Urteil des LG Kleve vom 26.08.2005

LG Kleve: unterbringung, klinik, anhörung, therapie, gewalt, nacht, aufenthalt, körperverletzung, persönlichkeitsstörung, icd

Landgericht Kleve, 182 Vollz 2/05
Datum:
26.08.2005
Gericht:
Landgericht Kleve
Spruchkörper:
1. kleine Strafvollsteckungskammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
182 Vollz 2/05
Schlagworte:
Überbelegung, Mehrfachbelegung von Hafträumen
Normen:
MRVG NRW § 2; StVollzG § 144
Leitsätze:
Eine langfristige Unterbringung von 3 Verurteilten in einem 18 qm
großen Raum ist im Maßregelvollzug des § 63 StGB unzulässig.
Tenor:
Es wird festgestellt, dass eine über den 31.12.2005 hinaus andauernde
Unterbringung des Antragstellers auf Zimmer Nr. 112 der Station 29.1
zusammen mit zwei weiteren Patienten unzulässig ist.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des
Antragstellers werden der Staatskasse auferlegt.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe bewilligt.
Im Übrigen werden die Anträge zurückgewiesen. Die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers wird abgelehnt.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
G r ü n d e
1
I.
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Der Antragsteller wurde durch Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 04.02.1999 -
rechtskräftig seit dem 12.02.1999 - wegen Körperverletzung mit Todesfolge und wegen
Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren 9 Monaten verurteilt und
gleichzeitig wurde er gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus
untergebracht; die Maßregel wird seit dem 31.05.1999 in den Rheinischen Kliniken C
vollzogen.
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Dem Gutachten des Prof. Dr. U vom 20.07.2005 ist zu entnehmen: Beim
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Untergebrachten liegt eine komplexe, mehrschichtige, emotional instabile
Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus mit erheblichen dissozialen und
narzisstischen Anteilen vor (ICD-10 F 60.30). Die psychische und
Persönlichkeitsstörung wurde in der Vergangenheit durch erheblichen missbräuchlichen
Alkoholkonsum kompliziert. Mittlerweile gibt es auch deutliche Hinweise auf ein, wenn
auch leicht ausgeprägtes, hirnorganisches Psychosyndrom, so dass der Verdacht auf
eine nicht näher bezeichnende Demenz (ICD-10 F 03) gegeben ist. Die
persönlichkeitseigentümliche Neigung zur affektiven Instabilität ist durch den
Alkoholentzug und den stark regulierten Tagesablauf rückläufig, auch wenn sich der
Untergebrachte auf Grund seiner narzisstischen Persönlichkeitsanteile immer wieder im
zwischenmenschlichen Kontakt in Enttäuschungs- und Kränkungssituationen verstrickt.
Das Lernvermögen des Untergebrachten ist durch die hirnorganische Schädigung
eingeschränkt. Hinsichtlich der Kriminalprognose überwiegen ungünstige Faktoren sehr
eindeutig. Zur Durchsetzung seiner Interessen (Geld, Frauen usw.) nutzt er auch
körperliche Gewalt. Er ist mehrfach wegen Gewaltdelikten verurteilt worden, hat eine
hohe Gewaltbereitschaft bei geringer Impulskontrolle bzw. geringer Frustrationstoleranz.
Der Verurteilte ist in der besonders gesicherten Station 29/1 untergebracht. Diese ist für
eine Belegung mit 20 Patienten vorgesehen; bereits seit vielen Monaten sind dort
jedoch 32 Maßregelvollzugspatienten untergebracht (am 01.08.2005 waren es 30 auf
der Grundlage des § 63 StGB, einer gemäß § 126a StPO und einer gemäß § 453c
StPO).
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Der Antragsteller ist seit etwa drei Jahren auf dem Zimmer Nr. 112 untergebracht, das für
zwei Patienten vorgesehen aber "immer mal wieder" - derzeit seit dem 09.02.2005 - mit
drei Patienten belegt ist. Dieses Zimmer hat eine Größe von 18,0 qm, hinzu kommt ein
separater WC-Raum mit 2,13 qm (vgl. Grundrisszeichnung Bl. 37 GA). Das Gebäude ist
mehrere Jahrzehnte alt.
