Urteil des LG Hagen vom 07.12.2006
LG Hagen: ärztliche behandlung, gesetzliche vermutung, diabetes mellitus, medikament, schlaganfall, beweiserleichterung, kausalzusammenhang, telegramm, ausnahme, schmerzensgeld
Landgericht Hagen, 6 O 7/06
Datum:
07.12.2006
Gericht:
Landgericht Hagen
Spruchkörper:
6. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 O 7/06
Nachinstanz:
Oberlandesgericht Hamm, 3 U 30/07
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung
in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
1
Der Kläger macht gegen die Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch geltend, gegen
den Beklagten zu 1) wegen Verschreibung des Schmerzmittels Vioxx Dolor 50 mg, das
von der Beklagten zu 2) vertrieben wird.
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Der Kläger leidet seit Jahren an Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Adipositas,
Hyperurikämie und Hypertonie. Er wird seit Jahren wegen dieser Krankheiten ärztlich
behandelt und hat entsprechende Medikamente einzunehmen; er ist wegen der
verschiedenen Erkrankungen zwischenzeitlich erwerbsunfähig. Er war zum Zeitpunkt
der Einnahme des Schmerzmittels 59 Jahre alt.
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Am 04.11.2003 begab er sich in die ärztliche Behandlung des Beklagten zu 1), der ihn
auch schon früher behandelt hatte, wegen einer akuten Schwellung der Füße und
Fußgelenke, die erhebliche Schmerzen verursachte. Nach eingehender Untersuchung
verordnete der Beklagte zu 1) dem Kläger das Medikament Vioxx Dolor 50 mg, wobei
der Kläger jeweils eine Tablette täglich einnehmen sollte. Am 06.11.2003 begab sich
der Kläger in Behandlung des Internisten N F, der ihm gleichfalls dieses Medikament,
jedoch in der Dosierung 25 mg verschrieb.
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Am 08.11.2003 trat bei dem Kläger eine Lähmung der linken Körperseite (Hemiparese)
sowie eine Empfindungsstörung (Hemihypästhesie) auf. Der Blutdruck des Klägers
betrug 240/120 mmHg. Der Kläger wurde deshalb mit einem Notarztwagen in das
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Evangelische Krankenhaus nach V gebracht. Dort wurde unter anderem die Diagnose
eines Mediainfarkts rechts gestellt. Entgegen ärztlichen Rates verließ der Kläger noch
am selben Tag das Krankenhaus wieder. In den nächsten Tagen traten Sehstörungen
auf. Am 11. November 2003 führte der Radiologe Dr. N eine Computertomografie durch,
bei dem eine Ischämiezone rechts occipital im Rindenbereich festgestellt wurde, die auf
einen Hirninfarkt hindeuten konnte. Nachdem sich das Krankheitsbild erneut
verschlechtert hatte, begab sich der Kläger in der Zeit vom 14. – 19.11.2003 erneut in
ärztliche Behandlung. Bei einer weiteren Computertomografie wurde ein Gehirninfarkt
rechts occipital im Rindenbereich der Arteria cerebri posterior nachgewiesen. Ferner
stellte eine Augenärztin einen Gesichtsfeldausfall auf beiden Augen fest (homonyme
Hemianopsie).
In der zum Zeitpunkt der Behandlung aktuellen Fachinformation (Stand August 2003)
über das Schmerzmittel VIOXX Dolor war unter "Nebenwirkungen" unter anderem
aufgeführt:
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"Einzelfälle: Zerebrovaskulärer Insult (Kausalzusammenhang nicht nachgewiesen),
hypertensive-) Krise..."
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In der Gebrauchsinformation (ebenfalls Stand August 2003) war unter
"Nebenwirkungen" ein entsprechender Hinweis enthalten:
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"Einzelfälle: Schlaganfälle (ursächlicher Zusammenhang nicht nachgewiesen),
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starker Blutdruckanstieg (hypertensive Krise)".
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Fachinformation sowie der Gebrauchsinformation
wird auf die Anlagen B 2 und B 3 zur Klageerwiderung der Beklagten zu 2) Bezug
genommen.
