Urteil des LG Köln vom 08.10.2003
LG Köln: treuhänder, einziehung, besitz, meinung, pfändbarkeit, verfügungsmacht, erfüllung, aussonderung, unterliegen, zugehörigkeit
Landgericht Köln, 23 S 48/03
Datum:
08.10.2003
Gericht:
Landgericht Köln
Spruchkörper:
23. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
23 S 48/03
Vorinstanz:
Amtsgericht Köln, 146 C 63/02
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Köln
vom 04.02.2003 – 146 C 63/02 – abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand und Entscheidungsgründe:
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Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO abgesehen.
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Die Berufung ist zulässig und begründet.
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Die Klage ist unbegründet.
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Der Kläger hat keinen Anspruch nach §§ 1 Abs. 1 S. 2, 49, 178a Abs. 2 S. 1 VVG auf
Erstattung der Versicherungsleistungen gegen die Beklagte. Dieser Anspruch ist
aufgrund der Leistung der Beklagten an den Treuhänder durch Erfüllung nach § 362
Abs. 1 BGB erloschen.
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Die Erfüllung setzt ein Bewirken der Leistung an den zu ihrer Annahme befugten
Gläubiger voraus. Die Leistung an den Gläubiger hat daher keine befreiende Wirkung,
wenn ihm die Empfangszuständigkeit bzw. Verfügungsmacht über die Forderung durch
§ 80 Abs. 1 InsO entzogen war (vgl. Heinrichs in Palandt, BGB, 61. Aufl. 2002, § 362
Rdnr. 3). Nach Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens ging gemäß §§ 313, 292,
80 Abs. 1 InsO die das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen betreffende
Verfügungsmacht auf den Treuhänder über. Der Kläger war nicht mehr zur Annahme der
Leistung befugt; hätte die Beklagte an ihn geleistet, wäre sie nicht von der Leistung frei
geworden. Um diese Wirkung zu erzielen, mußte sie an den Treuhänder leisten.
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Bei der dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Forderung handelt es sich um eine
Leistung einer privaten Krankenversicherung und damit um eine nach § 850 b Abs. 1 Nr.
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4 ZPO bedingt pfändbare Forderung. Die bedingte Pfändbarkeit ist jedoch mit dem
Insolvenzverfahren nicht vereinbar, denn sie setzt nach § 850 b Abs. 2 ZPO eine
Billigkeitsentscheidung nach den Umständen des Einzelfalls voraus. Solche
Billigkeitsentscheidungen zugunsten einzelner Gläubiger haben im Insolvenzverfahren
keinen Platz. In der Gesamtvollstreckung ist eine bedingte Pfändbarkeit systemwidrig.
Das Insolvenzverfahren mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz dient der Befriedigung
sämtlicher Gläubiger eines Schuldners. Aus diesem Grund hat das InsOÄndG 2001 in
§ 36 Abs. 1 S. 2 InsO die Vorschrift des § 850b ZPO nicht für entsprechend anwendbar
erklärt (vgl. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 36 Rdnr. 28; Bäuerle in Braun, InsO,
2002, § 36 Rdnr. 3). Da § 36 Abs. 1 S. 1 InsO alle Pfändungsverbote der ZPO (samt
§ 850 b Abs. 1 ZPO) integriert und § 36 Abs. 1 S. 2 ZPO hieran nichts ändert, gehören
die in § 850 b Abs. 1 ZPO genannten Bezüge in voller Höhe nicht zur Insolvenzmasse
(vgl. Foerste, Insolvenzrecht, München, 2003, § 15 Rdnr. 153). Selbst wenn also das
Vollstreckungsgericht eine Pfändbarkeitsentscheidung nach § 850 b Abs. 2 ZPO
erließe, hätte dies nicht zur Folge, daß die entsprechenden Bezüge in die
Insolvenzmasse (d.h. "Sollmasse") fielen.
