Urteil des LG Karlsruhe vom 06.10.2016

verfassungskonforme auslegung, unabhängigkeit des rechtsanwalts, treu und glauben, nichtigkeit

LG Karlsruhe Urteil vom 6.10.2016, 10 O 219/16
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits und die Kosten der Streithelferin.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten für die Beklagte und die Streithelferin vorläufig vollstreckbar gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
1 Die Klägerin verlangt im Wege der Teilklage von der Beklagten aus einem gepfändeten Anspruch die
Rückzahlung von gezahltem Anwaltshonorar wegen Nichtigkeit des zugrunde liegenden Anwaltsvertrags
aufgrund des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen.
2 Die ... (im Folgenden: T.) nahm die ... Sparkasse und später die Klägerin als deren Rechtsnachfolgerin in zwei
Rechtsstreitigkeiten auf Zahlung in Anspruch:
3 Im sog. M...-Verfahren verklagte die T. die Klägerin unter dem Az. 2 O 97/07 vor dem Landgericht Flensburg
auf Zahlung und obsiegte in erster Instanz in Höhe von EUR 26.922.425,88. In der Berufungsinstanz vor
dem OLG Schleswig-Holstein unter dem Az. 5 U 127/12 wurde auf die Berufung der Klägerin das Urteil des
LG Flensburg aufgehoben und die Klage vollständig abgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision im
Berufungsurteil legte die T... beim BGH Nichtzulassungsbeschwerde ein unter dem Az. XI ZR 169/14. In
dieser dritten Instanz wurde die Nichtzulassungsbeschwerde von der Beklagten eingelegt und begründet
(Anlage K1). Der BGH wies die Nichtzulassungsbeschwerde zurück (Anlage K2).
4 Im sog. F.-Verfahren verklagte die T. die Klägerin unter dem Az. 2 O 98/07 vor dem Landgericht Flensburg
auf Zahlung und obsiegte in erster Instanz in Höhe von EUR 23.501.128,00. In der Berufungsinstanz vor
dem OLG Schleswig-Holstein unter dem Az. 5 U 128/12 wurde auf die Berufung der Klägerin das Urteil des
LG Flensburg aufgehoben und die Klage vollständig abgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision im
Berufungsurteil legte die T. beim BGH Nichtzulassungsbeschwerde ein unter dem Az. XI ZR 238/14. In
dieser dritten Instanz wurde die Nichtzulassungsbeschwerde von der Beklagten eingelegt und begründet
(Anlage K3). Der BGH wies die Nichtzulassungsbeschwerde zurück (Anlage K4).
5 Beauftragte Rechtsanwaltskanzlei in der dritten Instanz beim BGH war jeweils die Kanzlei der Beklagten,
also die ..., d.h. die Streithelferin (inzwischen unstreitig, vgl. As. 55, 65, 123). Die Beklagte wurde am
18.10.2013 als Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof zugelassen.
6 Aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss des LG Flensburg vom 18.02.2015 im Verfahren 2 O 98/07 steht der
Klägerin gegen die T. ein Kostenerstattungsanspruch i.H.v. EUR 578.957,85 nebst Zinsen zu (Anlage K5).
7 Die Beklagte war seit 1997 Rechtsanwältin und von 2000 bis 2013 Partnerin der Rechtsanwaltskanzlei ...
(im Folgenden: C.) in ... Ihr Ausscheiden aus der Partnerschaft wurde am 28.01.2014 in das
Partnerschaftsregister des AG ... eingetragen (Anlage K6).
8 Die Kanzlei C. beriet die Klägerin in erster Instanz in den beiden genannten Rechtsstreitigkeiten vor dem LG
Flensburg mit den Az. 2 O 97/07 und 2 O 98/07 intern und fertigte Gutachten zu verschiedenen
Rechtsfragen an bis ins Jahr 2012. Sachbearbeitender Rechtsanwalt bei C. war der zwischenzeitlich
verstorbene Dr. ... .
9 Nach ihrer Tätigkeit bei der Kanzlei C. und bis heute ist die Beklagte Rechtsanwältin in der Kanzlei ..., also
der Streithelferin und ihre Gesellschafterin.