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Der Kläger wirft dem Beklagten zu 1) vor, er habe ihm, insbesondere bei den bekannten
Vorerkrankungen des Klägers, das Medikament Vioxx Dolor 50 mg nicht verschreiben
dürfen, da auch schon zum damaligen Zeitpunkt bekannt gewesen sei, dass das
Schlaganfallrisiko mit Einnahme des Medikaments deutlich erhöht werde, und stützt sich
hierzu auf verschiedene Veröffentlichungen, die er mit Schriftsatz vom 14.06.2006 (Blatt
92 ff. der Akten) überreicht hat, auf die wegen der weiteren Einzelheiten Bezug
genommen wird.
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Der Kläger behauptet, er habe in der Zeit vom 04. bis 08.11.2003 jeweils eine Tablette
des Medikaments Vioxx Dolor 50 mg eingenommen. Das Rezept des weiter
behandelnden Arztes F1 habe er zwar eingelöst, diese Tabletten jedoch nicht
eingenommen. Er geht davon aus, dass der Schlaganfall am 08.11.2003 ursächlich und
allein ausgelöst worden ist durch das Medikament. Er behauptet weiter, er habe nach
wie vor Gangschwierigkeiten; auch die Sehstörungen seien immer wieder aufgetreten.
Er leide deshalb noch heute unter den Folgen des Schlaganfalls.
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Er beantragt,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn
15
ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes
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Schmerzensgeld nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe seit
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Klagezustellung zu zahlen.
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Die Beklagten beantragen jeweils,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bestreiten die Einnahme des Medikaments durch den Kläger mit Nichtwissen. Sie
behaupten, es sei bis heute nicht nachgewiesen, dass die Einnahme des Medikaments
Vioxx Dolor 50 mg zu einer Erhöhung des Schlaganfallrisikos führe. Vielmehr sei der
von dem Kläger erlittene Schlaganfall auf die Vorerkrankungen zurückzuführen. Der
Beklagte zu 1) behauptet insbesondere, dass für ihn zum Zeitpunkt der Behandlung
weder bekannt noch absehbar war, dass dieses Mittel dem Patienten schaden könnte.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die wechselseitigen Schriftsätze,
insbesondere auf die umfangreichen Ausführungen der Beklagten zu 2) zum
Medikament VIOXX Dolor Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
23
I.
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Die Klage ist weder gegen den Beklagten zu 1) noch gegen die Beklagte zu 2)
begründet.
25
1.
26
Ein Schmerzensgeldanspruch gegen den Beklagten zu 1) gemäß den §§ 280 Abs. 1,
823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ist schon deshalb nicht gegeben, weil eine
Pflichtverletzung des Beklagten zu 1) nicht ersichtlich ist.
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Der Kläger hat nicht dargelegt, dass zum Zeitpunkt der Behandlung durch den
Beklagten zu 1) ein erhöhtes Schlaganfallrisiko bekannt war oder dem Beklagten zu 1)
hätte bekannt sein müssen. Aus der Fachinformation sowie der Gebrauchsinformation,
die von der Beklagten zu 2) herausgegeben war, ergibt sich ein solches erhöhtes Risiko
nicht. Vielmehr ist darin jeweils nur von "Einzelfällen" die Rede, in denen Schlaganfälle
aufgetreten seien, wobei der Kausalzusammenhang nicht nachgewiesen sei. Ein
solcher Hinweis brauchte dem Beklagten zu 1) nicht daran zu hindern, dem Kläger
dieses Medikament zu verschreiben.
