Urteil des LG Hechingen vom 15.04.2002

LG Hechingen: evangelische kirche, unfall, video, augenschein, verfügung, pfarrer, gefahr, diagnose, operation, anhörung

LG Hechingen Urteil vom 15.4.2002, 2 O 389/01
Haftung des Konzertveranstalters für Verletzungen eines Besuchers beim sog. "Stage-Diving"
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
3. Das Urteil ist gegen Leistung einer Sicherheit von 3.500,-- Euro vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: 30.000,-- DM
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten in Anspruch.
2
Die Beklagte hat am 23. und 24.4.1999 das Rockfestival - ein Rockfestival mit religiösem Hintergrund - veranstaltet. An diesem Festival hat auch
die Jugendgruppe des aus K., geleitet und begleitet von den erwachsenen Begleitpersonen und, teilgenommen. Ihr hat auch der Kläger
angehört.
3
Am Abend des 24.05.1999 ist auch die Rockband S. aufgetreten. Deren Mitglieder haben die Zuhörer, im wesentlichen Jugendliche, auch zum
Stage-Diving, worunter das Springen von der Bühne in die Zuschauermenge zu verstehen ist, aufgefordert. Dabei lässt sich der Springende auf
die vor der Bühne stehenden Konzertbesucher fallen, wird von den vor der Bühne stehenden Zuschauern mit den Armen aufgefangen, nach
hinten weitergereicht und schließlich dann heruntergelassen.
4
Auch der Kläger hat an diesem Stage-Diving teilgenommen und ist mehrmals von der ca. 1,50 hohen Bühne in die Zuschauermenge
gesprungen.
5
Der Kläger trägt vor:
6
Bei seinem letzten Sprung sei er beim Kopfüber-Abladen auf seine linke Schulter gefallen. Der von ihm aufgesuchte Sanitäter vor Ort hab nichts
feststellen können, sondern ihm lediglich eine Salbe verabreicht. Die Jugendgruppe sei noch gegen Mitternacht nach K. zurückgefahren.
7
Am darauffolgenden Sonntagmorgen (25.4.1999) habe er den Notarzt Dr. K., aufgesucht, der eine Schulterprellung diagnostiziert habe. Eine
Woche später sei er bei den Unfallchirurgen Dr. G. und K. in geröntgt worden; auf dem Röntgenbild sei nichts zu erkennen gewesen.
8
Im August 1999 sei er zu seinem Vater nach W. gezogen. Da die Schmerzen im Sportunterricht unerträglich gewesen seien, habe er sich im
September 1999 bei den Orthopäden Dr. K. und H. in ... untersuchen lassen. Von diesen Ärzten sei er an das ...-Haus in W. verwiesen worden.
Dort habe man am 21.12.1999 festgestellt, daß eine Operation an der Schulter aufgrund folgender Diagnose unumgänglich sei:
9
"Klinisch zeigt sich eine unauffällige schulterumspannende Muskulatur, Druckschmerz über dem AC-Gelenk. Weiterhin Instabilität des linken
Schulter-Eck-Gelenkes. Bewegungsausmaß aktiv wie passiv. Abduktion 170°, Außenrotation in 0°-Position 40°, Innenrotation bis TH 8. Bei
passiver Bewegungsführung teilweise Einklemmungssymptomatik. Apprehension-Sign als Zeichen der vorderen Instabilität ist positiv, kein
Zeichen für eine dorsale Instabilität."
10 Die operative Diagnose vom 4.2.2000 habe wie folgt gelautet: Zustand nach traumatischer Schulterluxation mit rezidivierenden Subluxationen.
Adhärenter freier Gelenkkörper, Knorpelschaden Grad IV im Glenuid stellenweise Grad I-II Humeruskopf mit durchgeführter modifizierter Bankart-
OP.
11 Er habe nach Durchführung der Operation zur Wundheilung den Arm für sechs Wochen im Gilchrist-Verband tragen müssen. Danach habe er ein
halbes Jahr zur Krankengymnastik teilgenommen. Er habe auch heute noch Beschwerden. Nach wie vor seien drei Titan-Anker in seine Schulter
eingepflanzt. Vom Schwimmen abgesehen bestehe ein ärztliches Sportverbot.