10 Mit Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen vom 13.10.2015 (Anlage K13) und vom 24.03.2016 (Anlage
K14) pfändete die Klägerin sämtliche Ansprüche auf Rückzahlung geleisteter Anwaltshonorare, die der T.
gegen die Beklagte aus den beiden Verfahren zustehen können und ließ sie sich zur Einziehung überweisen.
11 Während des laufenden Prozess pfändete die Klägerin mit Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom
28.07.2016 (Anlage K15) vorsorglich auch sämtliche Ansprüche, die der T. gegen die Streithelferin und deren
(neben der Beklagten) weiteren Gesellschafter, Rechtsanwalt Prof. ..., aus den beiden Verfahren zustehen
können und ließ sie sich zur Einziehung überweisen.
12 Die Streithelferin erhielt für die Tätigkeit der Beklagten im M...-Verfahren ein Anwaltshonorar von EUR
100.000,00 netto und im F...-Verfahren ein Honorar von EUR 50.000,00 (inzwischen unstreitig, s. As. 59
und 135).
13 Die Klägerin macht nunmehr im Wege der Teilklage die Rückzahlung des von der T. geleisteten
Anwaltshonorars geltend, wobei sie bezüglich der beiden genannten Verfahren jeweils EUR 5.000,00
einklagt, zusammen also EUR 10.000,00.
14 Die Klägerin behauptet, die Mandatsverträge zwischen der T. und der Beklagten seien wegen eines
Verstoßes gegen §§ 43a Abs. 4 BRAO, 3 BORA nichtig nach § 134 BGB (As. 17).
15 Denn nach § 3 Abs. 1 S. 1 BORA „infiziere“ ein von dem Tätigkeitsverbot des § 43a Abs. 4 BRAO betroffener
Anwalt die mit ihm verbundenen Partner, hier also sämtliche Partner, Angestellte, Mitarbeiter und freie
Mitarbeiter von C. (As. 19). Dies gelte nach § 3 Abs. 3 BORA auch beim Wechsel eines Rechtsanwalts von
einer Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft in eine andere (As. 21). Eine befreiende
Einverständniserklärung der Mandanten gem. § 3 Abs. 2 BORA liege nicht vor (As. 21). Die Klägerin habe
erst im Laufe des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens vor dem BGH Kenntnis von der früheren
Partnerschaft der Beklagten in der Kanzlei C. Kenntnis erlangt (As. 123).
16 Nach der Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte, u.a. des OLG Karlsruhe, ziehe ein Verstoß
gegen § 43a Abs. 4 BRAO eine Nichtigkeit des Anwaltsvertrags gem. § 134 BGB nach sich (As. 23). Dies
habe zwischenzeitlich auch der BGH entschieden durch Urteil vom 12.05.2016, Az. IX ZR 241/14 (NJW
2016, 2561) (As. 147).
17 Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, vor der Annahme eines Mandats bei ihrer früheren Kanzlei C.
nachzufragen, ob eine Vertretung des Gegners dort bereits erfolgt sei (As. 125) und hätte einen
entsprechenden Anspruch hierzu in ihrem Ausscheidungsvertrag vereinbaren müssen (As. 145). Alternativ
hätte die Beklagte sich bei ihrem Ausscheiden eine Mandatsliste der Kanzlei C. ausdrucken müssen, um
künftige Kollisionen zu verhindern (As. 145).
18 Dem Anwalt stehe in so einem Fall auch kein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag gem. §§ 676,
683, 670 BGB oder aus ungerechtfertigter Bereicherung gem. § 812 BGB zu (As. 23). Dies ergebe sich aus
dem Urteil des BGH vom 19.09.2013, Az. IX ZR 322/12 (NJW 2013, 3725) (As. 147). Vielmehr habe die T.
einen Anspruch auf Rückzahlung des Anwaltshonorars gegen die Beklagte aus § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.
BGB, welchen die Klägerin gepfändet habe (As. 23).