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Auch die von dem Kläger vorgelegten Fachinformationen lassen nicht erkennen, dass
dem Beklagten zu 1) ein erhöhtes, nicht vertretbares Schlaganfallrisiko bei Einnahme
des Medikaments bekannt war oder hätte bekannt sein müssen. Die vorgelegten
Publikationen datieren alle, bis auf eine Ausnahme, aus der Zeit nach der Behandlung
des Klägers. Soweit etwa in dem Artikel über die Schweizer Studie vom 05.11.2004
davon die Rede ist, die VIOXX-Risiken seien schon vor Jahren zu erkennen gewesen,
so betrifft dies, auch nach der Aussage dieses Artikels, nicht den einzelnen,
behandelnden Arzt, sondern die Herstellerfirma und allenfalls entsprechende
Fachkreise. Denn diese Erkenntnis soll sich aus umfangreichen Studien bei zutreffender
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Auswertung ergeben. Es liegt auf der Hand, dass von einem einzelnen Arzt die
Kenntnisnahme und Auswertung derartiger umfangreicher Studien nicht verlangt
werden kann. Der Auszug aus dem arznei-telegramm von 2003 Nr. 12 stammt offenbar
aus Dezember 2003, wurde also erst nach der Behandlung des Klägers durch den
Beklagten zu 1) herausgegeben. Dies ergibt sich auch aus dem Zitat unmittelbar über
dem vom Kläger zitierten Artikel über Sehstörungen, worin auf ein Ärzteanschreiben
vom 18.11.2003 – also einem Zeitpunkt nach der Behandlung des Klägers - Bezug
genommen wird. Allein das arznei-telegramm aus September 2001 ist vor der
Behandlung des Klägers erschienen. In diesem Artikel ist jedoch, soweit dieser vom
Kläger überreicht wurde, lediglich von einem erhöhten Risiko der Kardiotoxizität und
einem kardiovaskulären Schädigungspotenzial die Rede. Von einem erhöhten
Schlaganfallrisiko handelt der Artikel, soweit er vorliegt, nicht. Beides kann jedoch nicht
ohne weiteres gleichgesetzt werden. Vielmehr hat die Prozessbevollmächtigte der
Beklagten zu 2) in der mündlichen Verhandlung überzeugend darauf hingewiesen, dass
über die Ursachen schädlicher Wirkungen dieses und ähnlicher Medikamente ohnehin
wenig bekannt sei. Man könne schädliche Wirkungen lediglich aus den statistischen
Daten, die sich aus Langzeitstudien ergeben, entnehmen. Deshalb könne auch nicht
automatisch von einem erhöhten Herzinfarktrisiko auf ein erhöhtes Schlaganfallrisiko
geschlossen werden.
2.
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Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch scheitert gegenüber beiden Beklagten im
übrigen daran, dass er den Beweis nicht führen kann, dass die Einnahme des
Medikaments kausal gewesen ist für den später erlittenen Herzinfarkt. Es ist allgemein
bekannt, insbesondere auch der Kammer aus zahlreichen weiteren
Arzthaftungsprozessen, dass die Vorerkrankungen des Klägers, und zwar schon jede für
sich genommen, bereits zu einem erhöhten Schlaganfallrisiko führten. Da für den Kläger
vorliegend keine Beweiserleichterung gilt, kann dies die Kammer abschließend aus
eigener Kenntnis ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens entscheiden.
Dem Beklagten zu 1) ist kein grober Behandlungsfehler vorzuwerfen, der zu einer
Beweiserleichterung für den Kläger führen könnte. Insoweit kann auf die obigen
Ausführungen Bezug genommen werden. Auch hinsichtlich des Anspruchs gegen die
Beklagte zu 2), der insbesondere auf § 84 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) gestützt
werden könnte, tritt für den Kläger keine Beweiserleichterung ein. Die Vermutungsregel
des § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG greift nicht ein. Dem steht die Regelung des § 84 Abs. 2
Satz 3 AMG entgegen, wonach die Vermutung nicht gilt, wenn ein anderer Umstand
nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen.
Dies war jedoch aufgrund der zahlreichen Vorerkrankungen des Klägers, die jede für
sich geeignet war, einen Schlaganfall hervorzurufen, der Fall. Der Kläger kann sich
deshalb auf die gesetzliche Vermutung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG nicht stützen und
muss auch insoweit den Vollbeweis für die Verursachung des Schlaganfalls durch das
fragliche Medikament führen. Dies ist entsprechend der obigen Ausführungen nicht
möglich.
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II.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 709 Satz 1 ZPO.
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