Urteil des LG Münster vom 17.05.2006

LG Münster: wasser, erste hilfe, grobe fahrlässigkeit, hallenbad, haus, notlage, schule, schwimmen, schwimmbecken, kreis

Landgericht Münster, 12 O 639/04
Datum:
17.05.2006
Gericht:
Landgericht Münster
Spruchkörper:
12. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 O 639/04
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils
zu vollstre-ckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
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Der Kläger nimmt die Beklagte aus übergeleitetem Recht auf Schadensersatz wegen
eines Badeunfalls in Anspruch, der sich am 18.04.1999 in dem von der Beklagten
betriebenen Hallenbad ereignete.
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Am 18.04.1999 besuchte der zum damaligen Zeitpunkt 4 Jahre und 7 Monate alte W
gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Schwester (6 Jahre) und seinem Bruder, der noch
ein Baby war, das Hallenbad der Beklagten in N.
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Nach § 2 der T4 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung des
Hallenschwimmbades der Gemeinde N vom 16.12.1998 war für dieses Hallenbad eine
Haus- und Badeordnung u. a. mit folgenden Regelungen erlassen worden (Bl. 68 ff. d.
A.):
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§ 2 Zulassung
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(1) Zur Benutzung des Bades und seiner Einrichtungen ist nach Entrichtung der
entsprechenden Gebühr grundsätzlich jedermann zugelassen.
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(4) Für die Benutzung des Hallenbades und seiner Einrichtungen ist am
Kassenautomaten die aus dem Aushang ersichtliche Gebühr zu entrichten. Der
Kassenautomat händigt sodann eine Eintrittsmünze aus.
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§ 8 Betriebshaftung
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(1) Bei Unfällen haftet die Gemeinde N nur dann, wenn Mängel der Einrichtungen
oder Verschulden des Personals nachgewiesen werden können. Die Haftung wird
auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt. …
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§ 10 Aufsicht
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(1) Das Badepersonal führt die Aufsicht im Bad und hat für die Einhaltung der
Haus- und Badeordnung zu sorgen; das gleiche gilt auch für das Raumpflege- und
Cafeteriapersonal. …
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Vor dem Schwimmen aß die Familie Pommes Frites und Bratwurst. Nach dem Verzehr
klagte W über Bauchschmerzen, wollte aber trotzdem ins Wasser gehen.
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Danach begaben sie sich ins Schwimmbecken. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich ca.
50 - 60 Badegäste dort. Das Hauptschwimmbecken des Schwimmbades ist in ein
Nichtschwimmer- und ein Schwimmerbecken eingeteilt. Beide Bereiche werden durch
ein Seil voneinander getrennt. Die vollverglaste Schwimmmeisterkabine befindet sich
etwa auf der halben Höhe des Schwimmbeckens und ermöglicht einen vollständigen
Überblick über das Becken. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Lichtbilder
(Bl. 51 - 52 d. A.) verwiesen.
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W begab sich ohne Schwimmhilfen mit seiner Schwester in den Bereich des
Nichtschwimmerbeckens, das ca. 90 cm tief ist. Er konnte noch nicht schwimmen, aber
aufgrund seiner Körpergröße von 110 cm ohne Probleme in diesem Bereich stehen.
Nach einiger Zeit ging er zu seiner Mutter, die mit dem Baby an dem Abgrenzungsseil
zum Schwimmerbecken stand, und sagte ihr, er wolle aus dem Bad herausgehen und
einen Schwimmring holen. Die Mutter achtete zunächst nicht mehr auf ihn. Die
Schwester E bemerkte plötzlich, dass W mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser
trieb. Sie zog ihn aus dem Wasser und legte ihn im Bereich der Einstiegstreppe des
Nichtschwimmerbeckens neben den Beckenrand. Er war blau angelaufen und hatte zu
diesem Zeitpunkt keinen Q mehr.
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Inzwischen hatte ein Badegast den Schwimmmeister informiert, der sich zu diesem
Zeitpunkt in der Schwimmmeisterkabine aufhielt. Dieser leistete erste Hilfe in Form einer
Mund-zu-Mund-Beatmung. Mittels Rettungswagen und Rettungshubschrauber wurde
der Junge in das Kinderhospital P verbracht, wo er sich noch längere Zeit in einem
lebensbedrohlichen Zustand befand.
