte gegangen und habe dann wohl das Gleichgewicht verloren oder sei
aus einem sonstigen Grund gestolpert und zu Fall gekommen.
16 Wegen des Vorbringens der Parteien im Einzelnen und im Übrigen wird Bezug
genommen auf die vorgelegten Schriftsätze und Urkunden sowie auf das Protokoll
der mündlichen Verhandlung vom 08.08.2013, in welcher die Parteien eingehend
angehört wurden (Bl. 45 ff).
17 Das Gericht hat zum Geschehensablauf Beweis erhoben durch uneidliche
Vernehmung der Zeugen M... S..., P... H..., St... H... und J... C... (Rettungssanitäter).
Wegen der Angaben der Zeugen wird Bezug genommen auf das Terminsprotokoll
vom 08.08.2013.
Entscheidungsgründe
18 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
I.
19 Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ersatz ihres materiellen und immateriellen
Schadens gegen den Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB (Körperverletzung). Denn
der Beklagte handelte nicht rechtswidrig, zumindest aber nicht schuldhaft.
20 1. Als Ergebnis der ausführlichen Parteianhörung und der durchgeführten
Beweisaufnahme ist das Gericht überzeugt, dass sich der Vorfall wie folgt
zugetragen hat:
21 Der Beklagte, ein überaus stämmiger junger Mann, hob die Klägerin, eine eher
zierliche junge Frau, an der Hüfte an und legte sie sich über die Schulter in der
Weise, wie man sich etwa einen Sack über die Schulter legt, also so, dass die
Klägerin mit dem Bauch nach unten und dem Kopf auf der Rückenseite des
Beklagten zu liegen kam und vom Beklagten an den Beinen gehalten wurde. So
drehte sich der Beklagte um seine Achse und ließ dann die Klägerin wieder zu
Boden gleiten, stellte sie also wieder auf die Beine. Wenig später nahm er sie ein
weiteres Mal in gleicher Weise hoch. Dass die Klägerin hier zuvor schon zu
erkennen gegeben hätte, dass sie solches nicht nochmals wolle, konnte das
Gericht nicht feststellen. Erst als der Beklagte sie ein zweites Mal tatsächlich
hochnahm, äußerte die Klägerin wohl, dass er dies bleibenlassen solle. Dieser
Aufforderung kam der Beklagte dann aber auch gleich nach und ließ die Klägerin
wieder von seiner Schulter herabgleiten bzw. stellte sie ab. Dass der Beklagte
hierbei die Klägerin regelrecht fallengelassen habe oder auch nur dass die
Klägerin ihm hierbei unvorhergesehenermaßen entglitten sei, konnte das Gericht
nicht feststellen. Festzustellen ist nur, dass der Beklagte die Klägerin sicher nicht
denkbar behutsam auf den Boden gestellt hat; er hat sie bereits losgelassen, als
sie sich mit den Füßen noch in der Luft befand. Nach eigenem Bekunden der
Klägerin jedoch war sie dabei schon relativ knapp über dem Boden. Die Schätzung
des Zeugen H... mit etwa 40 bis 50 Zentimetern kann daher nicht zutreffen.
22 Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die Klägerin nicht erst sich auf den
Boden stellte, noch wenige Schritte unternahm und dann zu Boden fiel, sondern
dass die Klägerin unmittelbar beim Aufsetzen auf den Boden sich die
Knieverletzung zuzog und zu Boden ging. Zum Einen wirkte bereits der Beklagte
bei seinen diesbezüglichen Angaben wenig überzeugend. Das Gericht hatte stark
den Eindruck, dass er insoweit - vielleicht geleitet vom Bestreben, Verantwortung
von sich zu weisen - eher nur Mutmaßungen anstellte. Zum Anderen und vor allem
gaben die Zeugen St... H... und M... S... sehr eindrücklich und überzeugend an,
dass die Klägerin wirklich im Vorgang des Absetzens direkt dann zu Boden
gegangen und praktisch unmittelbar neben dem Beklagten zu liegen gekommen
sei.
23 2. Das Verhalten des Beklagten war für die Verletzung der Klägerin ohne weiteres
ursächlich im Sinne der sog. Äquivalenztheorie (conditio-sine-qua-non-Formel,
Palandt-Grüneberg, BGB 70. Aufl. 2011 vor § 249ff, Rn. 25). Es drängt sich aber
die Frage auf, ob die Kausalität auch bei wertender Betrachtung noch zu bejahen
ist oder ob nicht eine der anerkannten Einschränkungen zur bloßen
Äquivalenzkausalität greift (hierzu Grüneberg a.a.O. Rn. 25 ff).
24 Denn diejenige Bewegung der Klägerin, welche unmittelbar die Verletzung
herbeiführte - ein Auftreffen auf normal griffigen Boden (vgl. Prot. S. 5) in
gestreckter Körperhaltung mit den Füßen voraus aus einer Höhe von maximal
etwa 20 bis 25 Zentimetern -, war keine andere, als sie auch sonst im Alltag immer
wieder vorkommt, etwa beim eiligen Abwärtsgehen oder -springen auf einer
Treppe oder beim Hüpfen im Rahmen sportlicher Bewegung. Wenn gleichwohl
allein diese Bewegung dazu führte, dass die Kniescheibe der Klägerin aus ihrer
Führung sprang, muss wohl eine entsprechende Schädigungsneigung bei der
Klägerin vorgelegen haben (etwa eine Patella-Dysplasie) - dann aber hätte es zu
einer Patella-Luxation bei der Klägerin ohne weiteres auch bei einer der erwähnten
alltäglichen Bewegungssituationen kommen können.