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Der Antragsteller hat am 12.02.2005 bei der Klinikleitung "gegen die Anordnung vom
09.02.2005 - in einem 16 qm kleinem 2-Bett-Zimmer nunmehr 3 Patienten
unterzubringen - Widerspruch" eingelegt (Bl. 9 GA). In Ihrem Antwortschreiben vom
04.03.2005 teilte die Klinikleitung mit, dass die Überbelegung hinreichend bekannt sei.
Man könne sich jedoch nicht gegen die Aufnahme neuer Patienten stellen, die "von
höherer Stelle" zugewiesen würden. Der Antragsteller hat sodann beim Landgericht
gegen den "Widerspruchsbescheid vom 04.03.2005 Beschwerde oder das sonstige
Rechtsmittel" eingelegt (Bl. 13 GA).
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Der Antragsteller begehrt entsprechend der Klarstellung während der vor Ort erfolgten
mündlichen Anhörung (Bl. 44 f. GA) sinngemäß die Feststellung, dass seine
Unterbringung im Zimmer 112 rechtswidrig ist. Er wendet sich sowohl gegen die
Unterbringung in einem so kleinen Zimmer als auch grundsätzlich gegen eine
Unterbringung in einem Mehrbettzimmer.
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Der Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug NRW hat vorgetragen, es zeichne sich
zumindest mittelfristig keine konkrete Änderung der Unterbringungssituation ab (Bl. 50
GA).
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Wegen der Einzelheiten wird gemäß §§ 115 Abs. 1 Satz 3 StVollzG, 138 Abs. 3
StVollzG auf die bei den Gerichtsakten befindlichen Schriftstücke des Untergebrachten
vom
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12.01.2005, 12.02.2005, 13.02.2005, 16.02.2005, 09.03.2005, 16.03.2005,
11
22.03.2005, 22.03.2005, 31.03.2005, 04.04.2005, 05.04.2005
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und der Maßregelvollzugsbehörden vom
13
22.02.2005, 17.03.2005, 23.03.2005, 03.05.2005, 08.08.2005, 12.08.2005
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verwiesen.
15
II.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gemäß §§ 109, 138 Abs. 3 StVollzG
zulässig. Zwar fehlt ein förmliches Widerspruchsverfahren nach dem
Vorschaltverfahrengesetzes Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit §§ 109 Abs. 3, 138
Abs. 3 StVollzG. Dies führt hier aber nicht zur Unzulässigkeit, da der Antragsteller gegen
die Belegungsanordnung der Klinik vom 09.02.2005 rechtzeitig am 12.02.2005
Widerspruch eingelegt hat, der Widerspruch von der Station an die Klinikleitung
weitergeleitet wurde, diese den Widerspruch aber augenscheinlich nicht mit ihrer
Nichtabhilfeentscheidung dem Maßregelvollzugsbeauftragten vorgelegt hat. Zudem hat
der Antragsgegner nicht dargelegt, ob hinsichtlich der Notwendigkeit des
Widerspruchsverfahrens eine Belehrung gem. § 6 Abs. 1 MRVG erfolgt ist.
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Der Antrag hat auch in der Sache - in dem Umfang, der aus der Beschlussformel
ersichtlich ist - Erfolg.
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Eine Belegung von Schlafräumen mit 3 Personen mag im Maßregelvollzug auch über
längere Zeit hinweg zulässig sein (so Prütting, MRVG NRW, 2004, § 2 Rn. 8; vgl. aber §
18 StVollzG mit der Einschränkung für Altbauten gem. § 201 StVollzG und OLG Celle
NStZ 1999, 216); hierfür könnte sprechen, dass beispielsweise auch Wehrpflichtigen
das Übernachten in Gemeinschaftsräumen abverlangt wird. Dies muss jedoch hier nicht
entschieden werden, da jedenfalls die längerfristige Dreierbelegung in einem Raum mit
nur 18 qm beim Antragsteller unzulässig ist.
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Auch die Frage, ob ein Menschenrechtsverstoß vorliegt, kann hier dahingestellt bleiben,
da mit diesem Vorwurf nicht inflationär umgegangen werden sollte und sich die Frage
der Rechtmäßigkeit der Belegungsanordnung bereits auf einfachgesetzlicher Grundlage
- natürlich unter Beachtung der betroffenen Grundrechte und Verfassungsgarantien -
beantworten lässt (die etwa vom OLG Zweibrücken in NStZ 1982, 221 hinsichtlich des
Strafvollzugs vertretene Ansicht, § 144 StVollzG richte sich nur an die Vollzugsbehörde,
ohne dass der einzelne Gefangene hieraus einen Anspruch herleiten könne, findet im
Gesetzeswortlaut keine Stütze und überzeugt auch im Hinblick auf Sinn und Zweck der
Vorschriften nicht).