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Durch diesen Unfall erlitt der Junge eine schwere Hirnschädigung und ist seitdem
schwerstbehindert. Nach dem ärztlichen Bericht vom 11.11.1999 (Bl. 14 ff. d. A.) besteht
u. a. eine schwere Tetraspastik ohne die Möglichkeit der Kommunikation bis auf
stimmhaftes Weinen. Zudem ist er erblindet, muss ständig Windeln tragen und über eine
Spezialsonde ernährt werden. Es erfolgt eine intensive Pflege und Betreuung, die nicht
im häuslichen Umfeld geleistet werden kann. Eine wesentliche Besserung des
gesundheitlichen Zustandes ist nicht zu erwarten.
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Bis einschließlich Januar 2001 fand eine Behandlung in der Rehabilitationsklinik in H
bei I statt. Seit dem 01.02.2000 lebt der Junge in dem Kinderheim "T2" in P. Seit dem
09.08.2001 besucht er zudem die I2-Schule.
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Der Kreis T3 beantragte bei dem Kläger die Übernahme der Unterbringungskosten für
den Aufenthalt im Kinderheim "T2". Der Kläger sagte die Übernahme der Pflegekosten
ab Februar 2001 nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG zu. Zudem übernahm er auch die
Kosten für den Besuch der I2-Schule. Die Übernahme dieser Kosten sowie den
gesetzlichen Forderungsübergang nach § 116 SGB X zeigte der Kläger gegenüber dem
Gemeindeversicherungsverband (GVV) der Beklagten an und forderte diesen wiederum
zur Kostenerstattung auf. Dies lehnte der GVV ab.
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Der Kläger nimmt die Beklagte nunmehr aus übergeleitetem Recht (§ 116 SGB X) auf
Zahlung von Schadensersatz in Anspruch. Den Schaden berechnet er wie folgt:
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- Unterbringungskosten im Kinderheim "T2" für die Zeit vom
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01.02.2000 bis zum 31.10.2004 =
191.758,29 €
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- Kosten für den Besuch der I2-Schule für die Zeit vom
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09.08.2001 bis zum 31.10.2004 =
90.597,36 €
24
_____________
25
gesamt:
282.355,65 €
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Er ist der Ansicht, die Beklagte habe, vertreten durch den Schwimmmeister, ihre
Aufsichtpflicht in dem Hallenbad verletzt.
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Diesbezüglich behauptet er, der Junge sei bereits deutlich länger als 4 Minuten auf dem
Wasser getrieben, ohne dass der Bademeister dies bemerkt habe. Nach der neueren
Rechtsprechung des BGH (NJW 2000, S. 1946 f.) folge allein aus dieser Zeitspanne
zwingend eine Aufsichtpflichtverletzung. Der Schwimmmeister habe das Becken
offensichtlich unangemessen lange nicht beobachtet, obwohl ihm das von der
vollverglasten Kabine aus möglich gewesen sei.
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Zu beachten sei auch, dass der Schwimmmeister noch nicht einmal die Schwester,
welche den Jungen barg, bemerkt habe. Zu der o. g. reinen Untertauchzeit von 4
Minuten sei also noch die Bergungszeit sowie die Zeit für die Benachrichtigung durch
einen Badegast hinzuzurechnen. Diese Zeitspanne zeige eindeutig, dass der
Schwimmmeister nicht ordnungsgemäß auf das Schwimmbecken geachtet haben
könne. Anderen Badegästen sei der Notfall schließlich auch deutlich vor diesem
aufgefallen. Hilfsweise behauptet der Kläger, dass die Wiederbelebungsmaßnahmen
durch den Schwimmmeister unzureichend bzw. fehlerhaft gewesen seien, da eine
Einatmung von Erbrochenem nicht verhindert worden sei.
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Insgesamt hafte die Beklagte aus positiver Vertragsverletzung (pVV) des zivilrechtlich
abgeschlossenen Hallenbadbenutzungsvertrages. Die Haftungsbeschränkung in § 8
Abs. 1 der Haus- und Badeordnung sei in diesem Zusammenhang schon unwirksam
und greife zudem ersichtlich nicht ein, da der Beklagten zumindest eine grobe
Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei.
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Der Kläger beantragt,
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1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 282.355,65 € nebst Zinsen in Höhe
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von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu
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zahlen;
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2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm alle zukünftigen
Aufwendungen zu ersetzen, die er aufgrund des Schwimmunfalls des W vom
18.04.1999 zu tragen hat.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meint, der Kläger sei nicht aktivlegitimiert, da die Kosten dem Kreis T3 entstanden
seien. Zudem sei weder ihr noch dem Schwimmmeister eine Aufsichtspflichtverletzung
vorzuwerfen.
