Urteil des LG Münster vom 13.07.2010

LG Münster (kläger, gebot der billigkeit, billigkeit, angemessener zeitraum, kontrolle, prüfung, bezug, anbieter, gas, strom)

Landgericht Münster, 06 S 70/09
Datum:
13.07.2010
Gericht:
Landgericht Münster
Spruchkörper:
Zivilgericht
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
06 S 70/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Ahaus, 16 C 646/08
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 24.06.2009 verkündete Urteil
des Amtsgerichts B wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
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I.
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Der Kläger begehrt Rückzahlung angeblich überzahlter Gas- und Stromentgelte für die
Jahre 2005 bis 2007 sowie darüber hinaus Feststellung, dass für das Jahr 2008 die im
Jahr 2004 geltenden Gas- und Strompreise zugrunde zu legen sind.
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Der Kläger, der langjähriger Kunde der Beklagten ist, erhob im Januar 2006 erstmals
gegenüber den in der Strom- und Gasrechnung für 2005 abgerechneten Entgelten den
Einwand der Unbilligkeit. Seitdem zahlt der Kläger auf die Abrechnungen nur unter
Vorbehalt, soweit die berechneten Preise die im Jahr 2004 gültigen Tarife übersteigen.
Die Beklagte erhöhte zum 01.01.2005, 01.09.2005, 01.01.2006 und 01.01.2008 die
Strompreise und zum 01.01.2005, 01.10.2005, 01.01.2006, 01.04.2006, 15.01.2007,
01.05.2007, 01.04.2008 und 01.08.2008 die Gastarife.
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Mit der am 30.12.2008 eingegangenen und am 02.02.2009 zugestellten Klage hat der
Kläger die Auffassung vertreten, die Preiserhöhungen der Beklagten ab dem 01.01.2005
seien gemäß § 315 BGB unbillig. Soweit sich die Beklagte auf gestiegene
Einkaufspreise berufe, sei zu berücksichtigen, dass die Lieferantin des Gases, die S,
Gesellschafterin der Beklagten sei. Die Beklagte habe also gar kein Interesse gehabt,
günstig einzukaufen. Es reiche daher zur Darlegung der Billigkeit nicht, nur gestiegene
Bezugskosten anzugeben. Außerdem habe die Beklagte nicht dargelegt, inwieweit sich
Kosten in anderen Bereichen verringert hätten.
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Die gerichtliche Prüfung der Billigkeit sei nicht deshalb ausgeschlossen, weil er nicht
innerhalb kürzerer Zeit Klage erhoben habe.
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Auch stehe der Anwendung des § 315 BGB nicht der Umstand entgegen, dass es auf
dem Strommarkt während des gesamten gegenständlichen Zeitraums und im Bereich
der Gasversorgung jedenfalls ab Mitte 2007 konkurrierende Anbieter gegeben habe.
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Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, einer gerichtlichen Prüfung der Billigkeit sei
hinsichtlich der Strompreise schon deshalb die Grundlage entzogen, weil § 315 BGB
insoweit gar nicht anwendbar sei. Der Kläger habe insoweit zwischen mehreren
Anbietern wählen können und bedürfe daher nicht des Schutzes der o.g. Vorschrift.
Denn es sei treuwidrig, die Entgelte seines Vertragspartners einer gerichtlichen
Billigkeitsprüfung zu unterziehen, wenn man sich jederzeit von dem Vertrag lösen und
einen anderen Anbieter wählen könne.
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In Bezug auf die Gaspreise für die Jahre 2005 bis 2007 sei der Kläger mit seinen
Einwendungen ausgeschlossen, da er nicht innerhalb angemessener Zeit Klage
eingereicht habe. Dass er unter Vorbehalt gezahlt habe, genüge insoweit nicht. Somit
seien die Gasentgelte bis einschließlich 2007 als vereinbart anzusehen.
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Der Feststellungsantrag in Bezug auf die Gaspreise für 2008 sei deshalb auch
unbegründet, weil der Kläger dort die Verpflichtung der Beklagten begehre, nach den
Preisen des Jahres 2004 abzurechnen.
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Im Übrigen seien die Tariferhöhungen auch nach billigem Ermessen erfolgt, da lediglich
Bezugspreissteigerungen weitergegeben worden seien, während Kostensenkungen in
anderen Bereichen nicht stattgefunden hätten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt die Kammer gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf
den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug.
