Urteil des LG Kassel vom 30.11.2007
LG Kassel: versicherungsnehmer, massage, klinik, beweisregel, unfall, zukunft, verschulden, pflegepersonal, schlechterfüllung, dienstvertrag
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Gericht:
LG Kassel 5.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 O 1488/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 276 BGB, § 278 BGB, § 280
BGB, § 611 BGB, § 67 VVG
(Krankenhaushaftung: Beweislast des Krankenhausträgers
beim Sturz eines hochbetagten Patienten von einer
Massageliege)
Tenor
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin
10.348,38 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 01.03.2006 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet
sind, der Klägerin sämtliche Erstattungsleistungen zu ersetzen, die der Klägerin in
Zukunft als Folge des Unfalls ihres Versicherungsnehmers Richard Gering am
01.11.2005 in der ..., entstehen werden.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert für den Klageantrag zu Ziffer 2) wird auf 10.000,00 Euro
festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin verfolgt als privater Krankheitskostenversicherer nach Maßgabe von §
67 VVG auf sie übergegangene Schadensersatzansprüche ihres
Versicherungsnehmers Richard ... im Zusammenhang mit einem Unfall, den der
Versicherungsnehmer bei der Beklagten zu 1) am 01.11.2005 erlitten hat. Herr ...,
der bei der Klägerin gegen Krankheitskosten versichert ist (Tarif N/3), wurde im
November 2005 in der von der Beklagten zu 1) betriebenen ..., von dem Beklagten
zu 2), der bei der Beklagten zu 1) zu dieser Zeit ein Praktikum absolvierte,
physiotherapeutisch behandelt. Am 02.11.2005 erhielt er seine erste
Ganzkörpermassage. Nach Ende der Behandlung (der damals 85-jährige
Versicherungsnehmer lag auf einem Laken in Bauchlage) versuchte Herr ... von
der noch hochgestellten Massageliege aufzustehen. Er glitt dabei aus und stürzte
zu Boden. Er zog sich einen Bruch des 12 Brustwirbels zu, wurde anschließend zwei
Wochen stationär behandelt und musste für den Zeitraum von 6 Monaten ein
Korsett tragen. Die Klägerin hat im Rahmen ihrer tariflichen Leistungspflicht im
Anschluss und aus Anlass des vorstehend geschilderten Unfalls vertragsgemäße
Erstattungsleistungen in Höhe von 10.843,38 Euro an ihren Versicherungsnehmer
erbracht (vgl. die tabellarische Aufstellung Bl. 5 d. A.). Der Versicherungsnehmer
leidet nach wie vor an Schmerzen im Brustwirbelbereich, die in die Beckenregion
ausstrahlen.
Die Klägerin behauptet, die Massageliege sei auf Brusthöhe eingestellt gewesen,
als Herr ... versucht habe, die Liege zu verlassen. Der Beklagte zu 2) habe den
Behandlungsraum nach der Massage verlassen, ohne die Liege herunter zu fahren
oder dem Versicherungsnehmer beim Absteigen behilflich zu sein. Herr ... habe
zunächst in unveränderter Lage einige Zeit auf der Liege verharrt, ohne dass der
Beklagte zu 2) sich wieder eingefunden habe. Er habe dann durch lautes Rufen
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Beklagte zu 2) sich wieder eingefunden habe. Er habe dann durch lautes Rufen
versucht, auf sich aufmerksam zu machen, bevor er schließlich versucht habe,
selbständig von der Liege aufzustehen. Nach seinem Sturz sei nach einiger Zeit
Pflegepersonal erschienen, das die notfallmäßige Versorgung veranlasst habe. Der
Versicherungsnehmer sei aufgrund des Sturzes pflegebedürftig in der Pflegestufe
I.