12 Der Kläger wirft der Beklagten vor, sie habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Weder auf noch vor der Bühne hätten sich Sicherheitskräfte
befunden, die die Jugendlichen davon abgehalten hätten, auf die Bühne zu klettern und dort das Stage-Diving zu praktizieren. Die Beklagte hätte
ohne weiteres die Gefährlichkeit des Stage-Diving für die jugendlichen Besucher erkennen können und müssen. Sie habe jedoch nichts
unternommen, obwohl sie das Stage-Diving leicht hätte unterbinden können.
13 Auf das von ihm begehrte Schmerzensgeld, das er sich in Höhe von 15.000,-- DM vorstellt, lasse er sich ein Mitverschulden von höchstens 25 %
anrechnen.
14 Der Kläger stellt folgende Anträge:
15 1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger DM 15.000,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz hieraus seit 12.09.2001 zu
bezahlen.
16 2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden - letztere, soweit sie nach
der letzten mündlichen Verhandlung entstehen - aus dem Unfall vom 24.4.1999 zu bezahlen, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
17 Die Beklagte beantragt,
18 die Klage abzuweisen.
19 Die Kammer hat ein von der Beklagten gefertigtes Videoband in Augenschein genommen.
20 Auf das weitere Vorbringen der Parteien in den gewechselten Schriftsätzen wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
21 Die Klage ist zulässig.
I.
22 Die beklagte Kirchengemeinde ist parteifähig (§ 50 Abs. 1 ZPO). Nach §§ 1 und 2 bad.-württ. KirchenG sind nicht nur die evangelische Kirche,
sondern auch die örtlichen Kirchengemeinden Körperschaften des öffentlichen Rechts. Dies ergibt sich im übrigen auch aus den baden-
württembergische Kirchensteuergesetz (§§ 1, 24, vgl. dazu OLG Stuttgart NJW-RR 2001, 1697 ff).
II.
23 Die Klage ist jedoch unbegründet.
24 Die Beklagte haftet dem Kläger weder aus §§ 631, 276, 278 BGB wegen Schlechterfüllung des Veranstalterbesuchsvertrages - hinsichtlich
materieller zukünftiger Schäden -, also wegen einer positiven Vertragsverletzung, noch nach deliktischen Grundsätzen auf Schadensersatz (§§
31, 89, 823, 847 BGB).
25 Auch nach der Beweisaufnahme blieb zwischen den Parteien streitig, ob sich der Unfall wie vom Kläger geschildert abgespielt hat. Das Video,
das die Beklagte während des Festivals aufnehmen ließ, zeigt den Kläger zwar bei mehreren Sprüngen von der Bühne, nicht jedoch, wie er in
den rückwärtigen Teil des Saales durchgereicht und dort abgeladen wurde, d.h. das - so die Formulierung in der Klageschrift - "Kopf-über-
Abladen" ist nicht dokumentiert. Insofern konnte der Augenschein zur Aufklärung nichts beitragen.
26 In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausgeführt, er habe nicht ermitteln können, wer ihn beim Abladen auf den Boden fallen gelassen
hat. Zeugen für den eigentlichen Unfallhergang sind nicht benannt worden. Insofern bestehen schon Zweifel, ob der Unfall sich überhaupt so
abgespielt hat, wie vom Kläger vorgetragen. Es kommt hinzu, daß der Kläger bzw. dessen Mutter sich erst im Mai 2001 bei der Beklagten in
dieser Angelegenheit gemeldet haben.
27 Es bestünden jedoch auch dann keine Schadensersatzansprüche des Klägers, wenn sich der Unfall wie vom Kläger in der Klageschrift und in
der mündlichen Verhandlung dargestellt zugetragen haben sollte.