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Nach § 2 MRVG NRW sind die Einrichtungen so zu gestalten, dass eine sachgerechte
Therapie gewährleistet ist. Die Räume müssen für die gesunde Lebensführung geeignet
"und ausreichend mit ... Bodenfläche ausgestattet sein."
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Die Mindestbodenflächen für die einzelnen Räume einer forensischen Einrichtung sind
im Gesetz nicht ausdrücklich vorgegeben. Werden bestehende Einrichtungen genutzt
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und umgebaut, sind in der Regel andere Flächen zugrunde zu legen als beim Neubau
von Kliniken. Die Flächen werden an den Vorgaben für Krankenhausbau und
Strafvollzug orientiert (Prütting, MRVG NRW, 2004, § 2 Rn. 22).
Auch § 144 StVollzG enthält zur Größe der Räume nur die Angabe, diese müssten "für
eine gesunde Lebensführung ausreichend mit ... Bodenfläche ausgestattet sein". Von
der in § 144 Abs. 2 StVollzG enthaltenen Ermächtigung, die Bodenfläche durch
Rechtsverordnung zu bestimmen, wurde bisher vom Bund kein Gebrauch gemacht.
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Die Rechtsprechung hierzu ist uneinheitlich (vgl. etwa OLG Frankfurt/Main NJW 2003,
2843; OLG Hamm, Beschluss vom 20.01.2005 - 1 Vollz Ws 147/04; weitere Nachweise
aus der Rspr. bei Kretschmer NStZ 2005, 251; Kamann, Handbuch, 2002, Rn. 631;
Arloth/Lückemann, StVollzG, 2004, § 144 Rn. 2, wobei strengere Maßstäbe angebracht
sind, wenn sich - anders als hier - eine nicht abgetrennte Toilette im Raum befindet).
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Die Kammer hält hinsichtlich einer längerfristigen Unterbringung im Maßregelvollzug
gemäß § 63 StGB in Altbauten die Raumgrößen als für die gesunde Lebensführung
nicht mehr geeignet, welche die in den Bayerischen Verwaltungsvorschriften zum
StVollzG genannten Zahlen unterschreiten. Diese Verwaltungsvorschrift vom
12.12.2002 (abgedruckt in Arloth / Lückemann, StVollzG, 2004, S. 801) zu § 144
StVollzG lautet:
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"Einzelhafträume für den Aufenthalt während des Tages und während der Nacht
sollen ohne Berücksichtigung der WC-Kabine eine Bodenfläche von mindestens 8
qm haben. Gemeinschaftsräume für den Aufenthalt während des Tages und
während der Nacht sollen als Hafträume für die gemeinsame
Unterbringung von
3 Personen
Bodenfläche von
mindestens 20 qm
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Für solche Mindestwerte spricht, dass den Betroffenen eine gewisse Privat- und
Intimsphäre gewährleistet werden muss. Beim Maßregelvollzug kommt hinzu, dass
insbesondere schuldunfähigen Tätern im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit mit
der Unterbringung ein Sonderopfer abverlangt wird, dessen belastende Wirkung
möglichst gering zu halten ist. Im Maßregelvollzug trifft den Staat zudem ein
Behandlungsauftrag (§ 1 MRVG NRW), der wegen der vorteilhaften Wirkung für die
Therapie in der Regel für etwas großzügigere Anforderungen spricht. Hier kommt hinzu,
dass es auch an außerhalb der Behandlung für den Untergebrachten frei zugänglichen
geeigneten Gemeinschaftsräumen fehlt (Bl. 45 f. GA). Jedenfalls beim Antragsteller
erfordert die oben dargestellte Persönlichkeitsbeeinträchtigung die Gewährung einer
ausreichenden räumlichen Rückzugsmöglichkeit. Auch die Klinik hat eingeräumt, dass
der Antragsteller "mit Recht die desolate Belegungssituation" schildere, die einen
"Missstand" darstelle; durch die "massive Überbelegung (werde) die Therapie erheblich
erschwert"; es komme so immer wieder zu "hausgemachten Konflikten" aufgrund der
Heterogenität der schwerst gestörten dort Untergebrachten, die zumeist vor ihrer
Unterbringung eher Einzelgänger gewesen seien (Bl. 17, 35 GA).