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Der Unfallhergang habe sich völlig anders ereignet, als von dem Kläger geschildert: Der
Junge sei, nachdem er seine Mutter angesprochen habe, zu der Treppe des
Nichtschwimmerbeckens gegangen und habe sich dort erbrochen. Dabei sei zu
vermuten, dass er einen Teil des Erbrochenen wieder eingeatmet habe (sog.
Aspiration). Sodann sei er lautlos zusammengesackt und bereits bewusstlos in das
Wasser gelangt. Anschließend sei er keinesfalls 4 Minuten auf dem Wasser getrieben,
sondern recht schnell von seiner Schwester geborgen worden. Selbst unter
Zugrundelegung der von dem Kläger behaupteten Untertauchzeit von 4 Minuten sei
eine Aufsichtspflichtverletzung nicht zu bejahen, da es insofern keine starren
Zeitgrenzen gebe.
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Eine Pflichtverletzung folge auch nicht aus dem Geschehensablauf nach der Bergung
des Jungen, da der Schwimmmeister unverzüglich nach der Benachrichtigung zu dem
Unfallort gegangen sei und dort Hilfe geleistet habe. Dass eine erhebliche Zeitspanne
zwischen der Bergung des Jungen und der Hilfe durch den Schwimmmeister gelegen
habe, werde schon durch die Aussagen in dem Ermittlungsverfahren widerlegt. Dabei
sei alles sehr schnell gegangen und habe höchstens einige Sekunden gedauert.
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Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs aus pVV meint die Beklagte, dass dieser
schon nicht einschlägig sei, da hier ein öffentlich-rechtliches Benutzungsverhältnis
vorgelegen habe. Außerdem sei hinsichtlich eines solchen Anspruches ein
wesentliches Mitverschulden der Mutter des Jungen nach §§ 278, 254 BGB
anzunehmen, da diese nicht speziell auf ihn geachtet habe, obwohl er über erhebliche
Bauchschmerzen vor dem Schwimmen geklagt habe. Letztlich sei die Haftung der
Beklagten nach § 8 Abs. 1 der Haus- und Badeordnung ausgeschlossen. Ein Anspruch
aus dem Gesichtspunkt eines verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnisses komme
deswegen nicht in Betracht, weil die Beklagte insofern keine Fürsorgepflicht für die
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Badegäste treffe.
Deliktische Ansprüche seien verjährt, worauf man sich ausdrücklich berufe. Außerdem
könne sich die Beklagte für den insofern einzig in Betracht kommenden Anspruch aus §
831 BGB jedenfalls nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB exkulpieren, da der Schwimmmeister
immer ordnungsgemäß gearbeitet habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen
den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Die Akten 35 Js 453/99 der Staatsanwaltschaft N2 lagen vor und waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines neuropädriatrischen
Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. T. Wegen des Inhaltes des Gutachtens und
der ergänzenden Stellungnahme wird auf Bl. 110-141 d.A. und Bl. 171-187 d.A.
verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist unbegründet.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagte.
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Zwar ist der Kläger entgegen der Ansicht der Beklagten aktivlegitimiert, denn er hat auf
Antrag des Kreises T3 eine Kostenzusage erteilt und die Kosten übernommen.
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Weder der Mutter des verletzten Kindes noch dem verletzten Kind selbst stehen jedoch
Schadenersatzansprüche gegen die Beklagte zu, die gem. § 116 SGB X auf den Kläger
übergegangen sein könnten.
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Ein Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus positiver Vertragsverletzung.
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Es besteht zwar ungeachtet der Frage, ob es sich um in verwaltungsrechtliches oder
privatrechtliches Schuldverhältnis handelt, jedenfalls ein Schuldverhältnis, das im
Rahmen der gewohnheitsrechtlichen Grundsätze der pVV zum Schadensersatz
verpflichten kann (siehe zur pVV eines verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnisses:
Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., N3 1998, S. 339). Auch begründet ein
verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis, gerade bei einem Schwimmbad,
Fürsorgepflichten für die Badegäste in Form einer Aufsichtspflicht, von denen die
Beklagte nicht etwa durch den Abschluss öffentlich-rechtlicher Schuldverhältnisse
befreit wird (Steffen, in: RGRK, Kommentar zum BGB, 12. Aufl., C 1989, § 823 Rdnr.
229; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB (MüKo), 4. Aufl., N3 2004, § 823
Rdnr. 476).