Allerdings ist in der Literatur umstritten, in welchem Umfang und in welchem
verfahrensrechtlichen Kontext die Pfändungsschutzregelungen der §§ 850 ff. ZPO im
Insolvenzverfahren zu berücksichtigen sind. Insbesondere die Empfangszuständigkeit
des Insolvenzverwalters bzw. des Treuhänders für Arbeitseinkommen wird
unterschiedlich beurteilt.
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Nach einer Ansicht ist der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder nur bezüglich des
pfändbaren Teils des Einkommens empfangsberechtigt. Er soll nur insoweit zur
Einziehung der Forderung berechtigt sein, als der Insolvenzbeschlag reicht, und soll
daher nur in Höhe des gemäß § 850 c ZPO pfändbaren Betrages vom Arbeitgeber
Auszahlung an sich verlangen können. Hinsichtlich des unpfändbaren Teils des
Arbeitseinkommens verliere der Schuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
nicht, so daß er weiterhin zur Einziehung dieses Teils befugt sei. Die Einziehung des
Gesamtbetrages durch den Insolvenzverwalter sei unzulässig (vgl. Steder, ZIP 1999,
1874, 1876; Bäuerle in Braun, InsO, § 36 Rdnr. 11 f.). Zur Begründung wird angeführt,
der Pfändungsfreibetrag sei aussonderungsbehaftet, und das Bestehen des
Aussonderungsanspruches könne nicht über die fehlende Einziehungsbefugnis des
Insolvenzverwalters bzw. des Treuhänders hinweg helfen. Auch schütze dieser
Anspruch das Interesse des Schuldners nicht, da er dem Schuldner nicht den
Pfändungsfreibetrag, sondern lediglich den Anspruch auf diesen Betrag gebe (vgl.
Bäuerle in Braun, InsO, § 36 Rdnr. 12). Auch wird angenommen, die Situation bei
Arbeitseinkommen sei anders als bei (un-)beweglichen Sachen zu beurteilen, die der
Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder unabhängig vom Bestehen von Aus- oder
Absonderungsrechten als "Istmasse” in Besitz zu nehmen berechtigt und grundsätzlich
auch verpflichtet ist und im folgenden auf die "Sollmasse” zu bereinigen hat (vgl. Steder,
ZIP 1999, 1874, 1876). Schließlich werden praktische Aspekte ins Feld geführt wie die
Tatsache, daß für den Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder ansonsten ein erheblicher
Arbeits- und Zeitaufwand und für den Schuldner eine nicht gerechtfertigte Verzögerung
entstünde (vgl. Steder, ZIP 1999, 1874, 1876).
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Die andere Ansicht geht davon aus, daß der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder
berechtigt ist, das gesamte Arbeitseinkommen einzuziehen und anschließend den
aussonderungsbehafteten Pfändungsfreibetrag an den Schuldner auszukehren hat (vgl.
Peters in Münchener Kommentar, InsO, Band 1, 2001, § 36 Rdnr. 40). Auch das
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Arbeitseinkommen ist hiernach in Gänze Teil der "Istmasse” (vgl. Smid, InsO, 2. Aufl.
2001, § 36 Rdnr. 3). Für dieses Ergebnis spreche, daß der Gehaltsanspruch ein
einheitlicher Anspruch sei, der nicht von vornherein in einen pfändbaren und einen
unpfändbaren Anspruch geteilt sei (vgl. Bäuerle in Braun, InsO, § 36 Rdnr. 11). Auch
bringe die zuerst genannte Ansicht eine zu starke Zurückdrängung der
Gläubigerinteressen mit sich, da der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder bei
Streitigkeiten über die Höhe der pfändungsfreien Beträge gegebenenfalls wegen
geringer Beträge Rechtsstreitigkeiten mit dem Arbeitgeber des Schuldners führen
müsse (vgl. Peters in Münchener Kommentar, InsO, § 36 Rdnr. 42).
