Urteil des LG Heidelberg vom 08.11.2016

multiple sklerose, treu und glauben, arglistige täuschung, berufsunfähigkeit

LG Heidelberg Urteil vom 8.11.2016, 2 O 90/16
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig
vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 122.354,51 EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Der Kläger macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend.
2 Der Kläger schloss mit der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit dem Tarif BUV 2-plus/2008 bei
einer ursprünglich garantierten Berufsunfähigkeitsrente für den Fall der Berufsunfähigkeit in Höhe von
monatlich 1.000,00 EUR ab (Vers.-Nr. (Kollektivvertrag Nr.); Versicherungsschein vom 01.04.2010, Anl. K1).
Als Versicherungsbeginn wurde der 01.04.2010 vereinbart, als Ende der Leistungs- und
Beitragszahlungsdauer der 01.04.2033. Außerdem wurden eine Beitragsdynamik, eine
Überschussverwendung und für den Fall der Berufsunfähigkeit eine garantierte Leistungsdynamik von 3 %
jährlich vereinbart. Der Versicherung liegen die Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die
Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version
1/2008, Anl. K2), die Bedingungen für den Präventionsservice (Version 1/2008) und die Bedingungen für
Versicherungen mit Dynamikplan (Anlage K3) zugrunde. Nach § 1 Abs. 1 der Allgemeinen Bedingungen für
die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit
(nachfolgend: ABB) ist die Beklagte zur Zahlung einer monatlich im Voraus zu zahlenden
Berufsunfähigkeitsrente bei voller Befreiung von der Beitragszahlungspflicht verpflichtet, wenn die
versicherte Person während der Versicherungsdauer zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Eine Definition
des Begriffs der Berufsunfähigkeit erfolgt in § 2 ABB. In § 9 ABB finden sich Regelungen zum Rücktritts- und
Kündigungsrecht der Beklagten bei Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht.
3 Im Versicherungsantrag vom 25.03.2010 (Anl. K4), den der Kläger über den Versicherungsvertreter A. J.
stellte, finden sich keine Gesundheitsfragen. Stattdessen enthält der Versicherungsantrag nur eine bereits
vorgedruckte Erklärung, deren Richtigkeit der Kläger durch Ankreuzen des dafür vorgesehenen
Leerkästchens bestätigte. Diese Erklärung hat folgenden Wortlaut:
4
„Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver
AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert
oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfange meiner
Berufstätigkeit nachzugehen.
5
(Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A 122.)“
6 Am 30.08.2012 stellte der Kläger einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit (Anlage BLD 2). In diesem
Antrag gab er an, an multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein. Er gab weiterhin an, dass die Krankheit
erstmals im Juli 2002 diagnostiziert und seitdem fortlaufend behandelt worden sei. Des Weiteren gab der
Kläger an, dass er seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Orthopädietechniker seit 07.05.2012 nicht mehr
ausüben könne, dass sein Arbeitsverhältnis mit dem Universitätsklinikum Heidelberg zum 31.08.2012 wegen
voller Erwerbsunfähigkeit beendet worden sei und dass er seit 01.06.2012 aufgrund Antrags vom
27.04.2012 eine volle Erwerbsminderungsrente von dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger beziehe.
Einen Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz habe er
erstmals am 31.05.2005 gestellt. Dem Versicherungsantrag fügte der Kläger unter anderem eine
Beschreibung des typischen Arbeitsalltags (Anlage BLD 3) und mehrere Bescheide des Landratsamts Rhein-
Neckar-Kreis zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers (Anlage BLD 5-7) bei.
7 Mit Schreiben vom 07.03.2013 (Anl. K5) erklärte die Beklagte die Anfechtung des Versicherungsvertrages
wegen arglistiger Täuschung. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass der Kläger eine unzutreffende
Gesundheitserklärung abgegeben habe, da unter Würdigung der Gesamtumstände davon auszugehen sei,
dass er bereits bei Antragstellung nicht in der Lage gewesen sei, in vollem Umfang seiner beruflichen
Tätigkeit nachzugehen. Darüber hinaus habe der Kläger gefahrerhebliche Umstände vorsätzlich
verschwiegen und seine vorvertragliche Anzeigeobliegenheit in erheblichem Maße arglistig verletzt.