19 Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem vom Gericht in der mündlichen Verhandlung am 27.07.2016
erörterten Urteil des BGH vom 23.04.2009, Az. IX ZR 167/07 (NJW 2009, 3297), denn nach dieser
Entscheidung könne die Vergütung des Rechtsanwalts nur bestehen bleiben, wenn der Verstoß zu einem
Zeitpunkt geschehen sei, in welchem der Anwalt die Gebühren bereits verdient habe. Hier sei der Verstoß
aber bereits im Zeitpunkt der Mandatsübernahme durch die Beklagte bzw. die Streithelferin geschehen (As.
141-143).
20 Die Klägerin stellt folgenden Antrag (As. 3, 129):
21 Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 10.000,00 nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5
Prozentpunkten p.a. über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
22 Die Beklagte beantragt (As. 53, 129):
23 Die Klage wird abgewiesen.
24 Die Streithelferin beantragt (As. 91, 129):
25 Die Klage wird abgewiesen.
26 Die Beklagte behauptet, sie sei in die Bearbeitung des Mandats bei C. nicht eingebunden gewesen; sie habe
hiervon keine Kenntnis gehabt. Eine Tätigkeit von C. für die Klägerin sei für die Beklagte zu keinem
Zeitpunkt erkennbar gewesen, da C. ja ausschließlich intern beraten habe (As. 59). Die Beklagte sei
erstmals durch das Schreiben der Klägerin vom 23.07.2015 (Anlage K11) über den Sachverhalt unterrichtet
worden (As. 59). Sie habe von dem Büro L. von C. die entsprechenden Informationen dann überhaupt erst
erhalten, nachdem sie C. das Aufforderungsschreiben der Klägerin vom 23.07.2015 vorgelegt habe (As.
125). Vorsorglich bestreitet die Beklagte mit Nichtwissen, dass C. wie von der Klägerin behauptet tätig
geworden sei (As. 61).
27 Demgegenüber habe die Klägerin trotz eigener Kenntnis von der Tätigkeit von C. die Beklagte hierüber nicht
unterrichtet, obwohl bereits auf der Homepage der Kanzlei .... die vorherige Tätigkeit der Beklagten für C.
von 1997-2013 ausdrücklich erwähnt werde (As. 61). Ebenso sei dies bei Google und bei Juve.de ersichtlich
(As. 63).
28 Entgegen der Auffassung der Klägerin gebe es keine Pflicht des ausgeschiedenen Anwalts zur Nachfrage bei
seiner alten Kanzlei, ob ein Gegner des neuen Mandanten dort schon einmal vertreten worden sei (As. 125).
Zudem sei hier der Schutzzweck der Norm zu berücksichtigen: Die ursprüngliche Mandantin, also die
Klägerin, sei aber nie in Gefahr gewesen, da sie von der - abstrakten - möglichen Interessenkollision viel
früher gewusst habe als die Beklagte selbst (As. 125).
29 Bei verfassungskonformer Auslegung könnten §§ 43a Abs. 4 BRAO, 3 BORA nur zur Anwendung kommen,
wenn dem sich bislang in Unkenntnis befindlichen Anwalt die Vorbefassung zur Kenntnis gebracht werde, so
dass das Verbot erst ab diesem Zeitpunkt gelte (As. 67). Im vorliegenden Fall habe die Beklagte von keiner
Seite einen Hinweis auf eine Vorbefasstheit erhalten (As. 69). Anderenfalls liege ein Eingriff in die
Berufsfreiheit des Anwalts gem. Art. 12 GG vor (As. 71).
30 Zumindest müsse bei einer Bejahung der §§ 43a Abs. 4 BRAO, 3 BORA jedenfalls die Nichtigkeit des
Anwaltsvertrags als Rechtsfolge verneint werden durch eine verfassungskonforme Auslegung (As. 71).
31 Selbst wenn man eine Nichtigkeit des Anwaltsvertrags annähme, habe die Beklagte einen Anspruch auf
Wertersatz gem. §§ 812 Abs. 1 S. 1, 818 Abs. 2 BGB (As. 71).