Sie beantragt:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an sie 10.348,38 Euro
zu bezahlen zzgl. Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 01.03.2006;
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet
sind, ihr sämtliche Erstattungsleistungen zu ersetzen, die ihr in Zukunft als Folge
des Unfalls ihres Versicherungsnehmers ... am 01.11.2005 in der ..., entstehen
werden.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, die Massageliege sei auf Bauchhöhe eingestellt gewesen. Der
Beklagte zu 2) hat dies in der mündlichen Verhandlung dahin konkretisiert, dass
die Liegefläche eine Höhe von 1,00 bis 1,10 m gehabt habe. Die Beklagten
behaupten desweiteren, der Beklagte zu 2) habe Herrn ... nach der Massage
angesprochen und ihm erklärt: "Einen Moment bitte, ich wasche mir erst einmal
die Hände und fahre dann die Liege herunter". Der Beklagte zu 2) habe sich
daraufhin zu dem im Massageraum befindlichen Waschbecken begeben. Als er
sich die Hände gewaschen gehabt habe, habe er sich umgedreht. In diesem
Moment sei Herr ... auch schon von der Liege gefallen. Der Beklagte zu 2) habe
den Versicherungsnehmer nach dessen Befinden gefragt. Nachdem die Beklagten
zunächst vorgetragen haben, Herr ... habe über Schmerzen in der
Brustwirbelsäule geklagt, erklärte der Beklagte zu 2) in der mündlichen
Verhandlung, Herr ... habe auf diese Frage nicht reagiert. Beide Beklagten
behaupten, der Beklagte zu 2) habe die Zeugin ... zur Hilfe geholt, die in den
Massageraum eintretend Herrn wieder auf der Massagebank liegend vorgefunden
habe.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ... und .... Wegen
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom
09.11.2007 (Bl. 90 f d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klägerin hat einen Anspruch aus §§ 67 VVG, 280 BGB gegen die Beklagte zu 1)
auf Zahlung von 10.348,38 Euro.
Die Schadensersatzansprüche, die Herrn ... aus schuldhafter Pflichtverletzung des
Vertrages über seine Behandlung in der Klinik der Beklagten zu 1) gemäß §§ 611,
276, 278, 280 BGB erwachsen sind, sind gemäß § 67 VVG in Höhe des geltend
gemachten Betrages auf die Klägerin übergegangen. Der Versicherungsnehmer
hat als Privatpatient einen Behandlungsvertrag mit der Beklagten zu 1)
abgeschlossen. Die Beklagte zu 1) hat nicht nachgewiesen, dass der Sturz des
Patienten nicht auf einem Verschulden des Beklagten zu 2) beruhte, für den sie
nach § 278 BGB einzustehen hat. In der Rechtssprechung ist anerkannt, dass sich
jedenfalls für bestimmte Vertragstypen wie insbesondere den Werk- und den
Dienstvertrag aus der Vorschrift des § 282 BGB auch für den Bereich der sog.
positiven Vertragsverletzungen eine Beweislast für den Schuldner dahin ergibt,
dass ihn an einer Schlechterfüllung des Vertrages kein Verschulden trifft (vgl.