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Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen
ausgeführt, hinsichtlich des Strompreises sei § 315 BGB nicht anwendbar, da die
Beklagte insoweit kein Monopol gehabt habe und der Kläger daher nicht auf Belieferung
durch sie angewiesen sei.
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Hinsichtlich der Gaspreiserhöhungen von 2005 bis 2007 könne dahinstehen, ob diese
materiell begründet seien, da der Kläger einen eventuellen Anspruch verwirkt habe,
indem er die Abrechnungen nicht innerhalb angemessener Zeit gerichtlich geltend
gemacht habe. § 315 BGB sehe vor, dass eine Bestimmung der Billigkeit durch Urteil zu
erfolgen habe. Dies müsse innerhalb angemessener Zeit, spätestens vor Ablauf des
folgenden Jahres, herbeigeführt werden.
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Der Feststellungsantrag für das Jahr 2008 sei unbegründet. Da die Tarife bis 2007 einer
Überprüfung entzogen seien, könne der Kläger für das Jahr 2008 nicht die Preise des
Jahres 2004 zugrunde legen.
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Mit der Berufung vertritt der Kläger unter Ergänzung und Vertiefung seines
erstinstanzlichen Vortrags die Auffassung, das Amtsgericht habe die Voraussetzungen
des Verwirkungstatbestands verkannt. Insbesondere könne ein Anspruch des Klägers
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frühestens dann verwirkt sein, wenn dieser nicht innerhalb der 3-jährigen
Verjährungsfrist geltend gemacht werde. Auch sei kein Vertrauenstatbestand
geschaffen, da der Kläger ab 2005 auf die Rechnungen der Beklagten unter Vorbehalt
gezahlt habe.
Jedenfalls könne der Kläger noch die Leistungsbestimmung für 2008 angreifen.
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Eine gerichtliche Billigkeitskontrolle sei darüber hinaus auch hinsichtlich der
Strompreiserhöhungen möglich, da sein Recht, sich vom Vertrag zu lösen, eine unbillige
Preiserhöhung nicht ausgleiche.
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Hilfsweise stützt der Kläger seinen Anspruch erstmals auf einen
Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB und meint hierzu, die Beklagte
habe gegen ihre vertraglichen Pflichten verstoßen, indem sie Preissenkungen nicht
weitergegeben habe.
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Der Kläger beantragt, unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils
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1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 746,54 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 05.08.2008 zu zahlen;
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2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, für das Abrechnungsjahr 2008
bei der Berechnung des Arbeitspreises für die Lieferung von Gas einen Preis von
3,521 Cent/kWh netto und bei der Berechnung des Arbeitspreises für die Lieferung
von Strom einen Preis von 9,758 Cent/kWh zugrunde zu legen;
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3. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von vorgerichtlichen Kosten der
Rechtsverfolgung gegenüber seinen Prozessbevollmächtigten in Höhe von 120,67
€ freizustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte schließt sich dem Kläger insoweit an, als nicht von einer Verwirkung
seines Einwands der Unbilligkeit auszugehen sei. Vielmehr sei in Einklang mit der
Rechtsprechung des BGH das erhöhte Entgelt als vereinbart anzusehen, wenn nicht
innerhalb angemessener Zeit eine gerichtliche Klärung nach § 315 Abs. 3 BGB
herbeigeführt werde.
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Im Übrigen bestehe auch beim Gas seit 2007 eine Wahlfreiheit zwischen mehreren
Lieferanten, so dass – wie beim Strom - § 315 BGB gar nicht anwendbar sei.
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Ein Verstoß gegen das Gebot der Billigkeit der Preisgestaltung aufgrund unterlassener
Preissenkungen liege nicht vor. Unmittelbare Weitergaben von Preissenkungen und -
erhöhungen seien nicht möglich. Vielmehr gebe es zeitliche Verzögerungen und auch
die sonstigen Kosten seien einzubeziehen. Deshalb sei ein größerer Zeitraum
maßgeblich und innerhalb dessen orientierten sich die Preisanpassungen an den
Bezugskosten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze
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nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll vom 22.06.2010 Bezug genommen.
II.
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Die Berufung ist unbegründet. Das Amtsgericht hat zutreffend erkannt, dass dem Kläger
kein Rückforderungsanspruch gemäß § 812 Abs. 1 BGB zusteht, da eine Unbilligkeit
der Tariferhöhungen der Beklagten gemäß § 315 BGB nicht festgestellt werden kann
und somit die erbrachten Zahlungen nicht ohne Rechtsgrund geleistet wurden. Aus
diesem Grund kann der Kläger auch nicht beanspruchen, dass für 2008 die Entgelte des
Jahres 2004 anzusetzen seien.
