Urteil des LG Kleve vom 08.03.2000

LG Kleve: schmerzensgeld, operation, fraktur, sicherheitsleistung, zustand, krankengymnastik, wahrscheinlichkeit, arbeitsunfähigkeit, erwerbsfähigkeit, beweisverfahren

Landgericht Kleve, 2 O 327/99
Datum:
08.03.2000
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
2. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 O 327/99
Schlagworte:
Heilbehandlung am Menschen
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 25.000,00 DM (i.W.
fünfundzwanzigtausend Deutsche Mark) nebst 4 % Zinsen seit dem 31.
August 1999 zu zahlen.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des
selbständigen Beweisverfahrens vor dem Landgericht L2 tragen der
Kläger zu 1/6 und der Beklagte zu 5/6, mit Ausnahme derjenigen Kosten,
die in dem selbständigen Beweisverfahren durch die Anrufung des
unzuständigen Amtsgerichts N entstanden und daher von dem Kläger
allein zu tragen sind.
Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
35.000,00 DM vorläufig vollstreckbar, für den Beklagten ohne
Sicherheitsleistung.
Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstrekkung des Beklagten
durch Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000,00 DM abzuwenden, wenn
nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Die Sicherheitsleistungen können jeweils auch in Form einer
unbedingten, unbefristeten, selbstschuldnerischen Bürgschaft einer
deutschen öffentlichen Sparkasse oder einer deutschen Großbank - oder
Genossenschaftsbank erbracht werden.
Tatbestand
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Der Kläger nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld wegen ärztlicher
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Falschbehandlung in Anspruch.
Am 23. Mai 1996 erlitt der Kläger in L3 bei einem Arbeitsunfall eine
Radiusköpfchenfraktur am rechten Ellenbogen. Er wurde zunächst von Dr. L in L3-.....
behandelt, der eine Schiene anlegte. Am 24. Mai 1996 stellte sich der Kläger bei dem
Beklagten zur Behandlung vor. Am 24. und 31. Mai 1996 sowie am 14. Juni 1996 nahm
der Beklagte bei dem Kläger Röntgenaufnahmen vor, auf denen die Fraktur des
Radiusköpfchens zu sehen war. Der Beklagte ergriff konservative
Behandlungsmaßnahmen und nahm dem Kläger schließlich die Schiene wieder ab. Am
5. Juli 1996 konnte der Kläger den rechten Arm wieder zu 100 Grad strecken.
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Der Kläger nahm sodann seine Arbeitstätigkeit wieder auf. Am 24. Juli 1996 stellte er
sich im Krankenhaus ,.... in N vor. Dort konnte festgestellt werden, daß die Motorik des
Klägers eingeschränkt und eine Flexion nicht vollständig möglich war. Die Streckung
war bis 140 Grad möglich.
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Im St. Josef Krankenhaus in N stellte der behandelnde Arzt Dr. X fest, daß der
Frakturstand verschoben war. Der Kläger wurde stationär aufgenommen und am 2.
August 1996 operiert. Es wurde eine Zugschraubenosteosynthese vorgenommen. Am 4.
Februar 1997 wurde das Metall aus dem Arm des Klägers wieder entfernt und eine
Arthrolyse vorgenommen.
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Bei dem Kläger verblieb eine partielle Gelenkstarre in der Weise, daß der Kläger den
rechten Arm nicht mehr vollständig strecken kann.
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Nach der Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens forderte der Kläger mit
Schreiben vom 6. April 1999 von dem Beklagten ein Schmerzensgeld von 30.000,00
DM. Die Haftpflichtversicherung des Beklagten bot dem Kläger zunächst 5.000,00 DM,
später 8.000,00 DM an.
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Mit Bescheid vom 19. August 1998 gewährte die Berufsgenossenschaft für den
Einzelhandel dem Kläger eine Verletztenrente wegen einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit in Höhe von 20 % (Bl 44 d.A.). Diesem Bescheid lag ein Gutachten
des Arztes Dr. X vom 9. Juli 1998 (Bl. 45 - 52 d.A.) zugrunde. Im Rahmen eines
Sozialrechtsstreits wurde zudem ein weiteres Gutachten vom 17. August 1999 (B1. 53 -
61 d.A.) eingeholt. In diesem Gutachten heißt es, daß sich mittlerweile ein Streckdefizit
von über 50 Grad zeige, wobei sich im Vergleich zu dem Vorgutachten eine
zunehmende Tendenz zeige (Bl. 59 d.A.).