32 Es liege außerdem ein Fall unzulässiger Rechtsausübung gem. § 242 BGB vor, weil die Klägerin wissentlich
die Vorbefasstheit von C... während der gesamten Dauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens vor
dem BGH verschwiegen habe und nunmehr nach Pfändung des Zahlungsanspruchs genau diesen Umstand
ausnutze (As. 73-75). Die Klägerin könne nicht von etwas profitieren, das sie als einzige aller Beteiligten
von Anfang an hätte verhindern können (As. 75).
33 Die Streithelferin der Beklagten schließt sich den Ausführungen der Beklagten an (As. 91). Sie ist der
Auffassung, dass die §§ 43a Abs. 4 BRAO, 3 Abs. 1 BORA schon nicht verletzt seien, was sich aus der
Entscheidung des BVerfG vom 03.07.2003 (NJW 2003, 2520) zur früheren Fassung des § 3 BORA und des
Beschlusses des Anwaltsgerichtshofes München vom 24.04.2012 (NJW 2012, 2596) ergebe (As. 95, 103). §
3 BORA müsse verfassungskonform ausgelegt werden, da er ansonsten das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte
Recht auf freie Berufsausübung beschränke (As. 95).
34 Im vorliegenden Fall sei zu berücksichtigen, dass die Beklagte die Bearbeitung eines konfligierenden Mandats
durch die frühere Kanzlei C... am Standort L... nicht gekannt und deshalb keine Gefahr bestanden habe, dass
geheimhaltungsbedürftige Informationen aus einem solchen Mandat zur Streithelferin transportiert und dort
für die Mandantin T... und zum Nachteil der Klägerin nutzbar gemacht werden könnten (As. 99).
35 Die Streithelferin behauptet, die von der Klägerin geforderte Vorabklärung des Anwalts bei seiner früheren
Kanzlei vor Annahme eines neuen Mandats sei in der Praxis kaum durchführbar (As. 125).
36 Jedenfalls führe die etwaige Erfüllung des objektiven Tatbestands der §§ 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA hier
nicht zu einer Nichtigkeit des Anwaltsvertrags (As. 109), denn der Beklagten und der Streithelferin sei
keinerlei Verschulden, nicht einmal leichteste Fahrlässigkeit, vorzuwerfen (As. 111).
37 Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf ihre gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen sowie auf ihre Erklärungen im Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
38 Die nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsätze blieben gem. § 296a ZPO
unberücksichtigt und boten keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Berücksichtigt
wurde der im Termin gem. § 283 ZPO nachgelassene Schriftsatz der Klägerin vom 08.09.2016 (As. 133).
Entscheidungsgründe
39 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
40 Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte, da ihre Pfändungen gegen die T. auf Rückzahlung von
Anwaltshonorar der Beklagten bzw. der Streithelferin mangels Bestehens solcher Rückzahlungsansprüche
ins Leere gingen. Zwar liegt objektiv ein Verstoß der Beklagten gegen § 3 BORA vor, maßgeblich ist aber das
formelle Gesetz, also § 43a Abs. 4 BRAO (I.). Nach Auffassung des erkennenden Gerichts muss § 3 BORA
verfassungskonform ausgelegt werden, um der Berufsausübungsfreiheit in Artikel 12 Abs. 1 GG angemessen
Rechnung zu tragen, mit der Folge, dass kein Verstoß gegen § 43a Abs. 4 BRAO vorliegt, wenn den
Rechtsanwalt kein Verschulden trifft und tatsächlich keine Interessenkollision und kein Nachteil für den
Mandanten entstanden ist (II.). Die Voraussetzungen einer solchen verfassungskonformen Auslegung des § 3
BORA sind im vorliegenden Fall erfüllt (III.).
41 Im Einzelnen:
42
I. Objektiver Verstoß gegen § 3 BORA
43 Die Klägerin hat im Ausgangspunkt zunächst recht, dass die Beklagte durch ihre Tätigkeit bei der
Streithelferin für die T. im Rahmen der beiden Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vor dem BGH gegen § 3
BORA verstoßen hat.