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Hinsichtlich der Strompreise für die Jahre 2005 bis 2008 und der Gastarife für 2008
kommt eine gerichtliche Kontrolle der Billigkeit von Tariferhöhungen nicht in Betracht, da
schon der Anwendungsbereich des § 315 BGB nicht eröffnet ist.
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Dabei ist zunächst Ausgangspunkt der Überlegungen der zwischen den Parteien nicht
im Streit stehende Umstand, dass die im Jahr 2004 berechneten Entgelte zwischen den
Parteien einvernehmlich vereinbart wurden und damit keiner Billigkeitskontrolle
unterliegen. Gleiches gilt im Ergebnis für die nachfolgenden Erhöhungen.
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Zwar ist die nachträgliche einseitige Änderung der Tarife von Energieversorgern für
Strom und Gas (hier ab 2005) als Ausübung eines einseitigen Leistungs-
bestimmungsrechts anzusehen und unterfällt damit zunächst der Kontrolle des § 315
BGB (BGH VIII ZR 36/06; VIII ZR 138/07). Entgegen der Auffassung der Beklagten
ergibt sich auch aus dem Urteil des BGH vom 28.03.2007 (VIII ZR 144/06) nicht
unmittelbar eine andere Bewertung. Denn soweit der BGH dort eine analoge
Anwendung des § 315 BGB auf Fälle abgelehnt hat, in denen kein Anschluss- und
Benutzungszwang besteht, sondern mehrere Anbieter eines Produkts auf dem Markt
sind, bezieht sich das Urteil lediglich auf die – hier nicht im Streit stehende - Ermittlung
des zu zahlenden Entgelts bei Vertragsschluss, nicht auf nachträgliche Erhöhungen. Ob
insoweit eine gerichtliche Prüfung der Billigkeit stattfindet, hat der BGH ausdrücklich
offen gelassen (BGH a.a.O., Rn. 16).
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Nach Auffassung der Kammer kann jedoch im Ergebnis für den hier maßgeblichen Fall
der nachträglichen Erhöhung eines Energietarifs nichts anderes gelten, da die
Interessenlage der Parteien vergleichbar ist. Die Möglichkeit einer gerichtlichen
Billigkeitskontrolle soll eine Vertragspartei vor dem Missbrauch privatautonomer
Gestaltungsmacht der anderen Partei schützen. Vorliegend stand dem Kläger jedoch
bei jeder Tariferhöhung ein vertragliches Sonderkündigungsrecht zu. Der Kläger hatte
auf dem liberalisierten Strommarkt während des gesamten hier gegenständlichen
Zeitraums und hinsichtlich der Gasversorgung jedenfalls ab 2008 die Möglichkeit, den
Anbieter zu wechseln. Er bedurfte daher nicht des Schutzes einer gerichtlichen
Kontrolle der Tarife seines Energieversorgers. Wie der BGH ausgeführt hat, sind die
Zivilgerichte keine Instanz zur Kontrolle am Markt verlangter Preise, weshalb der
Anwendungsbereich des § 315 BGB und die zivilgerichtliche Kontrolle von
Energiepreisen bewusst durch den Gesetzgeber eingeschränkt worden sind (BGH VIII
ZR 138/07 Rn. 23).
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Es ist nicht sachgerecht und dem Zweck des § 315 BGB nicht entsprechend, wenn ein
Energiekunde den Versorger gerichtlich zur Offenlegung betriebswirtschaftlicher Interna
wie den Bezugspreisen und der Kostenentwicklung in den anderen Bereichen der
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Energieversorgung zwingen kann, obwohl er sich jederzeit ohne nennenswerten
Aufwand vom Vertrag lösen und mit einem anderen Anbieter kontrahieren kann.
Die Kammer hält es daher für geboten, den Anwendungsbereich des § 315 BGB
dahingehend einzuschränken, dass eine gerichtliche Billigkeitskontrolle nur stattfindet,
wenn eine Vertragspartei aufgrund einer überlegenen Stellung der anderen Partei des
Schutzes vor einer Ausnutzung von deren Gestaltungsmacht bedarf (so auch LG Köln
90 O 31/08; LG Mühlhausen 3 O 1132/06). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Damit ist der Kammer eine Überprüfung der Strompreiserhöhungen in den Jahren 2005
bis 2008 und der Anhebung der Gaspreise im Jahr 2008 verwehrt.