Außerdem trat die Beklagte gemäß § 9 Ziffer 3 ABB i.V.m. § 19 Abs. 2 VVG vom Vertrag zurück. Seit dem
01.09.2012 entrichtete der Kläger aufgrund einer mit der Beklagten getroffenen Stundungsvereinbarung
vom 25.08.2012 (Anlage BLD 1) keine Beiträge mehr.
8 Der Kläger trägt vor,
er habe die in dem Versicherungsantrag enthaltene Erklärung zu seiner Gesundheit wahrheitsgemäß
abgegeben. Er habe weder an den dort aufgeführten Krankheiten gelitten noch seien diese Krankheiten bei
ihm diagnostiziert oder behandelt worden. Er sei auch nicht pflegebedürftig gewesen. Er sei fähig gewesen,
in vollem Umfange seine Berufstätigkeit nachzugehen. Weitere Fragen zur gesundheitlichen Situation des
Klägers seien diesem von der Beklagten nicht gestellt worden. Eine wirksame Anfechtung sei innerhalb der
Jahresfrist des § 124 BGB nicht erklärt worden. Alle in dem Ablehnungsschreiben aufgeführten Gründe
träfen keine Aussage zur konkreten Berufsausübungsfähigkeit des Klägers zum Antragszeitpunkt. Insoweit
sei auf die im Arbeitsrecht entwickelten Grundsätze als Maßstab abzustellen, wonach die Leistung des
Arbeitnehmers sich nach seinem individuellen Leistungsvermögen und nicht nach dem objektiven Maßstab
des § 243 Abs. 1 BGB richte. Sofern die Beklagte ihren Anforderungsmaßstab rein objektiv verstanden
wissen wolle, trage sie hierfür das Risiko der Mehrdeutigkeit gemäß § 305c BGB. Der Kläger habe aber auch
nach objektiven Maßstäben seinen arbeitsrechtlichen Verpflichtungen in vollem Umfang nachkommen
können. Noch in der betriebsärztlichen Untersuchung vom 27.09.2010, ein halbes Jahr nach Antragstellung,
hätten sich durch seine Erkrankung keine gesundheitlichen Probleme im Sinne einer Leistungseinschränkung
bezogen auf seine beruflichen Tätigkeiten ergeben. Deshalb habe der Kläger bis dahin auch keinen Antrag
auf eine behindertengerechte bzw. krankheitsspezifische Anpassung des Arbeitsplatzes gestellt.
Arbeitsunfähige Krankschreibungen im Zeitraum der Antragstellung und des Versicherungsbeginns seien
ebenfalls nicht erfolgt. Erste Einschränkungen des Klägers seien ausweislich der betriebsärztlichen
Bescheinigung vom 20.03.2014 (Anl. K6) erst ab April 2012 festgestellt worden. Auf die betriebsärztliche
Einschätzung habe der Kläger vertrauen dürfen. Arglist könne ihm deshalb nicht unterstellt werden. Soweit
dem Kläger in den Bescheiden des Versorgungsamts vom 25.03.2006 und vom 22.12.2009 zuletzt ein Grad
der Behinderung von 60 zuerkannt und ein Merkzeichen „G“ zugeteilt worden sei, ergebe sich daraus noch
lange keine Beeinträchtigung der Berufsausübung, wie sie privatversicherungsrechtlich zugrunde zu legen
wäre. An der eingeschränkten „Laufstreckenfähigkeit“ des Klägers könne eine nicht „volle Berufsfähigkeit“
des Klägers nicht festgemacht werden, weil die konkreten beruflichen Anforderungen des Klägers, was
Laufstrecken anbelange, gering gewesen seien und keine Einschränkungen begründet hätten. Die
erforderlichen Wege zum Patienten, um beispielsweise die gefertigten Orthesen anzupassen, seien ihm
problemlos möglich gewesen.
