Urteil des LG Kassel vom 07.07.2010

LG Kassel: pfändung, entschädigung, rechtshängigkeit, einzelrichter, stadt, anhörung, zwangsvollstreckung, form, sozialleistung, fahrtkosten

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Gericht:
LG Kassel 3.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 T 468/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 850k ZPO, § 16d SGB 2
Leitsatz
Die "Entschädigung für Mehraufwendungen" beim sog. 1-Euro-Job ist nicht pfändbar.
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 14.06.2010
wird zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird festgesetzt auf 1.200 €.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I. Die Gläubigerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus dem
Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Hünfeld vom 13.01.1986 (im Verfahren
B 260 284/85). Wegen einer Forderung von etwa 7.500 € erwirkte sie den
Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts vom 10.06.2009, der
sich auf die vermeintlichen Ansprüche des Schuldners gegen die eingangs
bezeichnete Drittschuldnerin, zu der er eine Kontoverbindung unterhält, erstreckt.
Am 19.05.2010 beantragte der Schuldner, die Pfändung dieses Kontos im Wege
des Vollstreckungsschutzes aufzuheben, da dort lediglich Arbeitslosengeld II sowie
- variabel - ein Betrag von 106 € eingingen. Die letztgenannte Gutschrift beruht
darauf, dass der Schuldner einer „Arbeitsgelegenheit“ im Sinne von § 16d SGB II
(sog. 1-Euro-Job) nachgeht und ihm daraus eine monatliche
Mehraufwandsentschädigung in der angegebenen Größenordnung zufließt.
Diesem Antrag hat das Amtsgericht nach Anhörung der Beschwerdeführerin durch
Beschluss vom 14.06.2010 (Bl. 94 f. d.A.) insoweit stattgegeben, als es die
Pfändung des Kontos Nr. 1005467838 wegen laufender Sozialleistungen,
ausgezahlt vom AA „…“ in Höhe von 271 € sowie der
Mehraufwandsentschädigung, gezahlt von der Stadt „…“, in Höhe von monatlich
bis zu 106 € aufgehoben hat, hinsichtlich der letztgenannten Anordnung hat das
Amtsgericht zugleich die Wirksamkeit seiner Entscheidung vom Eintritt der
Rechtshängigkeit abhängig gemacht.
Gegen die Entscheidung wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrem
Rechtsmittel vom 23.06.2010 (Bl. 29 d.A.), mit dem sie unter Hinweis auf ihr
bisheriges Vorbringen ihr ursprüngliches Begehren weiter verfolgt. Das
Amtsgericht hat dem Rechtsmittel am 28.06.2010 nicht abgeholfen und die
Verfahrensakten der Kammer zur Entscheidung vorgelegt.
Der zuständige Einzelrichter hat das Verfahren am 29.06.2010 der Kammer nach §
568 II ZPO zur Entscheidung übertragen.
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II. Die gemäß § 793, 567 ZPO statthafte und gemäß § 569 ZPO form- und
fristgerecht erhobene Beschwerde ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen
Erfolg.
(1.) Soweit das Amtsgericht die Pfändung hinsichtlich der eingehenden Zahlungen
von Arbeitslosengeld II aufgehoben hat, nimmt dies die Beschwerdeführerin -
obwohl sie ihr Rechtsmittel umfassend eingelegt hat – ersichtlich hin; denn schon
erstinstanzlich hat sie allein die vom Schuldner angestrebte Aufhebung der
Pfändung wegen der Mehraufwandsentschädigung angegriffen. Damit ist die
amtsgerichtliche Entscheidung der Überprüfung durch die Kammer entzogen.
Nur vorsorglich weist die Kammer deshalb darauf hin, dass es einer umfassenden
Aufhebung insoweit nicht bedurft hätte. Bei dem Arbeitslosengeld II handelt es sich
um eine Sozialleistung, für die der Gesetzgeber mit den §§ 54, 55 SGB I
eigenständige Sondervorschriften für den Pfändungsschutz geschaffen hat.
Danach ist die durch die Gutschrift entstehende Forderung des Berechtigten
gegenüber dem kontoführenden Geldinstitut für die Dauer von 7 Tagen seit der
Gutschrift unpfändbar. Gemäß § 55 I 2 SGB I gilt die Pfändung des Guthabens nur
als mit der Maßgabe ausgesprochen, dass sie das Guthaben in Höhe der in § 55 I
1 SGB I bezeichneten Forderung während der 7 Tage nicht erfasst. Dabei handelt
es sich um eine kraft Gesetzes geltende Regelung, die, ohne dass es eines
Antrages des Berechtigten oder eines gesonderten Ausspruchs bedarf, den
Umfang der Pfändung einschränkt. Einer dennoch erfolgten Aufhebung der
Pfändung hat es deshalb für die ersten 7 Tage seit der Gutschrift nicht bedurft.
