Urteil des LG Kleve vom 21.01.2009

LG Kleve: unechte rückwirkung, abfallentsorgung, satzung, grundstück, zwangsversteigerung, vertrauensschutz, anschluss, rechtssicherheit, inhaber, eigentümer

Landgericht Kleve, 4 T 240/08
Datum:
21.01.2009
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
4. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 T 240/08
Tenor:
In Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts Geldern vom 26.
August 2008 wird der von der Beteiligten zu 1. geltend gemachte
Anspruch auf Steuern und Abgaben seit dem 4. August 2006 in Höhe
von 4.422,66 € und Kosten der Vollstreckung in Höhe von 123,55 € der
Rangklasse § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG zugeordnet.
Die Kosten des Verfahrens werden der Schuldnerin auferlegt.
G r ü n d e
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Die Beteiligte zu 1. ist eine Kommune. Sie betreibt wegen näher bezeichneter Steuern
und Abgaben (vgl. Antrag vom 3. Juli 2008) die Zwangsversteigerung des im Rubrum
näher bezeichneten Grundbesitzes der Beteiligten zu 2. Bei den Grundbesitzabgaben
handelt es sich um Gebühren für Schmutzwasser, Straßenreinigung, Winterwartung
sowie Müllentsorgung nebst Mahngebühren und Säumniszuschlägen. Die Kosten für
Abwasser, Straßenreinigung und Winterwartung sind nach den diesbezüglichen
Satzungen der Beteiligten zu 1. grundstücksbezogene Benutzungsgebühren. Den Anfall
der Müllgebühren hat die Beteiligte zu 1. in der Satzung über die Abfallentsorgung vom
14. Dezember 1999 und in der Gebührensatzung zur Satzung über die Abfallentsorgung
vom 14. Dezember 1999 geregelt, auf deren Inhalt verwiesen wird. Die Beteiligte zu 1.
hat beantragt, die angemeldeten Gebührenforderungen insgesamt der Rangklasse § 10
Abs. 1 Nr. 3 ZVG zuzuordnen. Mit Beschluss vom 26. August 2008 hat das Amtsgericht
Geldern die Zwangsversteigerung des Grundbesitzes angeordnet und hierbei den
angemeldeten Anspruch der Beteiligten zu 1. der Rangklasse § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG
zugeordnet. Zur Begründung hat es ausgeführt: Allerdings handele es sich bei den
angemeldeten Kosten für Abwasser, Straßenreinigung und Winterwartung ausweislich
der vorgelegten Satzungen der Beteiligten zu 1. um grundstücksbezogene
Benutzungsgebühren. Nach der Satzung über die Abfallentsorgung vom 14. Dezember
1999 und der Gebührensatzung zur Satzung über die Abfallentsorgung vom 14.
Dezember 1999 seien aber die Abfallgebühren als personen- und verbrauchsabhängige
Gebühren und damit nicht als grundstücksbezogene Benutzungsgebühren im Sinne des
§ 6 Abs. 5 KAG NRW anzusehen. Da der Beteiligten zu 1. erklärtermaßen eine
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Aufschlüsselung der verschiedenen Gebühren nicht möglich sei, sei die Forderung
insgesamt der Rangklasse § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG zuzuordnen.
Gegen den ihr am 29. August 2008 zugestellten Beschluss wendet sich die Beteiligte zu
1. mit der "Beschwerde" vom 3. September 2008, bei Gericht eingegangen am Folgetag.
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Das Rechtsmittel der Beteiligten zu 1. ist als sofortige Beschwerde gemäß den §§ 11
Abs. 1 RPflG, 793, 869 ZPO zulässig. Soweit mit dem Beschluss auf Anordnung der
Zwangsversteigerung des streitgegenständlichen Grundbesitzes vom 26. August 2008
der Antrag der Gläubigerin auf Zuordnung ihrer Forderung zur Rangklasse § 10 Abs. 1
Nr. 3 ZVG zurückgewiesen worden ist, handelt es sich nämlich um eine Entscheidung
des Vollstreckungsgerichts im Sinne des § 793 ZPO.
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In der Sache hat der Rechtsbehelf Erfolg, da es sich bei den von der Gläubigerin
angemeldeten Steuern und Grundbesitzabgaben um öffentliche Grundstückslasten im
Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG handelt.
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In die Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG gehören öffentliche Grundstückslasten.
Das sind alle persönlichen, sachlichen und finanziellen Leistungen, die dem Bürger
zugunsten der Allgemeinheit auferlegt werden. Öffentliche Grundstückslasten sind die
öffentlich-rechtlichen Lasten nur, soweit das Grundstück dafür dinglich haftet. Die
Eigenschaft als öffentliche Grundstückslast muss sich hierbei aus der rechtlichen
Ausgestaltung der Zahlungspflicht und aus ihrer Beziehung zum Grundstück eindeutig
ergeben. Zweifel in dieser Hinsicht schließen eine Berücksichtigung der Zahlungspflicht
als öffentliche Last aus (vgl. OLG Zweibrücken, WM 2008, 179 f.; Stöber,
Zwangsversteigerungsgesetz, 17. Aufl., § 10 Rdnr. 6 m.w.N.).