9 Berufsunfähigkeit bestehe beim Kläger seit dem 07.05.2012. Seit diesem Tag könne der Kläger seinen Beruf
länger als sechs Monate nicht mehr bedingungsgemäß zu noch mindestens 50 % ausüben (im Einzelnen: AS
21 f.). Gemäß „Standmitteilung“ der Beklagten vom 26.04.2012 (Anl. K9) habe die Versicherung mit dem
01.04.2012 eine garantierte monatliche BU-Rente i.H.v. 1.100,39 EUR erreicht. Dieser Betrag erhöhe sich
während der Dauer der Berufsunfähigkeit zu Beginn eines jeden weiteren Versicherungsjahres (1. April)
aufgrund der vereinbarten Dynamik um 3 %. Hinzu kämen, erstmalig mit Beginn des Versicherungsjahres
des 01.04.2013, die der Höhe nach unbekannten, variierenden und daher nicht bezifferbaren
Überschussanteile. Der Kläger könne außerdem Rückzahlung einer bereits während eingetretener
Berufsunfähigkeit erbrachten Beitragszahlung i.H.v. 335,46 EUR verlangen.
10 Durch die drucktechnische Gestaltung der Erklärung zur Gesundheitssituation werde auch kein besonderer
Aufmerksamkeitseffekt erzielt, wie er für eine Belehrung nach § 19 VVG zu fordern sei (im Einzelnen: AS
169). Die Rücktrittserklärung sei im Übrigen unwirksam, weil die Monatsfrist des § 21 Abs. 1 S. 1 VVG nicht
gewahrt sei (im Einzelnen: AS 173 f.).
11 Der Kläger beantragt:
12 1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.06.2012 bis 31. März 2013 EUR 11.003,90 zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen.
13 2. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.04.2013 bis 31. 03.2014 EUR 13.600,82 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den
Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen
Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem
Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des
Anspruchs.
14 3. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.04.2014 bis 31.03.2015 EUR 14.008,84 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den
Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen
Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem
Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des
Anspruchs.
15 4. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.04.2015 bis 31.03.2016 EUR 14.429,04 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den
Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen
Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem
Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des
Anspruchs.
16 5. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.04.2016 bis 31.05.2016 EUR 2.476,98 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den
Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen
Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem
Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des
Anspruchs.
17 6. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum ab 01.06.2016 für dessen weitere Dauer der Berufsunfähigkeit, längstens jedoch bis 01.04.2033
eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente, monatlich im Voraus zu zahlen, zuzüglich einer zum 01.04. jeden
weiteren Versicherungsjahres hinzuzurechnenden dreiprozentigen Erhöhung der Vorjahresrente und einen
für diesen Zeitraum anfallenden Überschussanteil gemäß Tarif BUV 2-plus/2008 und den Allgemeinen
Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die
abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008, § 21 Abs. 5).
18 7. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) bezahlte
Beiträge für den Zeitraum 01.06.2012 bis 31.08.2012 in Höhe von EUR 335,46 zuzüglich Zinsen hieraus
i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen.
19 8. Es wird festgestellt, dass der Kläger der Beklagten zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den
Zeitraum vom 01.09.2012 bis 31.05.2016 keine weiteren Beiträge schuldet.
20 9. Die Beklagte wird weiter verurteilt, die Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für die weitere Dauer der
Berufsunfähigkeit des Klägers, ab 01.06.2016, längstens jedoch bis 01.04.2033 beitragsfrei zu stellen und
im Übrigen bedingungsgemäß fortzuführen.
21 Die Beklagte beantragt,
22 die Klage abzuweisen.
