Urteil des LG Hanau vom 14.12.2010

LG Hanau: bedingte entlassung, unterbrechung, aussetzung, vollzug, ausnahmecharakter, anschluss, ermessen, trennung, mittäter, widerstand

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 1167/10, 3
Ws 1172/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 57 Abs 2 Nr 2 StGB, § 454b
Abs 2 StPO, § 458 Abs 2 StPO,
§ 23 GVGEG, §§ 23ff GVGEG
Leitsatz
Die Zuständigkeit aus § 458 Abs. 2 StPO bezieht sich nur auf die in § 454 b Abs. 2 StPO
ausdrücklich genannten Unterbrechungsfälle. Gegen die Versagung einer
Unterbrechung zum Halbstrafenpunkt in Fällen des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB kann nur
gemäß §§ 23 ff. EGGVG gerichtlich überprüft werden. Eine rückwirkende Unterbrechung
im Strafaussetzungsverfahren scheidet im letztgenannten Fall grundsätzlich aus.
Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten der Verurteilten (§ 473 I StPO) verworfen.
Gründe
Gegen die Verurteilte wurde vom Landgericht Hanau am 19.11.2007 wegen
Betruges in 2 Fällen und versuchten Betruges in 12 Fällen unter Einbeziehung der
durch das Landgericht Köln am 01.12.2006 ausgeworfenen Einzelstrafen eine
Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verhängt. Die Hälfte dieser
Strafe war am 01.01.2010, 2/3 waren am 02.10.2010 verbüßt. Zum
letztgenannten Zeitpunkt wurde die Vollstreckung unterbrochen, nachdem mit
Bescheid der Staatsanwaltschaft vom 16.11.2009 ein Antrag der damals anwaltlich
vertretenen Verurteilten auf Unterbrechung zum Halbstrafentermin von der
Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main zurückgewiesen worden war. Im Anschluss,
also seit dem 03.10.2010 wird eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten aus dem Urteil
des Amtsgerichts Mainz vom 09.01.2006 verbüßt. Die Mindestverbüßungsfrist (§
57 II StGB) von 6 Monaten, die mit dem 2/3 Zeitpunkt zusammenfällt, wird am
02.04.2011 erreicht sein.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag
der Verurteilten auf Reststrafenaussetzung als unzulässig, weil verfrüht
zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte
sofortige Beschwerde, die in der Sache indes erfolglos bleibt.
Die Kammer hat den Antrag zu Recht als verfrüht zurückgewiesen. Werden
mehrere Strafen im Anschluss vollstreckt, kann der Aussetzungsantrag erst
gestellt werden, wenn über die Aussetzung sämtlicher Im Wege der
Anschlussvollstreckung verbüßter Strafen entschieden werden kann (§ 454 b III
StPO). Dies ist nach der dargestellten Vollsteckungssituation frühestens zum
02.04.2011 der Fall.
Soweit die Verurteilte geltend macht, die Kammer habe übersehen, dass sie eine
Aussetzung der Freiheitsstrafen zum zeitpunkt und nicht zum
gemeinsamen Zwei-Drittel-Zeitpunkt begehrt habe, kann sie keinen Erfolg haben.
Eine Aussetzung der Verurteilung aus dem Urteil vom 09.01.2006 zu einem
früheren Zeitpunkt ist wegen der gesetzlich vorgeschriebenen
Mindestverbüßungsdauer nicht möglich.
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Im vorliegenden Beschwerdeverfahren ist ferner nicht zu überprüfen, ob die
gehalten gewesen wäre, die Vollstreckung der
Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 19.11.2017 früher, nämlich zur Hälfte
am 02.10.2010 zu unterbrechen, so dass sich der frühstmögliche Zeitpunkt, in
dem eine gemeinsame Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung
beider Strafreste möglich ist, zu Gunsten der Verurteilten verschöbe. Denn weder
die Kammer nach § 458 II StPO, noch der Senat
sind befugt, über die (rückwirkende) Unterbrechung der
Strafe aus dem Urteil vom 19.11.2007 zum Halbstrafenzeitpunkt zu entscheiden.