28 a) Der Veranstaltungsbesuchsvertrag gehört nicht zu den im Gesetz geregelten Vertragstypen (§ 305 BGB a.F.), enthält aber, soweit es um den
Auftritt der angekündigten Rockgruppen geht, werkvertragliche Elemente (vgl. Roth JuS 1999, 220 ff). Zu den Pflichten des Veranstalters gehörte
nicht nur die sorgfältige Vorbereitung und Durchführung des Rock-Festivals, sondern auch die Kontrolle eines ausreichenden
Sicherheitsstandards in der Festhalle entsprechend den Umständen (vgl. zum Reiseveranstalter Palandt/Thomas, BGB, 61. Auflage, § 823 Rz.
116). Schuldhafte Verletzungen der Organisations- und Verkehrssicherungspflicht durch Organe oder Gehilfen der Beklagten können
vertragliche oder deliktische Ersatzansprüche von Teilnehmern und Besuchern der Veranstaltung auslösen. Der am 6.8.1983 geborene Kläger
war, als die Eintrittskarten für die ...-Jugendgruppe besorgt wurden (§ 631, 807, 797 BGB), noch minderjährig. Im Haupttermin erklärte er, seine
Mutter habe eine Einverständniserklärung unterschrieben, wonach er am Festival teilnehmen dürfe (§§ 2, 106, 107 BGB). Soweit vom Kläger
geltend gemacht wurde, seinen Eltern sei nicht bekannt gewesen, daß beim Festival auch das Stage-Diving angeboten werde bzw. zum
Programm gehöre, mag dies zutreffen, kann jedoch dahingestellt bleiben.
29 Die Zeugin aus K., die die ...-Jugendgruppe begleitet hat, hat jedoch, wie der Kläger selbst bei seiner Anhörung (§ 141 ZPO) ausführte, keine
Einwendungen gegen seine Sprünge von der Bühne ins Publikum erhoben oder ihm gar Vorhaltungen gemacht. Im Gegenteil, habe ihm
gegenüber erklärt, sie finde es toll und "cool", daß er beim Stage-Diving mitmache. Dem damals noch minderjährigen Kläger war also die
Teilnahme - auch am Stage-Diving - jedenfalls von der Leiterin der Jugendgruppe, also einer Aufsichtsperson i.S.d. § 832 BGB, gestattet worden.
Die Bemerkung der Zeugin, sie finde sein Stage-Diving "toll", ermutigte den Kläger sogar zu weiteren Sprüngen.
30 b) Es mag zutreffen, daß der Sänger der Rockgruppe S. die Festivalbesucher zum Stage-Diving aufgefordert hat. Soweit ersichtlich, wurde
lediglich beim Auftritt dieser Gruppe das Stage-Diving praktiziert. Durch die Beweisaufnahme widerlegt ist jedoch die Behauptung des Klägers, er
habe sich der Gruppendynamik nicht mehr entziehen können und sei schließlich dann mehrfach selbst von der Bühne gesprungen.
31 Aufgrund des von der Beklagten zur Verfügung gestellten und in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommenen Videos steht
nämlich fest, daß nur wenige Festival-Teilnehmer die Bühne erklettert und dort neben der Rockband S. getanzt haben, bevor sie sich zum Sprung
in die Menge entschlossen. Zu sehen war ein Junge mit entblößtem Oberkörper, den der Kläger als den ihm bislang unbekannten "Knuddel"
bezeichnet hat. Er und "Knuddel" hätten sich gegenseitig Mut gemacht. Zu sehen war ferner ein Mädchen (laut Kläger die Zeugin ""). Der Kläger
hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, er sei als 4. oder 5. Teilnehmer von der Bühne gesprungen, jedoch als erster seiner
Jugendgruppe. Ein psychologischer oder gesellschaftlicher Zwang beim Stage-Diving mitzuwirken, bestand sonach nicht. Im Gegenteil, der
Kläger ist nach eigenen Angaben in Abständen von wenigen Minuten 5 - 6 mal gesprungen, hat also gewissermaßen zur "Avantgarde" gehört.