44 Da die Beklagte früher Rechtsanwältin und Partnerin der überregionalen Rechtsanwaltskanzlei C. gewesen
war und diese durch einen anderen Rechtsanwalt, Herrn Dr. ..., die hiesige Klägerin außergerichtlich beraten
hatte in den beiden Rechtsstreitigkeiten mit dem Az. 2 O 97/07 und 2 O 98/07, durfte sie nicht vor dem BGH
die Gegnerin der Klägerin, also die T., im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vertreten. Denn § 3 Abs. 2
BORA ordnet ausdrücklich an, dass das Verbot des Absatzes 1 auch für alle mit dem Anwalt in derselben
Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft verbundenen Rechtsanwälte gilt. Eine ausdrückliche
Einverständniserklärung der Klägerin gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA liegt unstreitig nicht vor. Nach § 3 Abs.
3 BORA gelten die ersten beiden Absätze der Vorschrift auch für den Fall, dass der Rechtsanwalt von einer
Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft zu einer anderen Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft
wechselt. In einem solchen Fall darf der Rechtsanwalt das Mandat nicht annehmen oder muss es nach § 3
Abs. 4 BORA nach Erkennen unverzüglich niederlegen.
45 Der § 3 BORA stellt nach seinem Wortlaut nicht auf die subjektive Kenntnis des Rechtsanwalts ab. Nach
seinem Wortlaut soll es daher egal sein, ob der Anwalt überhaupt Kenntnis hat von der früheren Vertretung
und einer daraus möglicherweise folgenden (auch nur abstrakten) Interessenkollision.
46 Nach Auffassung des erkennenden Gerichts ist das Gericht aber an den Wortlaut des § 3 BORA nicht
zwingend gebunden. Denn bei der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) handelt es sich nicht um ein
formelles Parlamentsgesetz, sondern um eine von den gewählten Vertreterinnen und Vertretern der
Rechtsanwälte der Bundesrepublik Deutschland sich selbst gegebene Berufsordnung, die Einzelheiten zu
den beruflichen Pflichten des Rechtsanwalts regelt und zum Standesrecht gehört. Sie ist aber anders als die
Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) kein formelles Gesetz, sondern wird als Satzung von der
Satzungsversammlung bei der Bundesrechtsanwaltskammer erlassen. § 3 BORA stellt damit nur eine
Auslegungshilfe zu § 43a Abs. 4 BRAO dar, ist aber für das Gericht nicht bindend. Selbst wenn man dies
anders sähe, wäre das Gericht zumindest befugt, die Vorschrift auszulegen.
47 Maßgeblich für die Frage, ob die Beklagte einen Gesetzesverstoß begangen hat, ist in erster Linie § 43a Abs.
4 BRAO. Nur wenn das formelle Gesetz des § 43a Abs. 4 BRAO verletzt wäre, würde dies nach der
Rechtsprechung des BGH und des OLG Karlsruhe zu einer Nichtigkeit des Anwaltsvertrages gemäß § 134
BGB führen.
48 Dass bei einem Verstoß des Anwalts gegen § 43a Abs. 4 BRAO eine Nichtigkeit des Anwaltsvertrags gegeben
ist, ist zwischenzeitlich herrschende Rechtsprechung. Insoweit war dem erkennenden Gericht zum
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 27.07.2016 das erst kurz vorher ergangene Urteil des BGH vom
12.05.2016, Az. IX ZR 241/14 (NJW 2016, 2561) noch nicht bekannt. Es war allerdings schon zuvor in der
obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem Verstoß des Anwalts gegen § 43a Abs. 4 BRAO
eine Nichtigkeit des Anwaltsvertrages anzunehmen ist, vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 26.04.2001, Az. 2 O
1/00 (NJW 2001, 3197, Rn. 44 und 54). Nachdem der BGH in seinen Urteilen vom 23.04.2009, Az. IX ZR
167/07 (NJW 2009, 3297) und vom 19.09.2013, Az. IX ZR 322/12 (NJW 2013, 3725) die Frage einer
Nichtigkeit des Anwaltsvertrages gem. § 134 BGB bei Verstoß gegen § 43a Abs. 4 BRAO noch offenlassen
konnte, hat er mit Urteil vom 12.05.2016 entschieden, dass ein Anwaltsvertrag nichtig sei, mit dessen
Abschluss der Rechtsanwalt gegen das Verbot verstößt, widerstreitende Interessen zu vertreten.
