Urteil des LG Hagen vom 19.06.2010

LG Hagen (anlage, netz, abgabe von elektrizität, elektrische anlage, elektrizität, gefährdungshaftung, strom, zpo, energie, schaden)

Landgericht Hagen, 1 S 34/09
Datum:
19.06.2010
Gericht:
Landgericht Hagen
Spruchkörper:
1. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 S 34/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Hagen, 15 C 1/09
Rechtskraft:
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 27.02.2009 verkündete
Urteil des Amtsgerichts I abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1
I.
2
Die Klägerin betreibt das Netz für die allgemeine Stromversorgung in I. Die Beklagte
bezieht von der Klägerin Strom für ihren Betrieb. Die Beklagte betreibt damit ein eigenes
10 kV-Netz, das über eine 10 kV-Schaltanlage geregelt wird, die mit
Kurzschlussschnellauslösern ausgestattet ist.
3
Am 20.03.2006 entstand bei der Zuschaltung der Anlage der Beklagten ein Kurzschluss,
weil versäumt worden war, zuvor die Erdung der Schaltanlage zu entfernen. Dieser
Hergang ist von der Beklagten in zweiter Instanz nicht mehr in Abrede gestellt worden.
Durch den Bedienungsfehler entstand eine extrem hohe Stromabnahme aus dem Netz
der Klägerin mit der Folge einer entsprechend hohen Stromstärke, die den IS-Begrenzer
im Umspannwerk der Klägerin auslöste. Anschließend reagierten auch die
Kurzschlussschnellauslöser der Schaltanlage der Beklagten mit der Folge, dass das
ganze Werk spannungslos war. Die Kosten für die Reparatur des IS-Begrenzer in Höhe
von 4511,65 Euro beansprucht die Klägerin von der Beklagten.
4
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 540 Abs. 1
Nr. 1 ZPO auf die Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Bezug genommen.
Ergänzend hierzu ist auszuführen, dass die Beklagte bereits in erster Instanz
vorgetragen hat, dass ihre Schaltanlage nachVorgaben der Klägerin errichtet worden
sei (Schriftsatz vom 25.04.2008, Blatt 105 der Akten). Die Klägerin hat erstmals im
Kammertermin am 19.06.2009 bestritten, der Beklagten Vorgaben gemacht zu haben.
Sie habe die Schaltanlage der Beklagten lediglich abgenommen, wobei die Abnahme
als solche unstreitig ist.
5
Das Amtsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Der
Schadensersatzasnpruch der Klägerin ergebe sich aus § 2 Abs. 1 HPflG. Bei der 10 kV-
Anlage der Beklagten handele es sich um eine Anlage zur Leitung und Abgabe von
Elektrizität und die Beschädigung des IS-Begrenzers der Klägerin sei durch die Wirkung
von Elektrizität, die von der Anlage der Beklagten ausgegangen sei, eingetreten. Die
Schadenshöhe sei nach dem Gutachten des Sachverständigen Dipl-Ing. I2 berechtigt.
6
Die Beklagte hat gegen das ihr am 04.03.2009 zugestellte Urteil des Amtsgerichts am
20.03.2009 Berufung eingelegt und diese am 30.04.2009 begründet. Sie hält an ihrer
Auffassung fest, dass der von einer Kundenanlage verursachte Kurzschluss keine
Gefährdungshaftung gem. § 2 HPflG auslöse. Die schadensursächliche Elektrizität sei
nicht von der Anlage der Beklagten ausgegangen, sondern vom Netz der Klägerin.
7
Die Beklagte beantragt,
8
unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts I vom 27.02.2009,
9
die Klage abzuweisen.
10
Die Klägerin beantragt,
11
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
12
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und hebt erneut hervor, dass die Ursache des
Schadens in dem von der Beklagten betriebenen 10 kV-Leitungsnetz zu suchen sei, wo
der Kurzschluss entstanden sei. Damit sich derartige Störungen nicht mit
weitreichenden Folgen auf das weitere Versorgungsnetz der Klägerin auswirken
könnten, sei eine Sicherung mit IS-Begrenzern erforderlich.
13
II.
14
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
15
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der
Aufwendungen, die für die Reparatur des IS-Begrenzers angefallen sind, der am
20.03.2006 in ihrem Umspannwerk Oege ausgelöst wurde, weil bei der Beklagten ein
Kurzschluss verursacht worden war.
16
Ein Schadensersatzanspruch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG besteht nicht.
17
Zwar stellt die Schaltanlage der Beklagten, die durch Fehlbedienung den Kurzschluss
18
verursacht hat, eine Anlage im Sinne dieser Vorschrift dar, denn sie dient sowohl dem
Transport von Strom wie auch der Abgabe von Strom an das betrieblich genutzte 10 kV-
Netz der Beklagten.
Der Schaden am IS-Begrenzer der Klägerin ist aber nicht durch die Wirkung von
Elektrizität, die von der Schaltanlage der Beklagten ausging, verursacht worden.