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Durch § 6 Abs. 5 Kommunalabgabengesetz NRW in der Fassung vom 9. Oktober 2007
sind grundstücksbezogene Benutzungsgebühren als öffentliche Lasten auf dem
Grundstück ausgestaltet worden. Die hier nur streitige Abgabeverpflichtung für
Müllgebühren folgt aus der einschlägigen Ortssatzung der Beteiligten zu 1. und ist damit
öffentlich-rechtliche Last. Diese Last ist entgegen der Auffassung des Amtsgerichts auch
grundstücksbezogen, weil die Satzung über die Abfallentsorgung der Beteiligten zu 1.
vom 14. Dezember 1999 und die hierzu ergangene Gebührensatzung eindeutig die
dingliche Haftung des Grundstücks für die Abfallentsorgungsgebühren normieren.
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Nach § 2 Abs. 1 der Gebührensatzung sind gebührenpflichtig die "Eigentümer der an
die städtische Abfallentsorgung angeschlossenen Grundstücke und die ihnen
Gleichgestellten gemäß § 23 der Satzung über die Abfallentsorgung". Bei diesen
Gleichgestellten handelt es sich wiederum um "Erbbauberechtigte,
Wohnungseigentümer und sonstige Nutzungsberechtigte im Sinne des
Wohnungseigentumsgesetzes, Nießbraucher sowie alle sonstigen zum Besitz eines
Grundstücks dinglich Berechtigten". Hiernach sind aber ausschließlich
Grundstückseigentümer, die Inhaber grundstücksgleicher Rechte gemäß § 870 ZPO
(Erbbaurecht, Wohnungseigentum) und dinglich Berechtigte (insbesondere
Nießbraucher, §§ 1030 f. BGB) Gebührenschuldner. Demgegenüber interessiert nach
dem Inhalt der Satzung nicht, wer die Abfallentsorgungseinrichtung - etwa als Mieter
oder Pächter oder Betreiber von Unternehmen u.a. - tatsächlich nutzt und die
Dienstleistung der öffentlichen Hand in Anspruch nimmt. Der Anknüpfungspunkt für die
Haftung für die Abfallentsorgungsgebühren ist mithin ausschließlich
grundstücksbezogen, weil eine sich aus dem Grundstück ergebende Berechtigung
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Voraussetzung für das Entstehen der Gebührenschuld ist.
Dass demgegenüber die §§ 7 f. der Satzung über die Abfallentsorgung der Beteiligten
zu 1. vom 14. Dezember 1999 Ausnahmen von dem nach § 6 der Ortssatzung
vorgesehenen Anschluss- und Benutzungszwang der kommunalen
Abfallentsorgungseinrichtung vorsehen und die Höhe der Abfallentsorgungsgebühr
gemäß § 3 der Gebührensatzung zu der vorgenannten Ortssatzung von der Anzahl und
der Größe der für das angeschlossene Grundstück bereitgestellten Gefäße (vgl. § 12 der
Satzung über die Abfallentsorgung) und dem Gewicht der von dem angeschlossenen
Grundstück abgefahrenen Restmüllmengen (§§ 11 u. 16 der Satzung über die
Abfallentsorgung) abhängig ist, führt zu keiner anderen Bewertung. Denn dass einzelne
Grundstückseigentümer oder die Inhaber grundstücksgleicher Rechte oder sonstige
dinglich Berechtigte mangels eines für sie bestehenden Anschluss- und
Benutzungszwanges gänzlich als Gebührenschuldner von Benutzungsgebühren für die
Abfallentsorgung ausscheiden, läßt die Frage völlig unberührt, ob die verbleibenden
Gebührenpflichtigen nach der rechtlichen Ausgestaltung der Zahlungspflicht insoweit
einer persönlichen oder einer dinglichen Haftung als Abgabenschuldner unterliegen. Ob
bei einer - wie ausgeführt - ausschließlich dinglich ausgestalteten Abgabenschuld die
Höhe der Gebühr vom Umfang der tatsächlichen Nutzung der kommunalen Einrichtung
abhängig gemacht wird, hat weiter ebenfalls mit der Frage der persönlichen oder der
dinglichen Haftung nichts zu tun. Andernfalls müssten mit der entsprechenden
Begründung auch die Gebühren etwa nach der Straßenreinigungssatzung der
Beteiligten zu 1. als öffentliche Grundstückslasten abgelehnt werden, weil auch die
Benutzungsgebühren für die Reinigung der öffentlichen Straßen etwa von der
Frontlänge des jeweiligen Grundstücks und damit vom Umfang der Benutzung der
öffentlichen Einrichtung abhängig sind.
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Durch die Neuregelung des § 6 Abs. 5 KAG zum 17. Oktober 2007 werden weiter auch
die zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung rückständigen Benutzungsgebühren der
Beteiligten zu 1. erfasst.