49 Nur wenn die Beklagte im hiesigen Fall gegen § 43a Abs. 4 BRAO verstoßen hätte, wäre der Anwaltsvertrag
gemäß § 134 BGB nichtig mit der Folge, dass die Beklagte bzw. die Streithelferin dann auch keinen
Honoraranspruch hätte gegen die T..., auch nicht aus Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß §§ 670, 677,
683 BGB oder aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 812 Abs. 1 BGB (BGH, Urteil vom 19.09.2013,
Az. IX ZR 322/12, Rn. 14).
50
II. Verfassungskonforme Auslegung des § 3 BORA
51 Nach Auffassung des erkennenden Gerichts ist unter Berücksichtigung des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 03.07.2003, Az. 1 BvR 238/01 (NJW 2003, 2520) der § 3 BORA
verfassungskonform auszulegen, um dem Grundrecht der Rechtsanwälte auf Berufsausübungsfreiheit gemäß
Art. 12 Abs. 1 GG angemessen Rechnung zu tragen.
52 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 03.07.2003 ausgeführt, dass bei der Auslegung
des § 43a Abs. 4 BRAO und der damaligen Fassung des § 3 BORA die Berufsausübungsfreiheit in besonderem
Maße berücksichtigt werden müsse und eine unverhältnismäßige Beschränkung der grundrechtlichen
Freiheit der Anwälte aus Artikel 12 GG vermieden werden müsse. Der Eingriff dürfe nicht weitergehen, als
es die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erforderten. Das Bundesverfassungsgericht hatte deswegen die
damalige Fassung des § 3 BORA für verfassungswidrig erklärt. Denn neben dem Schutz des individuellen
Vertrauensverhältnisses zum Mandanten und der Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts muss
auch das Interesse des Anwalts an einem möglichst ungestörten Kanzleiwechsel berücksichtigt werden.
53 Nach Auffassung des erkennenden Gerichts ist § 3 BORA verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass
kein Verstoß gegen diese Vorschrift und damit auch kein Verstoß gegen § 43a Abs. 4 BRAO vorliegt, wenn
erstens den Rechtsanwalt kein Verschulden trifft, d. h. keine Kenntnis und kein Kennenmüssen vorliegt, und
zweitens keine Interessenkollision und kein Nachteil für den Mandanten im konkreten Einzelfall aufgetreten
ist. Für eine verfassungskonforme Auslegung ist also zusätzlich zum objektiven Wortlaut auch eine
subjektive Komponente in die Vorschrift hineinzulesen.
54 Denn in einem Fall, in welchem dem Rechtsanwalt subjektiv nichts vorzuwerfen ist und gleichzeitig objektiv
keine Interessenkollision und kein Nachteil für den Mandanten entstanden ist, kann nicht davon gesprochen
werden, dass der Rechtsanwalt eine andere Partei im widerstreitenden Interesse beraten oder vertreten
habe und sich damit eines Verstoßes gegen § 43a Abs. 4 BRAO schuldig gemacht habe mit der Folge einer
Nichtigkeit des Anwaltsvertrags und einem Verlust sämtlicher Honoraransprüche.
55
III. Voraussetzungen einer verfassungskonformen Auslegung hier erfüllt
56
1. Kein Verschulden der Beklagten
57 Ein Verschulden der Beklagten gemäß § 276 BGB liegt im vorliegenden Fall nicht vor. Der Beklagten ist
weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Denn sie hatte weder eine Kenntnis noch eine schuldhafte
Nichtkenntnis von der früheren Beratung der Klägerin durch die Kanzlei C...
58
a) Keine positive Kenntnis
59 Die Beklagte hat ausdrücklich bestritten, vor Erhalt des Schreibens der Klägerin vom 23.07.2015 (Anlage K
11) Kenntnis davon gehabt zu haben, dass die hiesige Klägerin früher von dem Büro L. der Kanzlei C.
außergerichtlich beraten wurde, u. a. durch die Erstellung von Gutachten zum Prozessrisiko. Nach dem
Verständnis des Gerichts war dies noch im Termin zur mündlichen Verhandlung unstreitig, erst im gem. §
283 ZPO nachgelassenen Schriftsatz der Klägerin hat diese - prozessual gem. § 282 ZPO bedenklich spät -
eine Kenntnis der Beklagten erstmals mit Nichtwissen bestritten. Im Ergebnis kann dies dahinstehen, denn
zumindest hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin der Beklagten eine frühere Kenntnis,
etwa bei Mandatsannahme, nicht nachgewiesen.