23 Die Beklagte trägt vor,
mit der Abgabe der Gesundheitserklärung in dem Versicherungsantrag habe der Kläger bewirkt, detaillierte
Gesundheitsfragen nach Maßgabe des Formulars A 122 (Anl. BLD 13) nicht beantworten zu müssen. Über
die Folgen der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht gemäß § 19 Abs. 5 VVG sei der Kläger wirksam
belehrt worden. In der Zusammenschau der Angaben des Klägers im Leistungsantrag vom 30.08.2012 und
der dazu beigefügten Unterlagen (Anlagen BLD 3 - BLD 7) sowie der von der Beklagten im Rahmen des
Leistungsprüfungsverfahrens eingeholten Auskünfte der behandelnden Ärzte (Anlagen BLD 8 - BLD 12)
habe sich ergeben, dass der Kläger unter denjenigen Beschwerden, aufgrund derer nunmehr der Eintritt der
bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ab Mai 2012 geltend gemacht werden sollte, bereits seit dem Jahre
2000 vorgelegen hätten, wobei ab dem Jahr 2005 die Beschwerden bereits ein solches Ausmaß
angenommen hätten, dass - auf Antrag des Klägers und sodann aufgrund dessen Widerspruchs - ein GdB
von 50 festgestellt worden sei. Nur ein halbes Jahr vor Antragstellung zu dem streitgegenständlichen
Versicherungsvertragsverhältnis habe der Kläger eine Erhöhung des GdB auf 60 beantragt; diesem Antrag
sei im September 2009 - drei Monate vor Antragstellung - stattgegeben worden. Damit korreliere die
ärztliche Feststellung, dass es sich bei der Grunderkrankung - Multiple Sklerose - um eine chronisch
progrediente Verlaufsform handele, was dem Kläger ebenfalls bekannt gewesen sei. Zudem seien bereits im
Vorfeld der Antragstellung zahlreiche krankheitsbedingte Funktionseinschränkungen bei dem Kläger ärztlich
dokumentiert gewesen. Vor diesem Hintergrund habe es sich so verhalten, dass bei dem Kläger zum
Zeitpunkt der Antragstellung am 25.03.2010 krankheitsbedingte Einschränkungen im Hinblick auf seine
Berufsausübung vorgelegen hätten. Der Kläger sei krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, in vollem
Umfange seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Der Kläger habe auch gewusst, dass es sich bei seiner
Erkrankung um eine chronisch-progrediente Verlaufsform handle. Für ihn sei daher bereits bei Abschluss des
Versicherungsvertrages absehbar gewesen, dass - sollte dies nicht bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung
der Fall gewesen sein - in näherer Zukunft bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eintreten würde. In
Kenntnis dieser Umstände hätte die Beklagte das streitgegenständliche Versicherungsverhältnis nicht
abgeschlossen. Vielmehr wäre der Antrag des Klägers zurückgewiesen worden. Die Beklagte habe das
Versicherungsvertragsverhältnis vor diesem Hintergrund wirksam gemäß § 123 BGB angefochten. Hierzu sei
sie berechtigt gewesen, da der Kläger seine vorvertragliche Anzeigepflicht gegenüber der Beklagten in
arglistiger Weise verletzt habe. Der Kläger habe insbesondere in unzutreffender Weise erklärt, er sei zum
Zeitpunkt der Antragstellung in seiner Fähigkeit zur Berufsausübung nicht beeinträchtigt gewesen, was
offenkundig falsch gewesen sei. Bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten sämtliche
krankheitsbedingte Funktionsbeeinträchtigungen, die nunmehr zur Berufsunfähigkeit geführt haben sollen,
vorgelegen. (im Einzelnen: AS 105 f.). Der Kläger habe die falsche Erklärung gegenüber der Beklagten auch
arglistig abgegeben (im Einzelnen: AS 107 f.).
24 Auf den ebenfalls erklärten Rücktritt gemäß § 19 Abs. 2 VVG komme es nicht an, da der Vertrag wirksam
angefochten worden sei. Die inhaltlichen Voraussetzungen für die Erklärung des Rücktritts hätten aber
vorgelegen. Hilfsweise berufe sich die Beklagte auf den Einwand der Vorvertraglichkeit (im Einzelnen: AS
113 f.).
25 Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
26 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
27 1. Dem Kläger steht kein Leistungsanspruch aus dem mit der Beklagten abgeschlossenen
Versicherungsvertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu, weil die Beklagte diesen Vertrag mit
Schreiben vom 07.03.2013 wirksam gemäß § 22 VVG i.V.m. § 123 BGB angefochten hat. Gemäß § 142 Abs.