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Der Kläger behauptet, der Beklagte habe bei den von ihm gefertigten
Röntgenaufnahmen übersehen, daß sich die Fraktur bereits zu diesem Zeitpunkt
verschoben hatte. Eine sofortige Operation sei indiziert gewesen. Statt dessen habe der
Beklagte den Kläger pflichtwidrig nur konservativ behandelt und ihm sogar zur
Arbeitsaufnahme geraten, da sich bei der Arbeit eine Vergrößerung des Streckwinkels
ergebe. Die bei dem Kläger vorgenommenen Operationen hätten hinsichtlich des
Beugedefizits keinen Heilerfolg mehr gezeitigt.
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Die Pflichtverletzung des Beklagten sei für die Schädigung des rechten Armes des
Klägers auch ursächlich. Vorschädigungen bestünden keine, auch die monatelang nach
den beiden Operationen durchgeführte Krankengymnastik sei qualitativ gut gewesen.
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Aufgrund seiner Verletzungen sei der Kläger arbeitslos geworden. Er hält ein
Schmerzensgeld von mindestens 30.000,00 DM für angemessen.
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Er beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen
Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 Zinsen ab
Klagezustellung zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er behauptet, bei der Röntgenuntersuchung am 31. Mai 1996 habe sich ein guter
Fragmentstand der Fraktur gezeigt. Er habe die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum
5. Juli 1996 angeordnet. Danach habe der Kläger auf eigenen Wunsch seine
Arbeitstätigkeit wieder aufgenommen.
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Der Beklagte bestreitet, daß erhebliche Bewegungseinschränkungen an dem
Ellenbogengelenk des Klägers eingetreten sind. Jedenfalls seien diese im wesentlichen
auf die Fraktur selbst zurückzuführen. Die Verletzung sei vollständig ausgeheilt.
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Zudem sei es nicht sicher, daß der Folgezustand - insbesondere in Anbetracht der
Arbeitsaufnahme des Klägers - vollständig hätte vermieden werden können. Neben der
unterlassenen Operation seien für den Zustand des Klägers auch weitere Faktoren
ursächlich wie der individuelle Zustand des Muskel- und Bewegungsapparates, die
Qualität der postoperativen Krankengymnastik, die Eigenleistung des Patienten an den
Bewegungsübungen und die individuell unterschiedliche Tendenz zur Vernarbung und
Verklebung von Gelenkkapselstrukturen.
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Der Kläger sei nicht erwerbsunfähig.
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Die nach Durchführung eines Prozeßkostenhilfeverfahrens erhobene Klage ist dem
Beklagten am 30. August 1999 zugestellt worden (Bl. 30 d.A.).
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Die Beiakten waren zu Beweiszwecken beigezogen und Gegenstand der mündlichen
Verhandlung, insbesondere das Gutachten des Sachverständigen Dr. S vom 11.
Februar 1999 (Bl. 65 - 73 der Beiakte).
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet. Der Kläger hat gegen den
Beklagten einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von
25.000,00 DM aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB wegen einer ärztlichen Falschbehandlung
durch den Beklagten.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in dem vor der Kammer anhängigen
selbständigen Beweisverfahren steht zur Überzeugung der Kammer fest, daß der
Beklagte bei der Untersuchung des Klägers spätestens am 14. Juni 1996 übersehen
hat, daß sich die Unterarmknochenfraktur bereits verschoben hatte. Der
Sachverständige Dr. S hat in seinem Gutachten vom 11. Februar 1999 ausgeführt, daß
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die Röntgenaufnahme vom 31. Mai 1999 bereits so mangelhaft sei, daß hierauf nicht zu
erkennen sei, ob sich der Knochen verschoben habe oder nicht. Bereits dies stellt ein
Pflichtversäumnis des Beklagten dar. Wenn die von ihm gefertigte Röntgenaufnahme so
mangelhaft ist, daß mit ausreichender Sicherheit zum Frakturstand nicht Stellung
genommen werden kann, hätte der Beklagte diese Röntgenaufnahme wiederholen
müssen. Der Sachverständige hat jedoch ausgeführt, daß spätestens auf der
Röntgenaufnahme vom 14. Juni 1996 eine deutliche Verschiebung der an der
Radiusköpfchenfraktur beteiligten Gelenkflächen erkennbar war (B1. 69 der Beiakte).