60
b) Kein Kennenmüssen
61 Der Beklagten ist auch keine schuldhafte Nichtkenntnis, also ein Kennenmüssen vorzuwerfen:
62 Da es sich bei der Tätigkeit der Rechtsanwaltskanzlei C. um eine rein interne Beratung handelte, etwa durch
Gutachtenserstellung, die Kanzlei aber nicht nach außen hin im Prozess auftrat, konnte die Beklagte die
außergerichtliche Beratung durch C. aus der Akte nicht ersehen.
63 Entgegen der Auffassung der Klägerin geht das Gericht nicht davon aus, dass die Beklagte bzw. die
Streithelferin einen Auskunftsanspruch gegen die alte Kanzlei der Beklagten, also C., hatte. Jedenfalls hatte
die Beklagte keinen Anspruch gegen die Kanzlei C., dass in ihrem Ausscheidungsvertrag ausdrücklich mit
aufgenommen werden sollte, dass sie in derartigen Fällen einen Auskunftsanspruch hat. Ein solcher
Anspruch wäre bedenklich im Hinblick auf die Schweigepflicht der Rechtsanwälte.
64 Das Gericht geht weiter entgegen der Auffassung der Klägerin nicht davon aus, dass die Beklagte
verpflichtet war, eine komplette Mandantenliste bei ihrem Ausscheiden aus der Kanzlei C. auszudrucken und
mitzunehmen und bei der Annahme späterer Mandate die neuen Mandanten mit dieser Liste im Hinblick auf
frühere Gegner abzugleichen. Das Gericht hält dies im vorliegenden Fall auch schlicht für unpraktikabel:
Dem erkennenden Gericht ist die Kanzlei C. nämlich gut bekannt, denn der zuständige Einzelrichter war
dort - vor langer Zeit - selbst einmal Referendar im Büro S. Er kennt daher die außerordentliche Größe
dieser Kanzlei, die nicht nur bundesweit tätig ist, sondern international und dabei eine Vielzahl von
Rechtsanwälten beschäftigt. Selbst wenn es technisch möglich sein sollte, sämtliche Mandanten an
sämtlichen Standorten auf Papier auszudrucken (woran das Gericht bereits Zweifel hat), so wäre es vom
Umfang her für die Beklagte völlig unzumutbar, bei jeder neuen Mandatsannahme einen Abgleich mit dieser
wahrscheinlich hunderte Seiten umfassenden Liste durchzuführen. Die Klägerin verlangt hier Unmögliches
von der Beklagten bzw. der Streithelferin.
65 Andere Wege gab es für die Beklagte nicht, eine mögliche frühere Vertretung des Gegners festzustellen. Mit
ihrem Ausscheiden hatte die Beklagte keinen Zugriff mehr auf die EDV von C. und es war ihr auch nicht
zuzumuten, bei jeder Mandatsannahme eine telefonische oder schriftliche Anfrage zu stellen, einmal
unterstellt, die Kanzlei C. würde solche Anfragen überhaupt beantworten.
66 Der Beklagten ist daher keinerlei Verschulden vorzuwerfen.
67
2. Keine Interessenkollision und kein Nachteil für TVV
68 Als zweite Voraussetzung für eine verfassungskonforme Auslegung des § 3 BORA ist, wie oben ausgeführt,
erforderlich, dass tatsächlich keine Interessenkollision und kein Nachteil für die Mandanten der Beklagten
entstanden ist.