19
Im vorliegen Fall ergab sich folgende Ursachenkette:
20
Die Schaltanlage der Beklagten war aufgrund einer Fehlbedienung geerdet; hierdurch
forderte die Anlage der Beklagten eine extrem hohe Strommenge aus dem Netz der
Klägerin an. Die hohe Abnahme von Strom verursachte im Netz der Klägerin den hohen
Kurzschlussstrom, der den IS-Begrenzer auslöste. Der IS-Begrenzer wurde demnach
durch die Wirkung von Elektrizität beschädigt, diese ging aber gerade nicht von der
Anlage der Beklagten aus, sondern vom Netz der Klägerin. Auch wenn der Stromfluss
im Netz der Klägerin durch den Kurzschluss der Beklagten unmittelbar beeinflusst
worden ist, so ändert dies nichts daran, dass in dieser Situation der konzentrierte
Elektrizitätstransport zum Zweck der Abgabe der Energie von der Anlage der Klägerin
aus zu der Anlage der Beklagten hin stattfand und nicht umgekehrt. Nach Auffassung
der Kammer ist für die Haftung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG entscheidend, welche
Funktion die beteiligten Anlagen gerade in der zum Schaden führenden Situation
erfüllen. Nur dann ist nämlich der Schutzzweck der Vorschrift berührt, wonach die mit
den aufgezählten Funktionen verbundenen, besonderen Gefahren zu einer
Gefährdungshaftung führen sollen (vgl. Filthaut, HPflG, 7. Auflage, § 2 Randziffer 22;
Geigel/Kaufmann, Der Haftpflichtprozess, 25. Auflage, Kapitel 26 Randziffer 65).
Entgegen der Auffassung der Klägerin kann es zur Begründung der
Gefährdungshaftung ihr gegenüber nicht genügen, dass die Schaltanlage der Beklagten
grundsätzlich auch Transport- und Abgabefunktionen hat, wie sie in § 2 Abs. 1 Satz1
HPflG geregelt sind. Die Schaltanlage leitet die Energie nämlich zu dem
betriebseigenen 10 kV-Netz der Beklagten weiter und gibt sie dahin ab. Nur bezüglich
solcher Schäden, die bei Ausübung dieser Funktionen verursacht werden, unterliegt die
Beklagte auch der Gefährdungshaftung des § 2 HPflG. In diesen Fällen geht die Energie
auch von der Schaltanlage der Beklagten, die die Elektrizität an das betriebseigene
Netz weiterleitet, aus. Entsteht der Schaden jedoch wie im vorliegenden Fall in einem
Bereich, in dem die Energie von dem Versorgungsunternehmen ausgeht und von
diesem zum Zweck der Abgabe an den Kunden weitergeleitet wird, steht dem
Versorgungsunternehmen gegenüber dem Kunden kein Anspruch aus
Gefährdungshaftung gem. § 2 Abs. 1 Satz1 HPflG zu. Damit ist das
Versorgungsunternehmen nicht – wie die Klägerin befürchtet – rechtlos gestellt, weil in
einer solchen Situation Ansprüche wegen Zustandshaftung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2
HPflG, wegen Vertragspflichtverletzung gemäß § 280 BGB und wegen unerlaubter
Handlung in Betracht kommen.
21
Im vorliegenden Fall liegen allerdings auch die Voraussetzungen für diese
Anspruchsgrundlagen nicht vor.
22
Eine Haftung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 HPflG (Zustandshaftung) scheidet aus, weil sich
die Anlage der Beklagten zur Zeit der Schadensverursachung in ordnungsgemäßem
Zustand befunden hat. Soweit der Sachverständige Dipl. –Ing I2 festgestellt hat, dass
die Leistungsschalter der Schaltanlage der Beklagten nicht ausreichend zeitselektiv
eingestellt waren, hat er gleichzeitig begründet, dass dieser Umstand für die
23
Beschädigung des IS-Begrenzers nicht ursächlich geworden ist.
Eine Verschuldenshaftung der Beklagten für den Schaden an dem IS-Begrenzer der
Klägerin ist ebenfalls nicht gegeben. Zwar beruhte der Kurzschluss auf einer
fahrlässigen Fehlbedienung der Schaltanlage der Beklagten, was diese in zweiter
Instanz nicht mehr in Abrede gestellt hat. Ein Schadensersatzanspruch der Klägerin
setzt aber weiter voraus, dass sich die Fahrlässigkeit auch auf den Eintritt einer
Rechtsgutsverletzung erstreckt. Für die Beklagte war aber unter den gegebenen
Umständen nicht vorhersehbar, dass ein an ihrer Schaltanlage ausgelöster Kurzschluss
zur Beschädigung der Anlage der Klägerin führen könnte. Der Energiekunde, der seine
elektrische Anlage wie die Beklagte ordnungsgemäß mit Kurzschlussschnellauslösern
abgesichert hat, darf im Regelfall davon ausgehen, dass damit die möglichen Gefahren
durch einen Kurzschluss beseitigt sind. Die Beklagte hatte keine Anhaltspunkte dafür,
dass die Klägerin ihr Netz zusätzlich vor hohen Kurzschlussströmen sichert, indem sie
IS-Begrenzer einbaut, die noch schneller reagieren als die Kurzschlussschnellauslöser
beim Kunden. Auch wenn die Verwendung von IS-Begrenzern bei Netzbetreibern nicht
unüblich ist, wie der Sachverständige festgestellt hat, so hat doch der Kunde keinerlei
Einblick in das technische Konzept des Netzbetreibers. Die Annahme der Beklagten,
dass ihre Schutzvorkehrungen gegen Kurzschlussgefahr ausreichend waren, wurde
noch dadurch bestärkt, dass die Klägerin die Kundenanlage in dieser Form unstreitig
ohne Beanstandung abgenommen hat. Ob die Schaltanlage außerdem nach Vorgaben
der Klägerin errichtet worden ist, was die Klägerin erstmals im Kammertermin bestritten
hat, ist nicht mehr entscheidend.
24
Auf die Berufung war die Klage deshalb mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO abzuweisen.
25
Die Entscheidung zur Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.
26
Die Kammer hat die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO zugelassen, weil die
Rechtssache grundsätzlich Bedeutung hat.
27