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Es kann jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden, dass die
Beklagte oder einer ihrer Bediensteten eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt
hat. Vor diesem Hintergrund kann die Wirksamkeit der Haftungsbeschränkung gem. § 8
der Haus- und Badeordnung dahinstehen.
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Der Betreiber eines Schwimmbades muss dafür T5 tragen, dass keiner der Besucher
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beim Badebetrieb zu Schaden kommt. Zu diesem Zweck hat er die einzelnen
Schwimmbecken darauf überwachen zu lassen, ob dort Gefahrensituationen für die
Badegäste auftreten. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen hängen von den
tatsächlichen Umständen des Einzelfalles, wie etwa Größe und M2 des
Schwimmbades, Anzahl der Besucher und hierdurch bedingte "Spitzenbelastungen",
Einsatz technischer Hilfsmittel und vor allem auch davon ab, innerhalb welcher Zeit aus
medizinischer Sicht Maßnahmen getroffen werden müssen, um bleibende
Schädigungen zu verhindern.
Allerdings kann und muss nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende
Maßnahmen begegnet werden, da eine Verkehrssicherungspflicht, die jeden
Gefährdungsfall ausschließt, nicht erreichbar ist. Vielmehr bedarf es gerade auch im
Hinblick auf die Zeitdauer, innerhalb der ein Eingreifen einer Aufsichtsperson
gewährleistet werden muss, stets nur solcher Sicherheitsmaßnahmen, die ein
vernünftiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für
ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm
den Umständen nach zumutbar sind (siehe zum Inhalt dieser Aufsichtspflicht bei
Schwimmbädern auch: BGH, NJW 2004, S. 1449 (1451); BGH, NJW 2000, S. 1946
(1946 f.); BGH, NJW 1980, S. 392 (392); OLG D, MDR 2001, S. 691 (691); Wagner, in:
MüKo, BGB, § 823 Rdnr. 477).
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Eine Verletzung dieser Aufsichtspflicht folgt daher nicht bereits aus dem Umstand, dass
die Beklagte nur einen Schwimmmeister zur Aufsicht eingesetzt hat. In einem Hallenbad
reicht nämlich im Allgemeinen ein Schwimmmeister für die Durchführung der Aufsicht
aus (BGH, NJW-RR 1990, S. 1245 (1245); BGH, NJW 1980, S. 392 (392); Steffen, in:
RGRK, BGB, § 823 Rdnr. 229). Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall mehrere
Aufsichtspersonen notwendig gewesen wären, bestehen nicht.
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Des Weiteren kann eine Aufsichtspflichtverletzung auch nicht daraus gefolgert werden,
dass der Schwimmmeister der Beklagten die Aufsicht von der Kabine aus geführt hat.
Diese war vollverglast und ermöglichte unstreitig den Überblick über das gesamte
Becken des Schwimmbades. Es ist somit nicht ersichtlich, dass der Schwimmmeister
seiner Aufsichtspflicht aus diesem Raum heraus nicht hätte gerecht werden können.
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Auch aus dem Umstand, dass der Schwimmmeister die Notlage nicht selbst erkannt hat,
sondern erst, nachdem der Junge durch seine Schwester an den Beckenrand gezogen
wurde, durch Badegäste aufmerksam gemacht werden musste, kann die Kammer nicht
auf eine Aufsichtpflichtverletzung schließen. Der Kläger behauptet in diesem
Zusammenhang zwar, der Junge sei deutlich länger als 4 Minuten auf dem Wasser
getrieben ohne bemerkt worden zu sein. Allein eine Zeitspanne von 4 Minuten oder
darüber, in denen eine hilfsbedürftige Person nicht entdeckt wird, begründet jedoch
allein noch keinen Aufsichtspflichtverstoß. Auch der neueren Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes (NJW 2000, S. 1946 f.) kann nicht entnommen werden, dass
insofern eine Grenze von 4 Minuten besteht, bei deren Überschreiten ein
Aufsichtsverstoß vorliegt. Ein Rechtssatz mit dem Inhalt, dass nach Organisation und
tatsächlichem Ablauf der Badeaufsicht gewährleistet werden muss, dass ein auf dem
Wasser treibendes Kind innerhalb von 4 Minuten entdeckt werden muss, kann der
Entscheidung des BGH gerade nicht entnommen werden (OLGR G 2004, 243 (243 f.)).