(2) Ohne Erfolg wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die mit der
angefochtenen Entscheidung erfolgte Freigabe der auf dem Konto eingehenden
„Mehraufwandsentschädigung“ in Höhe von monatlich bis zu 106 €.
Der für die Ausübung des „1-Euro-Jobs“ nach § 16d SGB II n.F. (entspricht § 16
Abs. 3 S. 2 SGB II a.F.) gezahlten „Entschädigung für Mehraufwendungen“ liegt ein
Anspruch des Schuldners nach den Bestimmungen des SGB II zugrunde. Ob diese
Mehraufwandsentschädigung nach Gutschrift auf dem Konto des Schuldners dem
Zugriff des Gläubigers unterliegt, ist in der Rechtsprechung umstritten.
Für ihre Sichtweise, die in Rede stehende Mehraufwandsentschädigung sei
pfändbar, da es sich dabei weder um eine Leistung im Sinne von § 850a Nr. 3 ZPO
handele noch sie dem abschließenden Katalog des § 54 I - III SGB I unterfalle, kann
sich die Gläubigerin – soweit ersichtlich – auf die Entscheidung des Landgerichts
Bautzen (Beschluss vom 28.04.2009 - 3 T 24/09) und auch die wohl ständige
Rechtsprechung des Landgerichts Görlitz (Beschluss vom 21.03.2007 - 2 T 43/07;
Beschluss vom 15.05.2006 – 2 T 61/06; Beschluss vom 29.11.2005 - 2 T 282/05)
stützen. Dieser Auffassung hat sich die Kammer jedoch bereits früher (Beschluss
vom 16.06.2009 - 3 T 295/09) nicht anzuschließen vermocht. Daran ist nach
erneuter Überprüfung festzuhalten.
Zu Recht hat das Landgericht Dresden (Beschluss vom 17.06.2008 - 3 T 233/08)
nämlich darauf abgestellt, dass schon der Gesetzeswortlaut, wonach die dem
Schuldner zufließenden Leistungen eine „Entschädigung für Mehraufwendungen“
seien, die Einordnung dieser Zahlungen als Aufwandsentschädigung im Sinne von
§ 850a Nr. 3 ZPO nahe lege. Hinzu komme, dass auch bei Aufnahme eines „1-
Euro-Jobs“ notwendigerweise zusätzliche Kosten für Ernährung, Bekleidung
einschließlich deren Reinigung, Körperpflege und gegebenenfalls auch Fahrtkosten
anfallen. Es spreche deshalb um so mehr dafür, dass der Gesetzgeber mit der
Mehraufwandsentschädigung i.S.v. § 16d SGB II einen Ausgleich für die damit
einhergehenden erhöhten Kosten hat schaffen wollen. Ob, worauf etwa das
Landgericht Görlitz (aaO.) abstellt, im Gesetzgebungsverfahren in erster Linie
beabsichtigt gewesen ist, die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit für Hilfsbedürftige
durch zusätzliche Zahlungen finanziell attraktiv zu machen, steht dem nicht
entgegen. Entscheidend ist vielmehr, dass der Gesetzgeber die in Rede stehenden
Zahlungen ausdrücklich als „Entschädigung für Mehraufwendungen“ bezeichnet
hat und, wie ausgeführt, solche Mehraufwendungen auch tatsächlich entstehen.
Damit ist die streitbefangene Leistung unpfändbar i.S.v. § 850a Nr. 3 ZPO, die auf
dem gepfändeten Konto eingehenden Beträge hat das Amtsgericht deshalb zu
Recht gemäß § 850k ZPO freigegeben.
Nach alldem war die Beschwerde mit der Kostenfolge des § 97 ZPO
zurückzuweisen.
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Den Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren hat die Kammer gemäß § 3 ZPO
am wirtschaftlichen Interesse der Beschwerdeführerin an einer Abänderung der
angefochtenen Entscheidung bestimmt und sich dabei am Jahreswert des
Betrages orientiert, auf den die Beschwerdeführerin zusätzlich zugreifen möchte.
Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen, weil die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert, § 574
III, II Nr. 2 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.