69 Hier gab es keinerlei Informationsfluss zwischen dem Büro L. der Kanzlei C. und der Beklagten bzw. der
Streithelferin, weder während der Tätigkeit der Beklagten als Partnerin bei C. noch danach. Der T. ist auch
keinerlei tatsächlicher Nachteil dadurch entstanden, dass die Beklagte die Einlegung und Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH in den beiden Verfahren übernommen hat, obwohl früher ihr
ehemaliger Kanzleikollege Dr. ... bei C. für die Klägerin beratend tätig gewesen ist. Die Klägerin selbst
behauptet einen solchen Nachteil nicht, sondern stellt lediglich auf die objektive Verletzung des § 3 BORA
ab.
70 Die Voraussetzungen einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 BORA liegen damit vor mit der Folge,
dass kein Verstoß gegen diese Norm und damit auch kein Verstoß gegen das Verbot widerstreitender
Interessensvertretung nach § 43a Abs. 4 BRAO gegeben ist.
71
3. Kenntnis der Klägerin selbst zu berücksichtigen nach Treu und Glauben
72 Im vorliegenden Fall kommt als Besonderheit noch dazu, dass die Klägerin selbst noch vor der Beklagten,
nämlich im Laufe des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens vor dem BGH, Kenntnis erlangt hatte von der
früheren Partnerschaft der Beklagten in der Kanzlei C. (Seite 2 unten des Protokolls vom 27.07.2016 = As.
123). Die Klägerin machte aber der Beklagten hierüber keine Mitteilung, sondern ließ diese weiterarbeiten
bis zum Abschluss des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens. Es ist daher nach dem Grundsatz von Treu
und Glauben gemäß § 242 BGB bedenklich, wenn die Klägerin nunmehr diese Weiterarbeit der Beklagten
gerade zum Vorwurf macht.
73 Zusammengefasst liegt daher bei verfassungskonformer Auslegung des § 3 BORA kein Verstoß der Beklagten
gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen nach § 43a Abs. 4 BRAO vor mit der Folge,
dass der zwischen der T. und der Streithelferin geschlossene Rechtsanwaltsvertrag wirksam ist, woraus sich
ergibt, dass der Streithelferin für die Tätigkeit der Beklagten der Honoraranspruch gegen die T. zusteht. Es
gab daher keine Honorarrückzahlungsansprüche der T., welche die Klägerin hätte pfänden können, weder
gegen die Beklagte persönlich, noch gegen die Streithelferin oder deren Gesellschafter.
74
IV. Nebenentscheidungen
75 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO und hinsichtlich der Streithelferin aus § 101 ZPO.
76 Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 709 ZPO.
77 Dr. Hofmann
Richter am Landgericht
78
Berichtigungsbeschluss vom 24. November 2016
79 Das Urteil vom 06.10.2016 wird auf Antrag der Beklagten gem. § 320 ZPO im Tatbestand auf S. 3 im fünften
Absatz, 1. Satz wie folgt berichtigt: Nach den Wörtern "die Klägerin" wird eingefügt "nach deren Angaben"
und am Ende des Satzes wird angefügt ", was die Beklagte bestreitet". Der Absatz 5 S. 1 auf Seite 3 lautet
damit nunmehr wie folgt:
80 „Die Kanzlei C... beriet die Klägerin nach deren Angaben in erster Instanz in den beiden genannten
Rechtsstreitigkeiten vor dem LG Flensburg mit den Az. 2 O 97/07 und 2 O 98/07 intern und fertigte
Gutachten zu verschiedenen Rechtsfragen an bis ins Jahr 2012, was die Beklagte bestreitet.“
81
Gründe
82 Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, dass sie in ihrem Schriftsatz vom 07.07.2016, dort S. 5 (= As. 61),
die Tätigkeit der Kanzlei C... für die Klägerin jedenfalls mit Nichtwissen bestritten hatte, was das Gericht
auch in seinem Tatbestand auf S. 6 berücksichtigt hatte, so dass die anders lautende Passage auf Seite 3 im
unstreitigen Teil des Tatbestands widersprüchlich, zumindest missverständlich war. Es handelt sich um eine
offensichtliche Unrichtigkeit i.S.d. § 320 Abs. 1 ZPO.
83 Die Klägerin ist der Tatbestandsberichtigung nicht entgegen getreten.
84 Dr. Hofmann
Richter am Landgericht