32 c) Zu den Verkehrssicherungspflichten der Beklagten hat es nicht gehört, von vornherein das Stage-Diving zu verbieten oder durch
entsprechende Sicherheitsvorkehrungen zu gewährleisten, dass kein Jugendlicher auf die Bühne steigt.
33 Zutreffend ist, dass die Beklagte im April 1999 lediglich den Zugang auf die Bühne von der Seite her abgesperrt hatte. Inzwischen, so Pfarrer bei
seiner Anhörung durch die Kammer, würden auch Wärter das Hinaufklettern auf die Bühne unterbinden. Das Stage-Diving, das seit 1997/1998
von der Veranstalterin auf den Rock-Festivals toleriert wurde, ist mittlerweile untersagt. Es ist aber nicht nur auf dem Rockfestival der Beklagten
praktiziert worden, sondern auch bei anderen Konzerten. So kannte der Kläger das Stage-Diving aus dem Fernsehen. Auch andernorts, d.h. bei
anderen Veranstaltungen, ist es offenbar praktiziert worden. Pfarrer meinte, Ende der neunziger Jahre sei Stage-Diving "in" gewesen.
34 Stage-Diving weist in der Tat gewisse Risiken auf, so etwa beim Absprung von der Bühne in die Menge, beim Durchreichen nach hinten und
beim Abladen. Bei sämtlichen Phasen sind Verletzungen möglich, sowohl beim Stage-Diver als auch bei jenen Teilnehmern, die ihn auffangen.
Zu berücksichtigen ist auch, daß die Teilnehmer an einer solchen Massenveranstaltung sich nicht kennen. Der Stage-Diver ist auf die
Kameradschaftlichkeit und Fairness der anderen Teilnehmer angewiesen. Zwar hat ein Verkehrssicherungspflichtiger auch Maßnahmen zu
treffen hat, um Kinder und Jugendliche vor den Folgen ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit zu bewahren, wenn er diese Gefahr erkennen
kann oder solche Risiken in Betracht zu ziehen hat (vgl. etwa BGH NJW 1991, 2340; OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1188 ff). Bei einem 15-
jährigen, das Gymnasium besuchenden Teilnehmer kann jedoch aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner Entwicklung (§ 828 BGB)
davon ausgegangen werden, dass er sich über das Verletzungsrisiko beim Stage-Diving bewusst ist. Ein gewisses Verletzungsrisiko besteht
auch beim Sportunterricht, bei Ballspielen, beim Ski fahren. Im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht kann nicht jegliches Risiko
ausgeschlossen werden. Es sind vielmehr die Art und Schwere der drohenden Gefahr und des Schadens sowie die Wahrscheinlichkeit des
Schadenseintritts in eine Abwägung einzubeziehen (vgl. OLG Koblenz NJW-RR 2001, 526 ff.).
35 Gegen diese Pflicht, die Risiken und Gefahren abzuwägen, wurde vom Veranstalter nicht verstoßen, als er das Stage-Dive zwar nicht im
offiziellen Programm ausdrücklich ankündigte, es den Teilnehmern aber auch nicht verwehrte. Auf dem Video war zu erkennen, dass der Kläger
mit einem Überschlag, also mit einem Salto, von der Bühne in die Menge sprang - jedenfalls bei seinem ersten Sprung. Die Jugendleiterin, die
seine ersten drei Sprünge mitverfolgt hatte, gelangte jedenfalls zu der Erkenntnis, die körperliche Gewandtheit des Klägers sei so groß und das
allgemeine Verletzungsrisiko so gering, dass man ihm auch weitere Sprünge freistellen sollte.
36 Hinzukommt, dass der Kläger das beim Stage-Diving ohnehin schon bestehende Verletzungsrisiko noch gesteigert hat. Er hat sich nämlich - wie
das Video belegt - nicht lediglich von der Bühne auf die Zuhörer fallen lassen, sondern er hat für seinen Sprung in dem Sinne noch "Anlauf"
genommen, dass er sich aus gebeugten Knien abgeschnellt und dadurch noch zusätzlich "Schwung" gewonnen hat.
III.
37 Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709, 108 ZPO.