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Diesen Mindestanforderungen genügt das 18 qm große Dreibettzimmer des
Antragstellers nicht.
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Es sind Ausnahmen denkbar etwa für den Fall, dass die Unterbringung auf einem
kleineren Mehrbettzimmer zur Bekämpfung einer plötzlich auftretenden
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kleineren Mehrbettzimmer zur Bekämpfung einer plötzlich auftretenden
Selbstmordgefahr, aus therapeutischen Gründen oder wegen plötzlich und kurzfristig auf
anderen Zimmern aufgetretener Heizungsausfälle oder Umbauarbeiten notwendig wird
oder der willensfähige Untergebrachte mit der Belegung einverstanden ist. Ein solcher
Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor. Bei der Anhörung haben die behandelnden Ärzte
erklärt, dass bei einer Mehrbettbelegung ggf. die Belastbarkeit des Sozialverhalten
besser erprobt werden könne. Im Falle des Antragstellers erfolge die derzeitige
Unterbringung auf einem Dreibettzimmer aber nicht aus therapeutischen Gründen.
Dass die Klinik derzeit keine unbegrenzten räumlichen und finanziellen Reserven hat,
ist der Kammer durchaus bekannt, steht der getroffenen Feststellung allerdings nicht
entgegen. Das Gericht hat das Gesetz anzuwenden und muss es der Verwaltung
überlassen, die für den Gesetzesvollzug erforderlichen Einrichtungen bereitzustellen.
Andernfalls hätte es die Verwaltung in der Hand, durch Verzögerung der notwendigen
Maßnahmen die Durchführung eines Gesetzes zu verhindern. Das wäre mit dem Prinzip
der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG: "... die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden") nicht vereinbar. Es ist
grundsätzlich Aufgabe der für den Vollzug der Maßregel zuständigen Vollstreckungs-
und Verwaltungsbehörden, für den Untergebrachten, geeignete, seinen persönlichen
Verhältnissen individuell gerecht werdende Therapiemöglichkeiten zur Verfügung zu
stellen (BGH, 21.03.1979 - 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327, 329; OLG Celle NStZ 1999,
216; Münchener Kommentar zum StGB, 2005, § 64 Rn. 60).
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Allerdings ist wegen der unerheblichen Beeinträchtigung durch nur kurzfristige
Überbelegungen und im Interesse des Funktionierens der Strafrechtspflege, das
ebenfalls Verfassungsrang hat, ein gewisser, vom Untergebrachten hinzunehmender
Übergangszeitraum einzuräumen. Dieser wird zukünftig mit maximal 6 Monaten zu
bemessen sein (vgl. OLG Celle NStZ 1999, 216; Kretschmer NStZ 2005, 254); im
Hinblick auf die im hiesigen Bezirk bislang noch nicht gerichtlich festgelegte
Toleranzgrenze ist hier ein Abwarten bis Ende diesen Jahres angebracht.
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Aus den vorgenannten Gründen ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bzw.
eine einstweilige Anordnung (§ 114 StVollzG) nicht erforderlich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 StVollzG, der gemäß § 138 Abs. 3 StVollzG
auch für gerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit einer Unterbringung nach §§ 63,
64 StGB gilt.
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Mangels genügender Anhaltspunkte, die eine Abweichung rechtfertigen würden, ist
gem. §§ 65, 60, 52 Abs. 2 GKG vom Regelstreitwert 5.000,00 € auszugehen (Hartmann,
Kostengesetze, 34. Aufl., § 60 GKG Rn. 8).
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Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf §§ 120 Abs. 2, 138 Abs. 3 StVollzG,
114 ff. ZPO. Pflichtverteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO gibt es im
Maßregelvollzugsverfahren nicht (LG Osnabrück StV 1986, 351; Volckart/Grünebaum,
Maßregelvollzug, 6. Aufl. 2003, D 5.5 Seite 240). Für eine entsprechende Anwendung
besteht hier keine Veranlassung. Der Untergebrachte, der bei den Anlasstaten nicht
schuldunfähig handelte, war trotz seines oben dargelegten psychischen Zustandes - wie
die Anhörung ergeben und sich durch den Erfolg des Rechtsmittels bestätigt hat - zur
sachgerechten Wahrnehmung seiner Rechte durchaus in der Lage.
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