Der zuletzt dargestellten Meinung wird gefolgt. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb die
rechtliche Situation bei (un-)beweglichen Sachen eine andere sein soll als bei dem
Arbeitseinkommen und ähnlichen Bezügen. Es ist einhellige Meinung, daß der
Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder nach § 148 InsO und berechtigt und verpflichtet ist,
auch solche Gegenstände in Besitz zu nehmen, deren Massezugehörigkeit zweifelhaft
ist. Eine Grenze ist erst erreicht, wenn die Gegenstände erkennbar massefremd sind
(vgl. Wegener in Frankfurter Kommentar, InsO, 3. Aufl. 2002, § 148 Rdnr. 4; Lwowski in
Münchener Kommentar, InsO; § 35 Rdnr. 79; Uhlenbruck, InsO, § 148 Rdnr. 2, 5;
Foerste, Insolvenzrecht, § 15 Rdnr. 156; Smid, InsO, § 35 Rdnr. 9). Der Begriff der
Insolvenzmasse ist insoweit in einem umfassenden, auf die tatsächlichen Verhältnisse
bei Amtsantritt des Insolvenzverwalters bzw. des Treuhänders bezogenen Sinne zu
verstehen. Es handelt sich sozusagen um eine "vorläufige Insolvenzmasse”, die auch
ungewisse, jedoch sicherungsbedürftige Rechte einschließt, selbst wenn sie sich im
Rahmen der Insolvenzbereinigung als massefremd erweisen sollten (vgl. Uhlenbruck,
InsO, § 148 Rdnr. 2). Zu dieser "vorläufigen Insolvenzmasse”, der "Istmasse”, gehören
auch die nach § 850 b Abs. 1 ZPO bedingt pfändbaren Bezüge, da von dieser auch
solche Gegenstände erfaßt werden, die nach den §§ 35, 36 InsO nicht zur verwertbaren
"Sollmasse” gehören. Der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder ist auch insoweit nach
§ 80 Abs. 1 InsO verantwortlich.
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Die Rechtszuständigkeit des Insolvenzverwalters bzw. des Treuhänders erstreckt sich
auf die "Istmasse”, aus der er insbesondere durch die Bedienung der
Aussonderungsrechte die zu verwertende "Sollmasse” erstellt (vgl. Smid, InsO, § 35
Rdnr. 21, 22). Es ist also Aufgabe des Insolvenzverwalters bzw. des Treuhänders, das
den Gläubigern haftende Vermögen festzustellen und für sie zu verwerten. Er hat dazu
aus der "Istmasse” diejenigen Gegenstände an Gläubiger herauszugeben, an denen
diese zur Aussonderung berechtigende Rechte haben, sowie diejenigen Gegenstände
an den Schuldner auszukehren, die wegen ihrer Pfändungsfreiheit dem
Insolvenzbeschlag nicht unterliegen (vgl. Smid, InsO, § 35 Rdnr. 24). Dies, die
Herstellung der "Sollmasse”, ist die Funktion des § 36 InsO. Er bezeichnet zum einen
die Gegenstände (Sachen und Rechte) im Vermögen des Schuldners, die vom
Insolvenzbeschlag nicht erfaßt sind, und normiert zum anderen die Aufgabe des
Insolvenzverwalters bzw. Treuhänders, diese Gegenstände auszusondern und an den
Schuldner herauszugeben (vgl. Smid, InsO, § 36 Rdnr. 1). Die
Pfändungsbeschränkungen der ZPO sind also im Insolvenzverfahren von dem
Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder zu beachten, nicht von den Drittschuldnern.
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Gleiches gilt auch für Krankenversicherungsleistungen im Sinne von § 850 b Abs. 1 Nr.
4 ZPO. Um von ihrer Verpflichtung frei zu werden, mußte die Beklagte an den
Treuhänder leisten, der anschließend die Zugehörigkeit dieser Leistung zur Soll-Masse
zu prüfen hatte, ob sie vom Insolvenzbeschlag erfaßt ist und verwertet werden kann.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 11, 713 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil der Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung
hat, und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung dies nicht erfordert.
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Streitwert der Berufung: 929,56 €
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