Nach allgemeiner Auffassung ergebe sich jedoch bei verschobenen Brüchen des
Speichenköpfchens die Indikation zum operativen Vorgehen. Da aus den
Röntgenaufnahmen vom 14. Juni 1996, die eine derartige Verschiebung der
Frakturanteile bereits erkennen ließen, keine operativen Konsequenzen gezogen
worden seien, müsse angenommen werden, daß der vorliegende Befund von dem
Beklagten nicht in ausreichendem Maße verifiziert worden sei.
Damit steht ein ärztlicher Behandlungsfehler durch den Beklagten zur Überzeugung der
Kammer fest.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten stellt der Sachverständige auch fest, daß die
Beugefähigkeit des rechten Armes des Klägers auch postoperativ bei 0-20-120 Grad
lag. Dagegen sei normalerweise ein gesundes Ellenbogengelenk auf 0 Grad streckbar
bzw. um 10 Grad überstreckbar und die maximale Beugung liege bei 150 Grad. Daraus
wird deutlich, daß die Beugefähigkeit des Ellenbogengelenks des Klägers
eingeschränkt ist. Der Beklagte legt nicht dar, warum diese aus dem vorliegenden
Sachverständigengutachten nicht hinreichend deutlich wird, so daß er dies - ins Blaue
hinein - bestreiten müsse. Auch aus dem Rentengutachten Dr. X vom 9. Juli 1998 (Bl. 45
- 52 d.A.) sowie dem sozialgerichtlichen Gutachten Dr. Q vom 17. August 1999 (Bl. 53 -
61 d.A.) ergibt sich, daß das Beugedefizit im Gelenk des Klägers keineswegs ausgeheilt
ist. Der Beklagte hat diese beiden von dem Kläger in den Rechtsstreit eingeführten
Gutachten nicht weiter angegriffen, so daß davon auszugehen ist, daß eine
Bewegungseinschränkung im Sinne eines Beugedefizits beim Kläger tatsächlich
vorliegt. Von einer Ausheilung kann nicht die Rede sein.
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Die eingetretenen Gesundheitsbeeinträchtigungen beruhen zur Überzeugung der
Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch ursächlich auf der
Falschbehandlung durch den Beklagten. Der Sachverständige Dr. S führt dazu in
seinem Gutachten vom 11. Februar 1999 aus, daß nach allgemeiner Auffassung das
Risiko einer Gelenksteife nur durch eine möglichst frühzeitige operative Versorgung und
eine dadurch ermöglichte Frühmobilisierung zu ändern sei. Die Möglichkeit einer
Frühmobilisation sei im vorliegenden Behandlungsfalle aufgrund der verzögerten
Zuführung des Klägers zu einer operativen Therapie weitgehend vergeben worden.
Auch wenn weitere Faktoren Einfluß nehmen auf das Eintreten der Gelenksteife, stellt
der Sachverständige jedoch fest, daß bei einer sofortigen Diagnose der
Frakturfehlstellung mit den nachfolgenden Konsequenzen eines frühzeitigen operativen
Vorgehens die Wahrscheinlichkeit eines guten funktionellen Endergebnisses
wesentlich höher gewesen wäre.
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Demgegenüber kann sich der Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, es könne nicht
mit der gebotenen Sicherheit bejaht werden, daß durch eine sofortige operative
Behandlung ein derartiger funktioneller Folgezustand wie im vorliegenden
Behandlungsfall hätte vermieden werden können. Denn wenn - wie der
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Sachverständige ausführt - eine frühzeitige Operation das Risiko der Gelenkversteifung
mindert, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, daß die Gelenkstarre tatsächlich auf
der verzögerten Zuführung zur operativen Behandlung beruht. Wenn die weiteren von
dem Sachverständigen aufgezählten Faktoren (mit-) ursächlich dafür sein sollten, muß
der Beklagte deren Vorliegen vortragen und gegebenenfalls beweisen. Demgegenüber
hat der Beklagte nicht einmal konkrete Umstände vorgetragen, die für weitere
mitursächliche Faktoren sprechen.