Die Zeitspanne als solche kann vielmehr nur ein Indiz für eine Aufsichtspflichtverletzung
sein. Es kommt entscheidend darauf an, ob äußerlich erkennbar eine Notsituation
vorlag. Badegäste, die sich wie ein Taucher unter Wasser aufhalten, bedürfen
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besonderer Aufmerksamkeit des Aufsichtspersonals. Steht in einem solchen Fall eine
Untertauchzeit von 4 Minuten oder länger fest, dann wird eine Aufsichtspflichtverletzung
regelmäßig gegeben sein (OLGR I3 2001, 192 (192 ff.)).
Schon nach dem Vortrag des Klägers befand sich der Junge auf den ersten Blick nicht
in derselben Gefahrensituation wie ein im Wasser tauchender Badegast, weil er an der
Wasseroberfläche trieb. Dabei ist zu beachten, dass dies eine Haltung des Jungen war,
die einer Haltung nicht unähnlich ist, die Kinder beim Spiel im Wasser häufig
einzunehmen pflegen (OLGR I3 2001, 192 (192 ff.)). Aufgrund der Haltung des Jungen
allein musste der Schwimmmeister nicht sofort von einer Notlage ausgehen, zumal er
sich im Nichtschwimmerbecken aufhielt, wo er ohne weiteres stehen konnte, also
normalerweise nicht der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt war.
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Zudem steht auch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Junge über einen
längeren Zeitraum auf dem Wasser trieb. Der Kläger ist für eine solche Dauer, die eine
Pflichtverletzung begründen könnte, beweispflichtig. Der genaue Zeitablauf des Unfalls
lässt sich aber gerade nicht feststellen. Es gibt keinen Zeugen, der die konkrete
Situation des Beinahe-Ertrinkens beobachtet hat. Aus dem Parteivortrag und der
beigezogenen Ermittlungsakte ergibt sich lediglich, dass die Kindesmutter ihren Sohn
für etwa 5-8 Minuten nicht gesehen haben will. Dabei ist zum einen zu beachten, dass
dies eine Zeitschätzung ist, die losgelöst von konkreten Anhaltspunkten gemacht wurde
und somit von Natur aus große Ungenauigkeiten aufweist. Vorliegend kommt noch
hinzu, dass die Mutter ihre eigene Schätzung von zunächst 5 Minuten später auf 8
Minuten geändert hat. Zudem gilt, dass selbst dann, wenn die Schätzung zutreffend sein
sollte, hieraus nicht auf eine bestimmte Mindestzeit geschlossen werden kann, während
derer der Junge auf dem Wasser trieb. Denn nach Angaben der Mutter wollte der Junge
einen Schwimmring holen. Wann er ggfs. wieder in das Wasser gekommen und wann er
dann beinahe ertrunken ist, hat niemand beobachtet. Es ist daher nicht auszuschließen
und ebenso wahrscheinlich wie ein früherer Zeitpunkt des Unfalls, dass dies erst
unmittelbar geschah, bevor die Schwester ihren Bruder entdeckte.
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Auch aufgrund des Umfanges der Hirnschädigungen lässt sich nicht von einem
bestimmten längeren Zeitraum des Treibens auf dem Wasser ausgehen. Der
Sachverständige stellt zwar fest, dass die Hirnschädigungen auf eine lange andauernde
Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr (von mindestens 8-10 Minuten) schließen lassen.
Er legt aber nachvollziehbar und zur Überzeugung des Gerichts dar, dass eine
Zuordnung auf eine bestimmte Untertauchzeit nicht möglich ist, da sich in der Lunge des
Jungen erbrochene Nahrungsreste befanden, die eine effektive Beatmung unmöglich
machten. Die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr dauerte somit von der Zeit im Wasser
über die Zeit der beginnenden Reanimation bis zu einer Spätphase während des
Transports an. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass ein wesentlicher Teil
in die Phase der Wiederbelebungsmaßnahme und Rettung fällt.
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Da aufgrund der getroffenen Feststellung nur von einer kurzen Zeitspanne
ausgegangen werden kann, kann aber gerade aufgrund der bereits festgestellten
Ähnlichkeit zu einer Spielsituation nicht von einer Pflichtverletzung ausgegangen
werden, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass noch etwa 50-60 weitere
Badegäste in dem Hallenbad waren, auf die der Schwimmmeister achten musste, und
der Schwimmbereich naturgemäß gefährlicher ist als der Nichtschwimmerbereich.