Die Zuständigkeit aus § 458 II StPO bezieht sich nur auf die in § 454b II StPO
Unterbrechungsfälle, gilt also gerade nicht für die hier
allein in Rede stehende, nur bei Bejahung des Vorliegens besonderer Umstände
nach § 57 II StGB in Betracht kommende Unterbrechung nach Verbüßung der
Hälfte einer § 57 II StGB nicht unterfallenden, weil 2 Jahre übersteigenden
Freiheitsstrafe (Senat, Beschl. v. 08.06.2004 – 3 Ws 629/04; v. 14.8.2002 – 3 VAs
22/02 und v. 30.4.1999 – 3 Ws 344/99; BGH, NJW 1991, 2030; OLG Hamm, NStZ
1999, 56 und NStZ 1993, 302; OLG Hamburg, StV 1993, 256; OLG Celle, MDR
1990, 176; Appl, In: KK-StPO, 6. Aufl., § 454b Rn 28, § 458 Rn 13 – jew. mwN; zu
undifferenziert Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 454b Rn 9, 458 Rn 12; a.A. OLG
Zweibrücken, NStZ 1989, 592 und Beschl. v. 22.09.1992 – 1 Ws 450-457/92 – juris,
dagegen ausführlich Senat; Beschl. v. 08.06.2004 und OLG Hamm – jew. aaO).
Vielmehr hat die Vollstreckungsbehörde, wenn – wie hier – die Unterbrechung zum
Halbstrafenzeitpunkt nach § 57 II Nr. 2 StGB in Rede steht, auf Grund der für sie
verbindlichen Verwaltungsnorm des § 43 IV StrVollstrO zu
entscheiden, ob aus wichtigem Grund eine von der gesetzlichen Bestimmung des
§ 454b I StPO Reihenfolge der Vollstreckung vorzunehmen ist. Dies
setzt nach – hier erfolgter - Ablehnung des entsprechenden Antrags des
Verurteilten bei der Vollstreckungsbehörde auch die Durchführung des
Vorschaltbeschwerdeverfahrens nach § 21 StrVollstrO voraus (vgl. nur Appl aaO),
das die damals anwaltlich vertretene Verurteilte indes nicht beschritten hat. Erst
der Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft ist gem. §§ 23 ff. EGGVG
der - Rechtskontrolle durch den Senat unterworfen. Ohne
vorgängige Entscheidung der Beschwerdebehörde kann der Senat nicht darüber
befinden, ob die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom
19.11.2007 bereits zum Halbstrafenzeitpunkt hätte unterbrochen werden müssen.
Ansonsten würde der Senat den vorgeschrieben Rechtsweg unterlaufen und
überdies unzulässig sein Ermessen an die Stelle des behördlichen setzen.
Überdies wäre aber eine Einschätzung der Vollstreckungsbehörden, dass es an
besonderen Umständen i.S. des § 57 II Nr. 2 StPO fehlt, jedenfalls
ermessensfehlerfrei, bzw. schiede selbst bei erfolgter (rückwirkender)
Unterbrechung zum Halbstrafenzeitpunkt eine bedingte Entlassung der
Verurteilten vor Verbüßung von 2/3 auch der Strafe aus dem Urteil vom 19..12007
bereits mangels Vorliegen besonderer Umstände aus.
Der Aussetzung des Strafrestes nach § 57 II Nr. 2 StGB kommt nach ständiger
Rechtsprechung des Senats zu (vgl. z.B. Beschl. v. 12.3.1998
- 3 Ws 293/98 mwN). Danach ist die Aussetzung der zweiten Strafhälfte zwar nicht
auf extreme Ausnahmefälle beschränkt (vgl. Senatsbeschl. v. 24.1.1997 - 3 Ws
135/97 und v. 9.4.1998 - 3 Ws 293/98 - jew. mwN; OLG Koblenz, StV 1991, 428).
Vielmehr genügen als „besondere Umstände“ solche, die im Vergleich mit den
gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen
von besonderem Gewicht sind. Auch durchschnittliche Milderungsgründe können
durch ihr Zusammentreffen ein solches Gewicht erlangen, dass ihnen in ihrer
Gesamtheit die Bedeutung „besonderer Umstände“ zuerkannt werden muss (vgl.
BGH, NStZ 1984, 360; BGH, NStZ 1986, 27). Ferner ist keiner der für die
Gesamtwürdigung wesentlichen Umstände von der Einbeziehung in die Prüfung
der „besonderen Umstände“ deshalb ausgeschlossen, weil er bei der Festlegung
der Strafe bereits berücksichtigt worden ist (vgl. BGH, NStZ 1985, 261). Von daher
können die im Urteil hervorgehobenen Milderungsgründe erneut in die
Gesamtabwägung eingestellt werden. Diese muss zusätzlich das Nachtatverhalten
und die prognoserelevanten Umstände, insbesondere die Entwicklung des
Verurteilten im Vollzug mit einschließen. Andererseits müssen im Rahmen dieser
Gesamtwürdigung auch die sogenannten negativen Tatfaktoren angemessen
gewichtet werden. Sie können die Gesamtheit der günstigen Umstände so
aufwiegen, dass - auch unter dem bei § 57 II Nr. 2 StGB zu berücksichtigenden
Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung (vgl. Senatsbeschl. v. 3.2.1997
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Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung (vgl. Senatsbeschl. v. 3.2.1997
- 3 Ws 78-80/97) - eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt als nicht
gerechtfertigt erscheint (vgl. Senatsbeschl. v. 9.7.1999 - 3 Ws 523/99). Der Senat
hält an seiner diesbezüglichen Rechtsprechung, die den Ausnahmecharakter des §
57 II Nr. 2 StGB unterstreicht, fest. Einer Auslegung dieser Norm, die in ihrer
Konsequenz dazu führen würde, dass sozial integrierte Ersttäter in der Regel nur
die Hälfte der Strafe verbüßen müssten, vermag sich der Senat hingegen nicht
anzuschließen (vgl. hierzu im Einzelnen Senat, Beschl. v. 20.4.2000 - 3 Ws 409/00).