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Aber auch in Bezug auf die Tariferhöhungen im Bereich der Gasversorgung für die
Jahre 2005 bis 2007, hinsichtlich derer die Beklagte ein Monopol hatte, kommt eine
Billigkeitskontrolle gemäß § 315 BGB nicht in Betracht. Denn der Kläger hat diese
Kontrolle nicht rechtzeitig herbeigeführt.
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Wendet sich ein Vertragspartner gegen einseitige Leistungsbestimmungen der anderen
Partei, so kann er mit dem Unbilligkeitseinwand nur durchdringen, wenn er innerhalb
angemessener Zeit eine gerichtliche Prüfung herbeiführt (vgl. BGH VIII ZR 36/06, VIII
ZR 138/07). Tut er dies nicht, so gelten die Preise als vereinbart (BGH a.a.O.).
Vorliegend hat der Kläger erst mit seiner am 30.12.2008 eingegangenen und am
02.02.2009 rechtshängig gewordenen Klage das gerichtliche Verfahren eingeleitet.
Damit hat der Kläger seit dem 1.1.2005 ca. 4 Jahre und seit der letzten innerhalb des
maßgeblichen Zeitraums liegenden Preiserhöhung vom 01.05.2007 immerhin noch
mehr als 1 ½ Jahre verstreichen lassen. Dies ist zur Überzeugung der Kammer kein
angemessener Zeitraum mehr. Hierbei war zu berücksichtigen, dass die Parteien ein
Dauerschuldverhältnis mit einem permanenten Leistungsaustausch verbindet und daher
beidseitig ein berechtigtes Interesse besteht, den Schwebezustand hinsichtlich der
Höhe der Zahlungspflicht alsbald zu beenden. Dem gegenüber ist ein schützenswertes
Interesse des Klägers, die gerichtliche Prüfung hinauszuzögern, nicht ersichtlich.
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Die Kammer vertritt daher die Auffassung, dass das gerichtliche Verfahren spätestens
vor Ablauf eines Jahres nach der letzten im Streit stehenden Preiserhöhung
herbeigeführt werden musste. Dies war im Mai 2007. Damit ist die Klage verspätet, so
dass die Billigkeit der Erhöhungen nicht mehr geprüft werden kann und die
festgesetzten Entgelte als vereinbart gelten.
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Auf etwaige Verwirkungstatbestände kommt es somit nicht mehr an.
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Auch kann dahinstehen, ob die Preiserhöhungen der Beklagten tatsächlich der Billigkeit
entsprechen.
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Soweit der Kläger nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erstmals seinen
Anspruch auch auf Schadensersatzgesichtspunkte stützt, weil die Beklagte
Preissenkungen nicht weitergegeben habe, ist der neue Tatsachenvortrag des Klägers
hierzu gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO nicht mehr zuzulassen, da nicht ersichtlich ist,
warum der Kläger diese Einwendungen nicht bereits in erster Instanz erhoben hat.
Deshalb ist es nicht mehr von Belang, dass eine angeblich unbillige Preiserhöhung, die
aus Rechts- oder tatsächlichen Gründen gerichtlich nicht überprüfbar ist, nicht zur
Entstehung von Schadensersatzansprüchen führen kann. Denn wenn die behauptete
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unbillige Festsetzung eines Entgelts als Verletzung vertraglicher Pflichten – z.B. wegen
verspäteter Geltendmachung - nicht mehr gerichtlich überprüft werden kann, so darf
dieselbe Pflichtverletzung nicht gleichwohl zum Schadensersatz verpflichten.
Die angeblich unbilligen Preiserhöhungen der Beklagten können der Klage somit unter
keinem rechtlichen Gesichtspunkt zum Erfolg verhelfen.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10.
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Die Kammer hat die Revision gemäß § 643 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugelassen, weil dies der
Rechtsfortbildung dient. Eine obergerichtliche Rechtsprechung zur Frage der
Anwendbarkeit des § 315 BGB auf Fälle wie den vorliegenden und dazu, innerhalb
welcher Frist das gerichtliche Verfahren eingeleitet werden muss, liegt, soweit
ersichtlich, bisher nicht vor.
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