1 BGB ist der Vertrag damit als von Anfang an nichtig anzusehen.
28 a. Es kann offenbleiben, ob eine arglistige Täuschung der Beklagten darin liegt, dass der Kläger durch
Ankreuzen der vorgedruckten Erklärung zu seinem Gesundheitszustand in dem Versicherungsantrag vom
25.03.2010 die Angabe machte, dass er bei Antragstellung fähig gewesen sei, in vollem Umfang seiner
Berufstätigkeit nachzugehen. Gegen die Annahme einer bewusst wahrheitswidrigen Angabe spricht in
diesem Zusammenhang jedoch, dass sich ungeachtet der bei dem Kläger bereits seit 2002 bestehenden MS-
Erkrankung und der bereits vor Antragstellung erfolgten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft
durch das Versorgungsamt ausweislich der betriebsärztlichen Bescheinigung vom 20.03.2014 (Anl. K6) bei
der betriebsärztlichen Untersuchung am 27.09.2010 noch „keine spezifischen Anzeichen für eine
Beeinträchtigung bezüglich der Ausübung des Berufes“ aufgrund der konkreten Ausgestaltung des dem
Kläger zugewiesenen Arbeitsplatzes ergeben hatten und dass der Kläger seinen Beruf als
Orthopädietechniker im Zeitpunkt der Antragstellung auch tatsächlich noch ausübte.
29 b. Die von der Beklagten erklärte Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist jedenfalls deswegen
begründet, weil der Kläger arglistig gefahrerhebliche Umstände, zu deren Offenbarung er nach Treu und
Glauben verpflichtet war, verschwiegen hat.
30 aa. Ob eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung wegen des Unterlassens der Angabe von
offenbarungspflichtigen Umständen auch dann in Betracht kommt, wenn diese Umstände vom Versicherer –
wie hier – bei Vertragsschluss nicht ausdrücklich erfragt wurden, oder ob die Anfechtung in einem solchen
Fall durch § 19 VVG ausgeschlossen ist, ist umstritten und bislang, soweit ersichtlich, noch nicht
höchstrichterlich oder obergerichtlich entschieden worden (vgl. die Nachweise bei Armbrüster, in:
Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., § 22 Rn. 3). Nach der wohl überwiegenden Auffassung im Schrifttum wird die
Anfechtung in einem solchen Fall durch § 19 VVG nicht ausgeschlossen. Dieser Auffassung ist zu folgen. Die
Beschränkung der Anzeigepflicht auf eine Antwortpflicht soll den Versicherungsnehmer nämlich von dem
Risiko entlasten, die Anzeigepflicht (wenn auch schuldlos) infolge einer Fehleinschätzung der
Gefahrerheblichkeit eines Umstandes zu verletzen. Geht der Versicherungsnehmer aber selbst davon aus,
dass die Kenntnis des Versicherers von bestimmten Umständen trotz des Fehlens entsprechender Fragen
dessen Entscheidung beeinflusst, was Voraussetzung einer Täuschung ist, dann ist er diesem Risiko nicht
ausgesetzt, weil das Unterbleiben ordnungsgemäßer Fragen keinerlei Rolle für sein Verhalten gegenüber
dem Versicherer spielt. Daher kann das Unterbleiben auch eine Offenbarungspflicht nicht hindern. Das
bedeutet, dass eine solche Pflicht jedenfalls besteht, wenn es um Umstände geht, die auch nach der
Einschätzung des Versicherungsnehmers trotz des Unterbleibens diesbezüglicher Fragen gefahrerheblich
sind (so zutreffend Armbrüster, in: Prölss/Martin, a.a.O.,Rn 3). § 22 VVG verweist im Übrigen ohne jede
Einschränkung auf das Recht zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB. Im Rahmen der
Arglistanfechtung nach § 123 BGB ist aber bereits seit langem anerkannt, dass eine Täuschung auch durch
Verschweigen von offenbarungspflichtigen Umständen erfolgen kann. Hätte der Gesetzgeber im
Versicherungsvertragsrecht die Arglistanfechtung auf fehlerhafte Angaben zu gefahrerheblichen Umständen,
die der Versicherer in Textform ausdrücklich erfragt hat, beschränken wollen, hätte es nahegelegen, eine
solche Beschränkung in § 22 VVG – der dann freilich weitgehend leerliefe – zum Ausdruck zu bringen.
31 bb. Indem der Kläger bei Antragstellung gegenüber (dem Versicherungsvertreter) der Beklagten nicht angab,
dass er an einer multiplen Sklerose leidet, die erstmals im Jahr 2002 diagnostiziert und wegen der er
seitdem fortlaufend ärztlich behandelt wurde, hat er einen gefahrerheblichen Umstand, der für die
Bereitschaft der Beklagten, den Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu den von ihr
angebotenen Konditionen abzuschließen, von erheblicher Bedeutung war, arglistig verschwiegen.