BGHZ 23, 288, 290 f). In der Regel greift diese Beweisregel zwar erst dann ein,
wenn feststeht, dass der Schuldner objektiv gegen seine Vertragspflichten
verstoßen hat und dadurch der behauptete Schaden entstanden ist. Jedoch kann
die Beweislastumkehr nach dem Sinn der Beweisregel auch den Nachweis einen
objektiven Pflichtenverstoßes des Schuldners umfassen, wenn der Gläubiger im
Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist
und die den Schuldner treffenden Vertragspflichten (auch) dahin gehen, den
Gläubiger gerade vor einem solchen Schaden zu bewahren (vgl. BGHZ 3, 162,
174; BGHZ 27, 236, 238 f; BGHZ 67, 383, 387). Auch wenn nach ständiger
Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes für die Arzt- und die
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Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes für die Arzt- und die
Krankenhaushaftung die Beweisregel des § 282 BGB im Kernbereich des ärztlichen
Handelns nur ausnahmsweise Anwendung finden kann, weil der Arzt dem
Patienten nicht die erfolgreiche Herstellung seiner Gesundheit, sondern lediglich
das sorgfältige Bemühen um Hilfe und Heilung schuldet, gilt dann aber etwas
Anderes, wenn es nicht um diesen nur begrenzt steuerbaren Kernbereich
ärztlichen Handelns, sondern um Risiken insbesondere aus dem
Krankenhausbetrieb geht, die von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen
Personal voll beherrscht werden können. So hat der Bundesgerichtshof dem
Krankenhausträger und seinen Ärzten die Beweislast für die Gewähr einwandfreier
Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung zugewiesen,
wenn es etwa um Fragen ging wie die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels
(vgl. BGH NJW 1978, 1683) oder die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit
(BGH NJW 1982, 699) oder die richtige Lagerung des Patienten auf dem
Operationstisch (vgl. BGH NJW 1984, 1403). Auch im Streitfall liegt die Ursache für
den Sturz des Patienten im voll beherrschbaren Gefahrenbereich des
Krankenhausträgers mit der Folge, dass die Beklagte zu 1) den Nachweis eines
pflichtgemäßen Verhaltens des Beklagten zu 2) zu führen hat. Ein Sturz eines
Patienten von einer Liege während bzw. nach einer Massage muss in einer Klinik
ausgeschlossen werden. Das handelnde Klinikpersonal muss nicht nur
sicherstellen, dass der Behandelnde sicher auf die Liege gelangt, sicher bis zum
Ende dort verweilt, sondern auch, dass der Betreffende die Liege wieder
unversehrt verlässt. Vorliegend war die Liege mindestens auf eine Höhe von 1 m
eingestellt. Der Patient war eingeölt bzw. mit Massagecreme behandelt. Er lag auf
einem Laken, das auf dem glatten Untergrund (Leder bzw. Kunstleder) schnell
verrutschen kann. Wenn man vorliegend noch bedenkt, dass Herr ... zum
Unfallzeitpunkt 85 Jahre alt war und auf dem Bauch lag, als die Massage beendet
war, es nach Massagen beim Aufrichten oft zu Kreislaufproblemen kommt, war es
vorliegend umso mehr geboten, ein sicheres Aufstehen zu gewährleisten. Es darf
mithin nicht geschehen, dass ein Patient beim Absteigen von einer Massageliege
aus nicht geklärten Umständen zu Fall kommt. Diese Aufgabe ist Bestandteil des
Behandlungsvertrages und damit Teil der Verpflichtung des Krankenhausträgers
zu einer fachgerechten pflegerischen Betreuung. Kommt es dennoch zu einem
Sturz des Patienten, ist es deshalb Sache des Krankenhausträgers, aufzuzeigen
und nachzuweisen, dass der Vorfall nicht auf einem Fehlverhalten des
Pflegepersonals beruht.
Unstreitig hat der Beklagte zu 2) die Liege vor dem Absteigen nicht
heruntergefahren und er war Herrn ... auch nicht beim Absteigen behilflich. Die
Beweisaufnahme hat auch nicht zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der
Beklagte zu 2) Herrn gebeten hat, mit dem Absteigen von der Liege zu warten, bis
er sich die Hände gewaschen hat. Zwar hat der Beklagte zu 2) in seiner Anhörung
vor der Kammer bekundet, er habe zu Herrn ... am Ende der Behandlung gesagt:
"Einen kleinen Moment bitte, ich wasche mir erst mal die Hände und fahre dann
die Liege runter". Er hat auch angegeben, er habe sich dann zu dem in dem
Behandlungsraum befindlichen Waschbecken begeben. Als er sich die Hände
gewaschen und gerade wieder umgedreht habe, habe er gesehen, wie Herr ... von
der Massageliege fiel. Die Zeugin ... hat in ihrer Vernehmung angegeben, der
Beklagte zu 2) habe ihr kurz nach dem Unfall erklärt, er sei mit dem Massieren
fertig gewesen und habe sich die Hände waschen wollen, währenddessen sei der
Patient wohl aufgestanden und zu Fall gekommen. Einmal abgesehen davon, dass
die Zeugin ... nicht bekundet hat, dass der Beklagte zu 2) ihr gegenüber
angegeben hat, er habe Herrn ... mitgeteilt, dass er sich zunächst die Hände
waschen wolle, bevor er die Liege herunterfahre, steht den Angaben des Beklagten
zu 2) und den Angaben der Zeugin ... die glaubhafte Aussage des Zeugen ...