25 Einer ergänzenden Aufklärung hierzu, insbesondere der Einholung eines
orthopädischen Sachverständigengutachtens, bedarf es jedoch nicht, da die Klage
unabhängig von dieser Frage unbegründet ist. Gleiches gilt für die Frage, ob und
inwieweit die Klägerin alkoholisiert war (bei der zierlichen Statur der Klägerin
dürften auch geringe Mengen des Whisky-Cola-Gemischs „Jacky-Cola“, vgl. die
Aussage des Zeugen H..., Prot. S. 9, bei ihr schnell spürbar werden) und ob sich
dies - nach dem konkreten Hergang eher unwahrscheinlich - ggf. mitausgewirkt
hat.
26 3. Dem Beklagten ist jedenfalls kein Verstoß gegen rechtlich vorgegebene
Verhaltensmaßstäbe anzulasten.
27 a) Das Aufnehmen der Klägerin geschah im unmittelbaren Umfeld des
Fasnachtstreibens in Form eines Umzuges mit anschließender Party in der
Turnhalle; der Beklagte hatte bereits am Umzug teilgenommen, die Klägerin und
ihre Begleiter kamen spätestens zur anschließenden Party. Angesichts dieser
Rahmensituation, ergänzend aber auch mit Blick auf das Alter der Beteiligten, war
das Verhalten des Beklagten sozialadäquat. Die Klägerin selbst macht nicht einmal
geltend, dass sie bereits das erste Aufnehmen entschieden abgelehnt oder gar
dem Beklagten danach deutlich zu verstehen gegeben habe, dass er dies
gefälligst zu unterlassen habe. Erst als er sie ein zweites Mal aufnahm, erklärte sie,
er solle aufhören, was er dann auch gleich zum Anlass nahm, sie wieder
abzusetzen. Dem Beklagten ist deshalb nicht vorzuwerfen, dass er die Klägerin
überhaupt ein zweites Mal hochnahm.
28 Auch im Zusammenhang mit dem Absetzen der Klägerin ist dem Beklagten nichts
vorzuwerfen. Es gibt - auch außerhalb des sozialen Nahbereichs - zahlreiche
Situationen, in denen Menschen in unzweifelhaft sozialadäquater Weise im
unmittelbaren Körperkontakt auf andere einwirken, beispielsweise bei
Begrüßungs- oder Verabschiedungsritualen oder bei Sport und Tanz. Welche
Sorgfaltsanforderungen hierbei zu beachten sind, richtet sich ganz nach der
konkreten Situation und dem jeweiligen Gegenüber. Hier hatte es der Beklagte
nicht mit einem kleinen Kind zu tun, einem Körperbehinderten oder einem
gebrechlichen alten Menschen, sondern mit einer erwachsenen jungen Frau von
zwar eher zierlicher Statur, aber ohne irgendwelche wahrnehmbare
gesundheitliche Einschränkungen. Der Beklagte musste deshalb die Klägerin, als
er sie nach dem spielerischen Hochnehmen wieder absetzen wollte, nicht wie ein
rohes Ei oder eine Porzellanvase behandeln und denkbar behutsam auf dem
Boden absetzen. Er durfte sie ohne weiteres in aufrechter Haltung bei einem nur
noch relativ geringen Abstand der Füße zum Boden aus seinen Händen
hinabgleiten lassen; denn er musste dabei nicht damit rechnen, dass die Beklagte
sich beim Auftreffen auf den Boden verletzen würde.
29 b) Eine Haftung des Beklagten ist daher nicht gegeben.
30 Nimmt man eine erfolgsbezogene Rechtswidrigkeitsprüfung vor, ist zwar die
Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Beklagten durch die hierbei
(mit)herbeigeführte Rechtsgutsverletzung indiziert; da dem Beklagten aber nicht
anzulasten ist, dass er die gebotene Sorgfalt verletzt habe, fehlt es dann am
Verschulden. Bei einer verhaltensbezogenen Beurteilung der Rechtswidrigkeit
dagegen ist trotz der bewirkten Verletzung bereits die Rechtswidrigkeit zu
verneinen, nachdem der Beklagte in sozialadäquater Weise und unter Beachtung
der gebotenen Sorgfalt agiert hat. Weiterer Ausführungen zu diesem
rechtsdogmatischen Theorienstreit bedarf es - zumal Fragen der Notwehr oder von
Beseitigungs- oder Unterlassungsansprüchen nicht aufgeworfen sind - nicht (vgl.
näher Palandt-Sprau a.a.O. § 823 Rn. 24 mit zahlr. Nachw.).
II.
31 Nebenentscheidungen
32 1. Kosten, vorläufige Vollstreckbarkeit: §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
33 2. Bei der Streitwertfestsetzung folgt das Gericht hinsichtlich des
Schmerzensgeldantrages der Mindestbetragsvorstellung der Klägerin; bei voller
Haftung des Beklagten erschiene dem Gericht ein Betrag in der Größenordnung
von 4.000,00 EUR durchaus angemessen. Der Wert des Feststellungsantrages ist
aber höher anzusetzen als mit 1.000,00 EUR. Denn insbesondere angesichts des
noch geringen Alters der Klägerin sind mögliche künftige Schäden (v.a. auch
materieller Art) zum einen nicht unwahrscheinlich, zum andern der Höhe nach
möglicherweise beträchtlich.