32 (1) Beim Abschluss von Verträgen besteht grundsätzlich eine Offenbarungspflicht über solche Umstände,
hinsichtlich derer der Vertragspartner nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der
Verkehrsanschauung redlicherweise Aufklärung erwarten durfte. Umstände, die für die Willensbildung des
Vertragspartners offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind, müssen ungefragt offenbart werden.
Das gilt vor allem für Umstände, die geeignet sind, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen
Schaden zuzufügen (Palandt/Ellenberger, BGB, 75. Aufl., § 123 Rn. 5 ff. m.w.N.). Auf den
Versicherungsvertrag bezogen bedeutet dies, dass jedenfalls diejenigen Umstände offenbart werden müssen,
die ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer für gefahrerheblich, d.h. für den Entschluss des Versicherers,
den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, für bedeutsam halten muss.
33 (2) Nach diesem Maßstab handelte es sich bei der MS-Erkrankung des Klägers im Zusammenhang mit dem
Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung um einen gefahrerheblichen und damit
offenbarungspflichtigen Umstand. Es ist allgemein und insbesondere einem an multipler Sklerose erkrankten
Versicherungsnehmer bekannt, dass die multiple Sklerose eine nicht heilbare Krankheit mit in der Regel
fortschreitendem Verlauf ist, mit der ein stark erhöhtes Risiko der Berufsunfähigkeit einhergeht. Die multiple
Sklerose gehört damit zu den Krankheiten, für die sich der Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung
besonders lohnt. Da diese Krankheit mit einem stark erhöhten Risiko der Berufsunfähigkeit einhergeht, ist
undenkbar, dass ein Versicherer einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem an
multipler Sklerose erkrankten Versicherungsnehmer überhaupt oder jedenfalls zu den üblichen Konditionen
abschließt, ohne einen Leistungsausschluss für den Fall der Berufsunfähigkeit wegen dieser Krankheit zu
vereinbaren. Die Gefahrerheblichkeit der multiplen Sklerose im Zusammenhang mit dem Abschluss eines
Vertrages über eine Berufsunfähigkeitsversicherung liegt so sehr auf der Hand, dass sie einem
durchschnittlichen Versicherungsnehmer, der bereits an multipler Sklerose erkrankt ist, nicht verborgen
bleibt, sondern sich ihm geradezu aufdrängt. Auch wenn der Versicherer bei Vertragsschluss nicht
ausdrücklich nach dem Vorliegen einer multiplen Sklerose gefragt hat, kann kein redlicher
Versicherungsnehmer, der diese Krankheit hat, ernsthaft annehmen, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen
dieser Krankheit für die Bereitschaft des Versicherers zum Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung
zu den üblichen Konditionen nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund kann nicht
zweifelhaft sein, dass auch dem Kläger klar war, dass die Beklagte den Vertrag über eine
Berufsunfähigkeitsversicherung nicht oder zumindest nicht ohne einen Leistungsausschluss für den Fall der
Berufsunfähigkeit wegen der bei Antragstellung bereits bestehenden MS-Erkrankung abgeschlossen hätte,
auch wenn diese Krankheit in der im Antragsformular vorgedruckten Erklärung nicht ausdrücklich erwähnt
war. Redlicherweise hätte der Kläger daher bei Antragstellung seine Krankheit offenbaren und danach
fragen müssen, ob die Beklagte trotz dieser Krankheit zum Vertragsschluss bereit ist. Das Unterlassen der
Offenbarung stellt eine arglistige Täuschung dar. Aus den bereits dargelegten Gründen kann auch kein
Zweifel daran bestehen, dass die arglistige Täuschung für die Vertragsannahme durch die Beklagte
ursächlich geworden ist und dass die Beklagte bei Offenbarung der MS-Erkrankung durch den Kläger den
Versicherungsvertrag nicht oder nur mit einem Leistungsausschluss für den Fall der Berufsunfähigkeit infolge
dieser Krankheit abgeschlossen hätte.