Soweit der Beklagte sich darauf bezieht, der Kläger habe seine Arbeitstätigkeit zu früh
wieder aufgenommen, kommt es zwar nicht darauf an, ob der Beklagte dem Kläger zur
Arbeitsaufnahme geraten hat. Jedenfalls hätte er aber, wenn eine Operation indiziert
war, von einer Arbeitsaufnahme dringend abraten müssen. Daß der Beklagte dies getan
hat, hat er selbst nicht vorgetragen.
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Soweit der Beklagte vortragen will, die postoperativen Mobilisierungen und
Krankengymnastik hätten einen Einfluß auf das Eintreten der Gelenksteife genommen,
beruft er sich auf einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht durch den
Kläger. Er ist jedoch in dieser Hinsicht darlegungspflichtig, daß der Kläger tatsächlich
gegen derartige Pflichten verstoßen hat. Die diesbezüglichen Darlegungen des
Beklagten erschöpfen sich indessen in Vermutungen. Konkrete Tatsachen, aus denen
er seine Schlußfolgerungen ableitet, trägt er nicht vor.
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Auch Vorschädigungen, die gegen die Ursächlichkeit der Falschbehandlung durch den
Beklagten für die eingetretene Gelenksteife (jedenfalls dem Umfange nach) sprechen
können, trägt der Beklagte erst gar nicht vor.
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Damit ist festzuhalten, daß der Beklagte dem Kläger zur Zahlung von Schmerzensgeld
verpflichtet ist.
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Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind das Ausmaß und Schwere der
physischen Störungen, das Alter, die persönlichen Verhältnisse des Verletzten und des
Schädigers, also das Maß der Lebensbeeinträchtigung, die Größe, Dauer und Heftigkeit
der Schmerzen, Leiden, Entstellungen, die Dauer der stationären Behandlung, der
Arbeitsunfähigkeit und die Unübersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufes zu
berücksichtigen. Die Kammer berücksichtigt in dem vorliegenden Fall insbesondere,
daß es sich bei dem Kläger um einen jungen Menschen handelt und die Gelenksteife
aller Voraussicht nach einen endgültigen Zustand darstellt, der sich eher noch
verschlechtern wird; eine Verbesserung ist nach den Ausführungen des
Sachverständigen nicht zu erwarten. Gerade bei der dem Kläger noch verbleibenden
nicht geringen Lebenserwartung muß er noch eine längere Zeit mit diesen körperlichen
Beeinträchtigungen leben. Diese fortdauernden Beeinträchtigungen sieht die Kammer
als ausschlaggebenden Faktor bei der Bemessung des Schmerzensgeldes an. Zudem
ist zu berücksichtigen, daß der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit um 20 % gemindert ist.
Diese Feststellungen der Berufsgenossenschaft aufgrund des Gutachtens Dr. X vom 9.
Juli 1998 (Bl. 45 ff. d.A.) hat der Beklagte nicht angegriffen.
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Die Kammer verkennt nicht, daß die Fraktur selbst von dem Beklagten nicht verursacht
worden ist, sondern daß es sich um einen Unfall gehandelt hat und der Beklagte
lediglich in den Behandlungsprozeß eingebunden war. Sein Fehlverhalten war aber
ursächlich für den jetzt bestehenden Dauerzustand. Der Sachverständige Dr. S hat
ausgeführt, daß die Wahrscheinlichkeit eines guten funktionellen Endergebnisses bei
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einer frühzeitigen Operation
wesentlich
Dauerzustand, der den Kläger in erheblichem Maße beeinträchtigen wird, für eine lange
Zeit verbleibt, hält die Kammer ein Schmerzensgeld von 25.000,00 DM (in Anlehnung
an vergleichbare Fälle in der Rechtsprechung, z.B. Hacks-Ring Böhm,
Schmerzensgeldtabelle, 18. Auflage, Ziffer 1509) für angemessen.
Der Zinsanspruch folgt aus § 291 BGB.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 92 Abs. 1, 281 Abs. 3 Satz
2, 708 Nr. 11, 709 Satz 1, 711, 108 ZPO.
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Streitwert: 30.000,00 DM.
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