Urteil des LG Mönchengladbach vom 16.04.2002

LG Mönchengladbach: unfall, fahrzeug, höchstgeschwindigkeit, verschulden, anschlussberufung, verkehr, sorgfalt, selbstjustiz, vorsicht, motiv

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Leitsätze:
Tenor:
1
2
3
4
Aktenzeichen:
Landgericht Mönchengladbach, 5 S 86/01
16.04.2002
Landgericht Mönchengladbach
Zivilkammer
Urteil
5 S 86/01
Amtsgericht Grevenbroich, 11 C 291/00
Wer absichtlich nur deshalb scharf abbremst, um den nachfolgenden
Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren oder zu maßregeln, haftet für die
Folgen eines Auffahrunfalles auch dann zu 100 %, wenn der
Nachfolgende den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis dafür, dass
er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat, nicht entkräften
kann. Ak-te der Selbstjustiz im Straßenverkehr widersprechen in schwer
wiegender Weise den im Straßenverkehr geltenden Geboten der Vorsicht
und Rücksichtnahme, und zwar auch dann, wenn sie sich gegen ein
vorhergehendes Fehlverhalten eines anderen Ver-kehrsteilnehmers
richten.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts
Grevenbroich vom 16.11.2001 (11 C 291/00) teilweise abgeändert und
wie folgt neu gefasst:
Die Kalge wird abgewiesen.
Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster Insatnz und des
Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.
" ... Die Berufung der Bekl ist zulässig und begründet.
Die Anschlussberufung des Kl ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist insgesamt unbegründet und daher in Abänderung der amtsgerichtlichen
Entscheidung in vollem Umfang abzuweisen. Dem Kl steht gegenüber den Bekl ein
Schadensersatzanspruch aus dem Unfallereignis v. 20. 1. 2000 nicht zu.
Zwar liegen die Voraussetzungen einer Haftung der Bekl nach §§ 18 Abs. 1 StVG, 3 PflVG
grundsätzlich vor. Das Fahrzeug des Kl ist beim Betrieb eines Kfz beschädigt worden,
dessen Fahrerin die Bekl zu 1) und dessen Haftpflichtversicherer die Bekl zu 2) war. Der
Unfall war auch, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt und wie auch das
AG zu Recht angenommen hat, für keinen der beiden beteiligten Fahrer unabwendbar im
5
6
7
8
9
10
Sinne von § 7 Abs. 2 StVG oder unverschuldet im Sinne von § 18 Abs. 2 StVG.
Bei der demgemäß vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen
Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG tritt jedoch der mögliche Anteil der Bekl zu
1) am Zustandekommen des Unfalles so weit hinter das grob verkehrswidrige Verhalten
des Kl, welches als die Hauptursache des Unfalles anzusehen ist, zurück, dass eine
Haftung der Bekl gänzlich entfällt und der unfallbedingte Schaden des Kl in vollem Umfang
von diesem selbst zu tragen ist. Dies gilt auch in Ansehung eines nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme nicht auszuschließenden schuldhaften Verursachungsbeitrages der Bekl
zu 1).
Bei der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG können nur solche Umstände Berücksichtigung
finden, die zwischen den Parteien unstreitig oder nach dem Ergebnis der durchgeführten
Beweisaufnahme erwiesen sind.
Unstreitig ist die Bekl zu 1) mit dem von ihr gesteuerten Wagen auf das vor ihr fahrende
Fahrzeug des Kl aufgefahren. Bei Auffahrunfällen spricht der Beweis des ersten Anscheins
dafür, dass der Auffahrende die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat, weil er
entweder zu dicht aufgefahren ist oder seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrslage
angepasst hat oder weil er es an der erforderlichen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen (OLG
Karlsruhe VRS 77, 100, 101 f.; KG DAR 1976, 74, 75; KG NZV 1993, 478; OLG Köln MDR
1995, 577; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 2 StVO, Rdnr. 17). Dieser gegen
den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis wird nur entkräftet, wenn die ernsthafte
Möglichkeit eines atypischen, nicht für ein Verschulden des Auffahrenden sprechenden
Geschehensablaufes vorliegt. Letzteres muss der Auffahrende darlegen und ggf. beweisen
(OLG Karlsruhe, aaO).
Im vorliegenden Fall haben jedoch die Bekl den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis
erschüttern können. Zwar schließt allein der Umstand, dass der Kl unter Verstoß gegen § 4
Abs. 1 S. 2 StVO ohne zwingenden Grund scharf gebremst hat, eine Anwendung des
genannten Anscheinsbeweises gegen die Bekl noch nicht aus. Auch bei unverhofft starkem
Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund ist vielmehr in der Regel von
einem überwiegenden Verursachungsbeitrag des Auffahrenden auszugehen (OLG Köln
MDR 1995, 577; KG NZV 1993, 478; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl.; § 4 StVO,
Rdnr. 17 m. w. Nachw.). Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 StVO ist der nachfolgende Fahrer nämlich
verpflichtet, einen so großen Abstand zu halten, dass er auch dann hinter dem
Vorausfahrenden halten kann, wenn dieser plötzlich bremst.
