Urteil des LG Hagen vom 19.12.2001

LG Hagen: wichtiger grund, untersuchungshaft, fortdauer, haftbefehl, anfang, verhinderung, verfügung, kokain, datum, wahlverteidiger

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberlandesgericht Hamm, 2 BL 221/01
19.12.2001
Oberlandesgericht Hamm
2. Strafsenat
Beschluss
2 BL 221/01
Landgericht Hagen, 44 KLs 600 Js 253/01 (27/01)
Der Haftbefehl des Landgerichts Hagen vom 27. November 2001 - 44
KLs 600 Js 253/01 - wird aufgehoben.
Gründe:
I.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 7. Juni 2001 in Untersuchungshaft. Grundlage der
Haft war ursprünglich der Haftbefehl des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 7. Juni 2001 (AZ.:
6 Gs 312/01). Durch Beschluss vom 27. November 2001 hat das Landgericht Hagen diesen
Haftbefehl aufgehoben und einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, der
der am 16. August 2001 von der Staatsanwaltschaft Hagen vor dem Landgericht erhobenen
Anklageschrift angepasst worden ist. Dieser neu gefasste Haftbefehl, der dem Angeklagten
am 5. Dezember 2001 verkündet worden ist, legt ihm zur Last, in dem Zeitraum von Ende
1999 bis zu seiner Festnahme am 7. Juni 2001 in ... und anderen Orten durch acht
selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel
getrieben zu haben. Der Angeklagte soll zumindest seit 1999 Heroin und teilweise Kokain
verkauft haben, das er sich durch Bestellungen in Höhe von insgesamt mindestens 940
Gramm Heroin und 50 Gramm Kokain bei dem gesondert Verfolgten ... beschafft haben soll.
Er soll ... das für den Erwerb der Betäubungsmittel notwendige Geld zur Verfügung gestellt
und das Rauschgift nach Erhalt selbst sowie durch Einschaltung von Kleindealern an eine
Vielzahl von Abnehmern verkauft haben.
Wegen der Tatbegehung im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den
Inhalt des Haftbefehls und der Anklageschrift Bezug genommen.
Die von der Staatsanwaltschaft Hagen am 16. August 2001 vor dem Landgericht Hagen
erhobene und dem Angeklagten am 5. September 2001 zugestellte Anklage ist durch
Beschluss der zuständigen 4. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 27.
November 2001 zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Mit der Hauptverhandlung soll
nach Auskunft des Vorsitzenden der Strafkammer am 6. März 2002 begonnen werden. Es
ist ein Fortsetzungstermin für den 8. März 2002 vorgesehen. Eine frühere Terminierung war
allein wegen der Verhinderung des Wahlverteidigers des Angeklagten nicht möglich.
Das Landgericht Hagen hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten
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und die Akten dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß §§121, 122 StPO
vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über
sechs Monate hinaus anzuordnen.
II.
Die Voraussetzungen gemäß §121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Fortdauer der
Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind nicht gegeben.
Zwar ist der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.
Auch die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr begegnet keinen Bedenken.
Gleichwohl unterliegt aber der Haftbefehl der Aufhebung, da es an wichtigen Gründen im
Sinne von §121 Abs. 1 StPO fehlt, die die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs
Monate hinaus rechtfertigen könnten.
Das Verfahren ist nicht mit der in Haftsachen gebotenen, auf dem Freiheitsanspruch gemäß
Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG beruhenden Beschleunigung gefördert worden (vgl. BVerfGE 46, 194,
195 mit weiteren Nachweisen). Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger
Rechtsprechung betont, der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten
bzw. Angeklagten sei den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und
zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten und sein
Gewicht vergrößere sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender
Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; 36, 264, 270; 53, 152,
158 f.). Dem trägt die Norm des §121 Abs. 1 StPO Rechnung, wonach der Vollzug der
Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate
hinaus nur aufrecht erhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der
besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht
zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des §121 Abs. 1 StPO
lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs
Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271).
Das gilt namentlich für das hier allein in Betracht kommende Kriterium eines anderen
wichtigen Grundes im Sinne des §121 Abs. 1 StPO. Insoweit sind als Rechtfertigungsgrund
für die Haftfortdauer nur verfahrensimmanente Umstände anzuerkennen, die nicht auf
Fehlern oder Versäumnissen der Strafverfolgungsbehörden oder der Gerichte beruhen.
Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminschwierigkeiten des
Verteidigers ist kein solcher verfahrensimmanenter Umstand, auf den sich die Strafkammer
des Landgerichts berufen kann; vielmehr wird die Sachbehandlung durch das Landgericht
nicht mehr den Erfordernissen des §121 Abs. 1 StPO gerecht Nachdem die sehr zügig
geführten Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Hagen bereits am 16. August 2001 mit
der Erhebung der Anklage zum Abschluss gebracht worden sind, hat das Landgericht mit
Datum vom 27. November 2001 über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden.