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Nach dem Wortlaut des neu geregelten § 6 Abs. 5 KAG sind grundstücksbezogene
Benutzungsgebühren unabhängig davon öffentliche Last auf dem Grundstück, ob es
sich um die Gebühren für die Benutzung kommunaler Einrichtungen aus der Zeit vor
oder nach Inkrafttreten des Kommunalabgabengesetzes handelt. Auch die weiteren
Bestimmungen des KAG und die Gesetzesmaterialien enthalten zu der Frage der
zeitlichen Geltung keine Differenzierung. Nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung
werden damit Benutzungsgebühren auch aus der Zeit vor Inkrafttreten der gesetzlichen
Neuregelung von der Einstufung als öffentliche Last miterfasst.
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Die Anwendbarkeit der Bestimmung auf Benutzungsgebühren für den in Rede
stehenden Zeitraum führt auch nicht zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen echten
Rückwirkung.
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Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den
Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt das Vertrauen
in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes
geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte. Wegen
des unterschiedlichen Vertrauensschutzes verlaufen dabei die Grenzen der Zulässigkeit
einer unechten Rückwirkung anders als diejenigen einer echten Rückwirkung. Eine
echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig. Sie liegt vor,
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wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit
angehörende Tatbestände eingreift. Auch für diesen Fall können sich allerdings
Ausnahmen ergeben. Das Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz
hat, tritt zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des
geltenden Rechtes bilden konnte. Ferner kommt ein Vertrauensschutz nicht in Betracht,
wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit
vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung von Normen erfordern. Demgegenüber ist
eine unechte Rückwirkung verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Sie liegt vor,
wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und
Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene
Rechtsposition nachträglich entwertet. Allerdings können sich auch insoweit aus dem
Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der
Zulässigkeit ergeben. Diese sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber
angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszweckes nicht geeignet
oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen des Betroffenen die
Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (vgl. BGH NJW 2005, 1428 f.
m.w.N.).
Entscheidend für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Geltung des § 6 Abs. 5
KAG auf schon vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung entstandene
Benutzungsgebühren ist mithin, ob durch die Anwendung der gesetzlichen Bestimmung
auf die genannten Gebühren nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit
angehörende Tatbestände eingegriffen wird oder ob hierdurch nicht abgeschlossene
Sachverhalte oder Rechtsbeziehungen für die Zukunft verändert werden und damit
lediglich zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet wird. Letzteres ist
hier der Fall.
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Die Pflicht zur Entrichtung von Gebühren für die Inanspruchnahme der kommunalen
Abfallentsorgung besteht fortlaufend für den Zeitraum, für den der Gebührenschuldner
Eigentümer des an die städtische Abfallentsorgung angeschlossenen Grundstückes ist
oder für den er zu den Gleichgestellten gemäß § 23 der Satzung über die
Abfallentsorgung der Beteiligten zu 1. zählt. Ergeht ein Gebührenbescheid und zahlt der
Schuldner nicht, ist es zunächst auch völlig offen, ob es zur Durchsetzung der
Forderung überhaupt der Immobiliarvollstreckung bedarf. Dementsprechend handelt es
sich hinsichtlich der Entstehung dieser Gebühren und der Frage, ob diese Gebühren mit
dem Rang des § 10 Abs. 1 Nr. 3 oder Nr. 5 ZVG geltend gemacht werden können, nicht
um einen abgeschlossenen Rechtszustand, in den nur unter den Voraussetzungen
einer echten Rückwirkung eingegriffen werden könnte. Tatsächlich ist bezüglich der
Rangklasse der Benutzungsgebühren vielmehr für die an der Zwangsversteigerung zu
beteiligenden Gläubiger und den Schuldner jedenfalls so lange ein Vertrauensschutz
nicht entstanden, wie die Zwangsversteigerung und damit die Rangfolge der Gläubiger
hinsichtlich ihrer Rechte auf Befriedigung aus dem Grundstück (§§ 10 f. ZVG) noch nicht
angeordnet war.
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Die aus der fehlenden Übergangsregelung des § 6 Abs. 5 KAG n.F. hiernach folgende
bloße unechte Rückwirkung für Benutzungsgebühren aus der Zeit vor Inkrafttreten der
gesetzlichen Neuregelung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn die vom
Gesetzgeber angeordnete sofortige Geltung war für die Erreichung des
Gesetzeszweckes geeignet und erforderlich. Auch dient die Neuregelung Belangen des
Gemeinwohls, weil mit der rangbesseren Berücksichtigung die Kommune die größere
Aussicht erhält, für die Inanspruchnahme ihrer öffentlichen Einrichtungen auch
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tatsächlich die geschuldeten Benutzungsgebühren zu erhalten. Diesen öffentlichen
Zwecken gegenüber haben die privaten Bestandsinteressen der weiteren beteiligten
Gläubiger und des Schuldners zurückzutreten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1 ZPO.
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Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren: bis 5.500,00 €.
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