Vorliegend gegeben die in der Hauptverhandlung bekannten und von der
erkennenden Kammer berücksichtigten Milderungsgründe – namentlich das
Geständnis, die bestehende finanzielle Notlage, die Beeindruckung durch die
Untersuchungshaft, die durch die Familiensituation (insbesondere Trennung von
den älteren Kindern) verursachte besondere Haftempfindlichkeit – selbst in ihrer
Gesamtheit der Straftat nicht das besondere Gepräge, welches zur Ausnahme
vom Gebot weiterer Strafvollstreckung berechtigt. Negativ fallen demgegenüber
nämlich ins Gewicht: die - teilweise einschlägigen - Vorstrafen, die Begehung der
Straftaten in laufender Bewährung, der Beginn der Betrugsserie nicht einmal 1
Monat nach der Verurteilung durch das Amtsgericht Mainz vom 09.01.2006, die
Vielzahl der Taten, ihre rasche Abfolge, der hohe entstandene (bzw. nach dem
Tatentschluss beabsichtigte) Schaden und vor allem die besondere Dreistigkeit
sowie Rücksichtslosigkeit bei der Begehung der Taten, die sich mit hoher
krimineller Energie bewusst gegen hochbetagte, nur zu geringem Widerstand
fähige Opfer unter skrupelloser Ausnutzung deren Einsamkeit und Hilfsbereitschaft
richteten.
Zwar ist die Verurteilte Erstverbüßerin und sind ihr Nachtatverhalten sowie ihre
Entwicklung im Vollzug durchaus positiv zu beurteilen. Sie hat sich aus der
Beziehung zu ihrem Mittäter gelöst. Ihre Beeindruckung durch den Vollzug und ihre
Reue wurden deutlich, namentlich wurde sie sich durch die lange Trennung von
ihren älteren Kindern der Konsequenzen ihrer Straffälligkeit für ihre Familie
bewusst. Sie hat sich im geschlossen Vollzug, in Lockerungen und längerfristig
auch im offenen Vollzug bewährt. Der soziale Empfangraum ist bereits strukturiert,
insbesondere verfügt sie über eine Wohnmöglichkeit bei ihrer Mutter und kann sie
sich der weiteren Unterstützung durch die Familienhilfe gewiss sein. Es kann
dahinstehen, ob sie sich bereits eine günstige Sozialprognose
erarbeitet hat. Jedenfalls geht diese nicht – wie es erforderlich wäre (vgl. Senat,
Beschl. v. 08.04.2010 – 3 Ws 2818/10 und v. 06.08.2010 – 3 Ws 714/10 – jew. mwN
– st. Rspr. – über die legalprognostische Lage hinaus, die für eine
bedingte Entlassung ohnehin erforderlich ist. Die im neuerlichen Antrag
hervorgehobene, gegenüber dem Verurteilungszeitpunkt noch erhöhte
Haftempfindlichkeit und verschlechterte persönliche Situation der Verurteilten und
ihrer Familie, namentlich die zunehmende Sorge um das Wohl ihrer älteren Kinder
– die Großmutter, die sie betreut, ist an Epilepsie erkrankt, der ältere Sohn nässt
ins Bett, verhält sich zunehmend aggressiv und hat Schulprobleme – sind
jedenfalls nicht von einem solchen Gewicht, dass sie ausnahmsweise den
Ausschlag für die Annahme geben könnten, es lägen besondere Umstände vor.
Dies gilt umso mehr, als mit Blick auf die gewerbsmäßige Begehungsweise und die
besondere Gemeinschädlichkeit der Betrugstaten dem Gesichtspunkt der
Verteidigung der Rechtsordnung im besonderen Maße Beachtung zu zollen ist (vgl.
Senat, Beschl. v. 08.04.2010 – 3 Ws 282/10 mwN – st. Rspr.).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.