Termin zur Hauptverhandlung ist erst für den 6. März 2002 anberaumt, da der
Wahlverteidiger wegen anderer Terminierung zu einem früheren Zeitpunkt nicht zur
Verfügung steht Zwar ist die Frage umstritten, ob und in welchem Umfang das Verhalten
des Beschuldigten oder seines Verteidigers ein die Fortdauer der Untersuchungshaft
rechtfertigender anderer wichtiger Grund im Sinne des §121 Abs. 1 StPO sein kann. Dies
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wird man bejahen können, wenn der zur Fortdauer der Untersuchungshaft führende
Umstand allein in der Sphäre des Beschuldigten bzw. Angeklagten und seines Verteidigers
liegt, dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten bzw. Angeklagten dient sowie für das
Gericht nicht vorhersehbar und damit auch nicht vermeidbar war (vgl. hierzu
Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., Rdnr. 888; Löwe-Rosenberg-Hilger,
StPO, 25. Aufl., §121 Rdnrn. 24 ff., 38 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Beschluss des
erkennenden Senats vom 10. Oktober 1995 in 2 BL 385/95 in StV 1996, 497 f.).
Auf einen solchen unvorhersehbaren und unvermeidbaren Umstand kann sich die
Strafkammer vorliegend aber nicht berufen. Sie hätte der zeitlichen Verzögerung, bedingt
durch die Verhinderung des Wahlverteidigers, nämlich dadurch wirksam begegnen
können, dass der Strafkammervorsitzende dem Angeklagten einen geeigneten
Pflichtverteidiger bestellt hätte. Durch die Verhinderung des Wahlverteidigers darf
jedenfalls nicht - wie hier - eine Verfahrensverzögerung von mehreren Monaten eintreten
(vgl. hierzu auch Löwe-Rosenberg-Hilger, a.a.O.; OLG Köln MDR 1991, 662, 663; OLG
Düsseldorf StV 1992, 586; siehe aber OLG Düsseldorf StV 1994, 326).
Denn der Vorsitzende der Strafkammer hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, er habe den
Wahlverteidiger, Rechtsanwalt ... aus ..., bereits Anfang Oktober 2001 darauf hingewiesen,
dass spätestens Anfang Dezember 2001 verhandelt werden müsse. Die Strafkammer habe
daraufhin Termine für eine etwaige Hauptverhandlung in der ersten Dezemberwoche frei
gehalten; ein konkreter Termin sei jedoch noch nicht zwischen den Prozessbeteiligten
abgesprochen worden. Der Verteidiger habe zunächst noch Rücksprache mit seinem
Mandanten nehmen wollen. Im November 2001 habe er sodann erneut Kontakt mit dem
Strafkammervorsitzenden aufgenommen und diesem mitgeteilt, wegen einer umfänglichen
Strafsache vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf kurzfristig keine Termine - auch nicht für
einen einzelnen Hauptverhandlungstag - mehr zur Verfügung zu haben und frühestens ab
6. März 2002 abkömmlich zu sein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre der
Strafkammervorsitzende gehalten gewesen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger
beizuordnen, um dem Verfahren Fortgang zu geben. Ein Zeitraum von sechs Monaten
zwischen dem Eingang der Anklage und dem ins Auge gefassten
Hauptverhandlungstermin Anfang März 2002 ist bei einem Verfahren wie dem
vorliegenden, das weder bezüglich seines Umfangs noch seines Schwierigkeitsgrades
irgendwelche Besonderheiten aufweist, im Hinblick auf den genannten
verfassungsrechtlich begründeten Anspruch des Angeklagten auf beschleunigte
Aburteilung nicht mehr hinnehmbar. Die Fortdauer der Untersuchungshaft bis zur
Hauptverhandlung Anfang März 2002 ist nicht mehr mit dem in Haftsachen geltenden
besonderen Beschleunigungsgebot zu vereinbaren.
Soweit der Strafkammervorsitzende in seinem Vermerk vom 5. Dezember 2001 mitgeteilt
hat, der Bruder des Angeklagten hätte in der gegen ihn im November 2001 vor der
Strafkammer stattgefundenen Hauptverhandlung angedeutet, bei seinem Bruder liege
möglicherweise eine Drogenabhängigkeit vor, hält der Senat es für geboten, dass
unverzüglich ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten beauftragt wird.
Nach alledem war der Haftbefehl aufzuheben (vgl. Beschlüsse des Senats vom 6.
November 1997 in 2 BL 372/97 und vom 7. Oktober 1999 in 2 BL 183/99, StV 2000, 90 =
StraFo 2000, 69).