entgegen. Dieser gab an, der Beklagte zu 2) habe am Ende Massage der lediglich
erklärt: "Das war's" und habe sodann den Raum verlassen. Auch auf Vorhalt der
Angaben des Beklagten zu 2) blieb der Zeuge bei seiner Aussage. Er räumte ein,
nicht gut zu hören und ein Hörgerät zu tragen. Er erklärte aber gleichzeitig, er
habe die Worte "das war's" verstanden und erklärte zugleich, dass selbst dann,
wenn der Beklagte zu 2) einen längeren Satz an ihn gerichtet hätte und er diesen
Satz nicht wortwörtlich verstanden hätte, er doch zumindest wahrgenommen
hätte, dass Herr ... mehr als zwei Worte geäußert hätte. Der Zeuge war sich
sicher, dass der Beklagte zu 2) außer den zwei Worten nichts weiter gesagt hat.
Der Zeuge bekundete weiterhin, er habe nach einiger Zeit auf der Liege
verharrend "Hallo" gerufen, um sich bemerkbar zu machen. Es sei aber daraufhin
nichts geschehen. Aufgrund dessen habe er versucht, alleine aufzustehen. Auch
sei der Beklagte zu 2) nach dem Sturz nicht im Raum gewesen und habe ihn auch
nicht nach seinem Befinden gefragt. Es gibt keinerlei Ansatzpunkte dafür, dass der
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nicht nach seinem Befinden gefragt. Es gibt keinerlei Ansatzpunkte dafür, dass der
Zeuge die Unwahrheit gesagt haben könnte. Es war vielmehr sichtlich bemüht,
korrekte Angaben zu machen. Damit hat die Beklagte zu 1) nicht bewiesen, dass
der Beklagte zu 2) gebeten hat, einen Moment auf der Liege zu verharren, bis er
sich die Hände gewaschen hat.
Da die Beweislast insoweit bei der Beklagten liegt, ist von einer schuldhaften
Pflichtverletzung auszugehen. Dass der geltend gemachte Schaden auf dem
Unfallereignis beruht, ist unstreitig.
Die Klägerin kann auch von dem Beklagten zu 2) Zahlung des unter dem
Klageantrag zu Ziffer 1) geltend gemachten Betrages aus § 67 VVG, 823 BGB
verlangen. Der Beklagte zu 2) hatte eine Garantenstellung gegenüber dem sich
ihm anvertrauenden Patienten. Er hatte unter Einsatz seines Wissens und seiner
Fähigkeiten im Rahmen seiner physiotherapeutischen Behandlung
Gesundheitsgefahren abzuwenden. Dies hat er nicht getan. Es gilt das bereits
Gesagte.
Auch der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet.
Das notwendige Feststellungsinteresse ist gegeben. Dass der Schaden des
Versicherungsnehmers noch in der Entwicklung ist, bedarf bei einem 85-jährigen
Mann, der ein Wirbelbruch erlitten hat und immer noch unter Schmerzen leidet,
keiner näheren Erläuterung. Herr ... ist ausweislich des vorgelegten Gutachtens zur
Pflegebedürftigkeit in Bezug auf den erlittenen Wirbelbruch nicht beschwerdefrei.
Es kann dahinstehen, ob er aufgrund des Unfalles pflegebedürftig im Sinne der
Pflegestufe I ist.
Der ausgeurteilte Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 BGB.
Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.