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Eine Aufsichtspflichtverletzung des Schwimmmeisters kann auch nicht daraus
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hergeleitet werden, dass er nicht bereits auf die Bergung des Jungen durch die
Schwester aufmerksam wurde. Diesbezüglich handelt es sich entsprechend den
vorstehenden Ausführungen auch um eine Situation, die äußerlich einem Spielverhalten
von Kindern nicht unähnlich ist. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass bis zum
Einschreiten des Schwimmmeisters einige Minuten vergangen sind. Die Schwester des
Jungen gab im Rahmen ihrer Anhörung am 26.04.1999 an, der Schwimmmeister sei
sofort zum Beckenrand gekommen Auch die Eheleute M gaben in ihrer Befragung am
20.04.1999 an, dass sie diesen sofort, nachdem sie den Jungen am Beckenrand
gesehen hätten, informiert hätten. Die Mutter des Jungen gab an, dass in dem Moment,
als der Junge an den Beckenrand gelegt wurde, andere Leute und auch der
Schwimmmeister erschienen. Auch der Umfang der Unfallfolgen lässt insoweit, wie
bereits dargelegt, keine weiteren Rückschlüsse auf den Zeitablauf zu.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage der Frau E im
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Diese befand sich mit ihren Kindern zum
Unfallzeitpunkt ebenfalls in dem Nichtschwimmerbereich des Hallenbades. Sie
bemerkte den Jungen nach ihren eigenen Angaben aber erst, als er am Beckenrand lag.
Eine für jeden äußerlich ersichtliche Notlage des Jungen bis zur Beendigung der
Bergung kann damit nicht angenommen werden.
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Schließlich ist auch in den durchgeführten Erste-Hilfe-Maßnahmen des
Schwimmmeisters keine Pflichtverletzung zu sehen. Auch insoweit schließt sich die
Kammer den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Gutachters an.
Dieser stellt fest, dass aus medizinischer Sicht ein Unterlassen der Mund-zu-Mund
Beatmung bei einem frisch verunfallten Kind, welches nicht atmet, ein schwerer und
vorwerfbarer Fehler gewesen wäre. Der Schwimmmeister musste sich zur Vermeidung
der Erstickung für die Mund-zu-Mund-Beatmung entscheiden. Eine Aspiration von
Nahrungsresten in die Lunge war zwar in der gegeben M2 nicht völlig auszuschließen.
Es war nach den Ausführungen des Sachverständigen und zur Überzeugung der
Kammer nicht möglich zu verhindern, dass grobe Nahrungsreste zusammen mit
verschlucktem Wasser erbrochen und in die Lunge gedrückt wurden. Hierzu fehlte es an
der erforderlichen technischen Ausrüstung, die erst in dem Kinderhospital in P zur
Verfügung stand und von der Beklagten vor Ort in einem Schwimmbad nicht vorgehalten
werden kann.
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Schließlich kann nach den Feststellungen des Gutachtens auch die Kausalität einer
etwaigen Pflichtverletzung für den eingetreten Schaden nicht zur Überzeugung der
Kammer festgestellt werden. Es ist nämlich ebenso wahrscheinlich, dass der Beinahe-
Ertrinkungsunfall des Kindes bereits mit einem Hochwürgen von Nahrung begonnen hat
und dass dabei bereits größere N4 Bratwurst in die Lunge gelangt sind. Daher könnte
es sich auch nicht primär um einen Beinahe-Ertrinkungsunfall handeln, sondern um eine
sogenannte Bolusobstruktion, bei der durch Hochwürgen feste Nahrungsbestandteile
bis in die Kehlkopfregion eine Verlegung der Luftwege und reflektorische Mechanismen
mit einer Beeinträchtigung der Herz- und Atemtätigkeit auftreten können, die für sich
allein zum Bolustod führen können. Hierfür spricht, dass es auch den nachfolgenden
Wiederbelebern nicht gelungen ist, eine ausreichende Sauerstoffversorgung
sicherzustellen und das Kind aus dem Sauerstoffmangel zu befreien. Dies spricht gegen
die Annahme, dass irreparable Hirnschäden hätten verhindert werden können, wenn die
Notsituation des Kindes unmittelbar nach ihrem Auftreten vom Schwimmmeister
festgestellt worden wäre.
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Deliktische Ansprüche gegen die Beklagte - entweder nach § 831 BGB oder nach § 839
BGB i.V.m. Art. 34 GG - scheiden entsprechend obiger Ausführungen schon mangels
Aufsichtspflichtverletzung (Verkehrssicherungspflichtverletzung) aus. Zudem wären
deliktische Ansprüche nach § 852 BGB a. F. verjährt.
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Mangels bestehender Schadensersatzansprüche ist auch der Feststellungsantrag zu
Ziff. 2) unbegründet.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 709 ZPO.
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