Im vorliegenden Fall kommt jedoch hinzu, dass der Kl nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme absichtlich scharf gebremst hat, um die Bekl zu 1), über deren
vorhergehendes Fahrverhalten er sich geärgert hatte, zu disziplinieren oder zu maßregeln.
Der Kl hat mithin zwar nicht den Unfall, aber die Gefahrensituation, welche sich in dem
Zusammenstoß beider Fahrzeuge verwirklicht hat, vorsätzlich herbeigeführt. Dies
rechtfertigt es, dem Kl die volle Haftung für den unfallbedingten Schaden aufzuerlegen,
ungeachtet der Tatsache, dass die Bekl zu 1) durch ausreichenden Abstand, aufmerksame
Fahrweise und eine schnelle Bremsreaktion den Unfall möglicherweise hätte verhindern
können.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass
der Kl das von ihm geführte Fahrzeug plötzlich und stark abgebremst hat. Dies ergibt sich
nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aufgrund der schlüssigen und nachvollziehbaren
Darlegungen des Sachverständigen. Zur näheren Begründung kann insoweit zur
11
12
13
14
15
Vermeidung von Wiederholungen auf die Beweiswürdigung des amtsgerichtlichen Urteils
verwiesen werden, der sich die Kammer insoweit anschließt.
Die hiergegen von Seiten des Kl vorgebrachten Einwendungen vermögen kein anderes
Ergebnis zu rechtfertigen. So hat der Sachverständige seine Feststellung insbesondere
nicht unkritisch auf die Feststellungen der unfallaufnehmenden Polizeibeamten vor Ort
gestützt, sondern diese lediglich im Zusammenhang mit dem Beschädigungsbild und den
sonstigen Tatsachen angemessen gewürdigt. Demgemäß hat der Sachverständige seine
Feststellung, dass das Fahrzeug des Kl vor dem Unfall stark abgebremst wurde,
ausdrücklich auch bereits ohne Berücksichtigung der Spuren auf der Fahrbahn getroffen
und das Vorhandensein dieser Spuren, die nach seinen nachvollziehbaren Darlegungen
durchaus vom klägerischen Fahrzeug stammen können, nur als ein weiteres Indiz für diese
Feststellung verwertet. Auch die Kammer erachtet daher das Gutachten des
Sachverständigen für in vollem Umfang zutreffend und überzeugend.
Die Kammer sieht es darüber hinaus aber auch als erwiesen an, dass der Kl das
beschriebene Bremsmanöver bewusst vornahm, um die hinter ihm fahrende Bekl zu 1) zu
maßregeln. Ein verkehrsbedingter Grund für das plötzliche Bremsen des Kl ist nicht
ersichtlich. Soweit der Kl behauptet, er habe deshalb gebremst, weil er gemerkt habe, dass
sein Fahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h etwas überschritten habe,
sieht die Kammer dies als durch das Gutachten des Sachverständigen widerlegt an. Die
von dem Sachverständigen festgestellte Stärke und Heftigkeit des Bremsmanövers lässt
sich mit einem Abbremsen wegen geringfügiger Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit nicht vereinbaren. Da auch ein sonstiges Motiv für das plötzliche
Bremsen des Kl nicht erkennbar ist, sieht es die Kammer als mit hinreichender Sicherheit
erwiesen an, dass der Kl, der sich unstreitig über das vorhergehende Fahrverhalten der
Bekl zu 1) geärgert hatte, bremste, um diesem Ärger gegenüber der Bekl zu 1) Ausdruck zu
verleihen.
Da die Kammer diese Überzeugung bereits auf Grund des bisherigen Beweisergebnisses
gewonnen hat, bedurfte es einer Vernehmung der in der Berufungsinstanz von den Bekl
zum Beweis dieser Tatsache benannten Zeugin nicht mehr.
Der Kl hat damit den Unfall durch ein Verhalten verursacht, welches als grob
verkehrswidrig anzusehen ist. Akte der Selbstjustiz im Straßenverkehr widersprechen in
schwer wiegender Weise den darin geltenden Geboten der Vorsicht und Rücksichtnahme
und zwar auch dann, wenn sie sich gegen ein vorhergehendes Fehlverhalten eines
anderen Verkehrsteilnehmers richten oder auf ein solches reagieren. Der Kl hat hier
vorsätzlich eine Gefahrensituation geschaffen, die sich dann in dem Unfall verwirklicht hat.
Auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kl einen Unfall herbeiführen
wollte, so hat er willentlich eine Unfallgefahr geschaffen. Es kann ihn daher nicht entlasten,
dass er möglicherweise darauf vertraute, dass die von ihm bewusst und ohne
rechtfertigenden Grund zum Bremsen genötigte Bekl zu 1) noch rechtzeitig abstoppen und
so einen Zusammenstoß würde verhindern können. Unerheblich ist es in diesem
Zusammenhang auch, dass der Bekl sein Fahrzeug nicht bis zum Stillstand abgebremst
hat.
Bei Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge gemäß dem vorgenannten
Beweisergebnis wiegt das verkehrswidrige Verhalten des Kl so schwer, dass
ausnahmsweise nicht nur die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges, sondern auch ein
mögliches, im vorliegenden Falle jedenfalls nicht gravierendes Verschulden der Bekl zu 1)
vollständig dahinter zurücktritt. Die Klage ist daher in vollem Umfang abzuweisen ... "