34 Der Kläger konnte im vorliegenden Fall auch nicht annehmen, der Beklagten komme es für die Bereitschaft
zum Abschluss eines Vertrages über eine Berufsunfähigkeitsversicherung nur darauf an, dass die in der
vorgedruckten Erklärung ausdrücklich genannten Krankheiten nicht vorliegen. Denn es liegt auf der Hand
und ist einem an multipler Sklerose erkrankten durchschnittlichen Versicherungsnehmer bekannt, dass diese
Krankheit ein ebenso großes Risiko der Berufsunfähigkeit in sich birgt wie die in dem Antragsformular
genannten Krankheiten und dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen dieser Krankheit daher für den
Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, von ebenso
ausschlaggebender Bedeutung ist wie das Vorliegen oder Nichtvorliegen der in dem Antragsformular
genannten Krankheiten. Anders als in Fällen, in denen der Versicherer dem Versicherungsnehmer vor
Vertragsschluss einen umfangreichen Fragenkatalog präsentiert und darüber hinaus die Namen der Ärzte
erfragt, die den Antragsteller regelmäßig behandeln oder in den zurückliegenden Jahren behandelten, durfte
der Kläger im Streitfall redlicherweise nicht darauf vertrauen, er habe bereits mit dem wahrheitsgemäßen
Ankreuzen der vorgedruckten Erklärung seine Anzeigepflicht vollständig erfüllt. Indem er gleichwohl eine
von ihm selbst als gefahrerheblich erkannte Krankheit nicht angab, hat er zumindest billigend in Kauf
genommen, dass der Versicherer den Vertrag bei Anzeige der Krankheit nicht oder nicht mit dem
vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte.
35 Indem die Beklagte im Vertrauen auf die Redlichkeit des Antragstellers für diesen erkennbar auf einen
umfangreichen Fragenkatalog und auf routinemäßige Nachforschungen bei den behandelnden Ärzten
verzichtete, ist ihr die Ausübung des Anfechtungsrechts - anders als in der von dem BGH (Urteil vom 25.
März 1992 – IV ZR 55/91 –, BGHZ 117, 385-389, juris) entschiedenen Konstellation - auch nicht wegen
Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) verwehrt.
36 cc. Die Beklagte hat die Anfechtung des Vertrages rechtzeitig innerhalb der Jahresfrist des § 124 BGB
erklärt. Die Anfechtungserklärung der Beklagten genügt auch dem Erfordernis, dass für den
Anfechtungsgegner erkennbar sein muss, auf welchen tatsächlichen Grund die Anfechtung gestützt wird
(vgl. Palandt/Ellenberger, a.a.O., § 143 Rn. 3 m.w.N.). In dem Anfechtungsschreiben vom 07.03.2013 (Anl.
K5) wird die Anfechtung – ebenso wie in der Klageerwiderung der Beklagten – zwar in erster Linie darauf
gestützt, dass der Kläger bei Vertragsschluss entgegen der von ihm abgegebenen Erklärung nicht in der
Lage gewesen sei, in vollem Umfang seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Dieser Gesichtspunkt ist aber
untrennbar verbunden mit der bereits bei Vertragsschluss bestehenden MS-Erkrankung des Klägers, auf die
in dem Anfechtungsschreiben vom 07.03.2013 ausdrücklich Bezug genommen wurde. Zudem führte die
Beklagte in dem Anfechtungsschreiben (dort Seite 4, 5. Absatz) ausdrücklich das vorsätzliche Verschweigen
von gefahrerheblichen Umständen – damit ist zweifelsohne die MS-Erkrankung des Klägers gemeint – als
Anfechtungsgrund an. Das Erfordernis, dass für den Anfechtungsgegner der Anfechtungsgrund erkennbar
sein muss, schließt es im Übrigen nicht aus, nach Ablauf der Anfechtungsfrist solche Gründe
nachzuschieben, die in enger inhaltlicher Verbindung zu den bereits zuvor für den Versicherungsnehmer
erkennbar gewesenen Gründen stehen (Armbrüster, in: Prölss/Martin, a.a.O., § 22 Rn. 34).
37 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat seine
Grundlage in § 709 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 48 GKG, 3 ZPO.