Urteil des LG Giessen vom 29.03.2017

LG Gießen: vollstreckung der strafe, europäische union, verordnung, ewr, entzug, erwerb, berechtigung, inhaber, anerkennung, aussetzung

Gericht:
LG Gießen 1.
Große
Strafkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ns 603 Js
36155/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 28 Abs 4 Nr 2 FeV, § 28 Abs
4 Nr 3 FeV, § 21 Abs 1 Nr 1
StVG, § 2 Abs 1 StVG, Art 1
Abs 2 EWGRL 439/91
Vorlage von Fragen bezüglich des Anerkennens einer in
anderen Mitgliedstaaten der EU erworbener Fahrerlaubnis
zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof der
Europäischen Union
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Artikel 19 Abs. 3 lit. b des
Vertrages über die Europäische Union (EUV) i.V.m. Art. 267 des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind
a) Artikel 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 Abs. 4, 2 der Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991
über den Führerschein (91/439/EWG)
b) Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den
Führerschein (Neufassung)
dahin auszulegen,
1. dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen,
die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in
seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der Fahrerlaubnis im
Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im Aufnahmestaat
vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen Anforderungen an das
sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden seien;
2. bejahendenfalls: dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren,
es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte
Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der
Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im
Aufnahmestaat vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen
Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden
seien und aufgrund von Angaben auf dem Führerschein, sonstigen vom
Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen oder aufgrund
sonstiger unzweifelhafter Erkenntnisse, insbesondere etwaiger Angaben des
Führerscheininhabers selbst oder weiterer sicherer Erkenntnisse des
Aufnahmestaates, feststeht, dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7
Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt
– soweit sonstige unzweifelhafte Erkenntnisse, insbesondere etwaige Angaben des
Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des
Aufnahmestaates nicht ausreichen: Rühren Informationen auch dann im Sinne der
Rechsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat her, wenn sie nicht
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Rechsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat her, wenn sie nicht
unmittelbar, sondern nur mittelbar in Form einer auf solche Informationen
gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere der Botschaft des Aufnahmestaates im
Ausstellerstaat, übermittelt wurden –;
3. dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen,
die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in
seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn zwar die formalen Voraussetzungen
für den Erwerb eines Führerscheins im Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch
feststeht, dass der Aufenthalt allein dem Führerscheinerwerb und keinen weiteren
vom Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient
(Führerscheintourismus) ?
Gründe
I.
1. Der Angeklagte des vorliegenden Jugendstrafverfahrens, Herr …, geb. am …, ist
bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. In einem Verfahren wegen
Körperverletzung wurde er mit Beschluss des Amtsgerichts … vom 31.03.2004, …
ermahnt, das Verfahren wurde sodann eingestellt. In einem Verfahren wegen
Fahrens ohne Fahrerlaubnis (…) wurde gemäß Verfügung der Staatsanwaltschaft
… vom 26.01.2007 von der Verfolgung abgesehen. Mit Urteil des Amtsgerichts …
(…) vom 25.09.2006 wurde der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung
verwarnt und mit einem Freizeitarrest belegt. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts
… (…) vom 15.02.2007, …, wurde der Angeklagte wegen gemeinschaftlicher
schwerer räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von 9 Monaten verurteilt,
die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
2. Mit Urteil des Amtsgerichts … (…) vom 06.12.2007, …, wurde der Angeklagte
wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen sowie wegen Bedrohung in
Tateinheit mit Beleidigung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren verurteilt. Die
vorangegangene Verurteilung vom 15.02.2007 wurde hierin einbezogen, die
Entscheidung über eine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wurde
zurückgestellt. Der Verurteilung lagen neben der Bedrohung und Beleidigung vom
09.06.2006 Autofahrten des Angeklagten vom 08.03.2007 und vom 12.11.2007 zu
Grunde. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts … (…) vom 27.11.2008 (…) wurde
der Angeklagte unter Einbeziehung des vorgenannten Urteils vom 06.12.2007 des
Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 4 Fällen schuldig gesprochen. Es blieb jedoch bei
der Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren; die Entscheidung über eine Aussetzung der
Strafvollstreckung zur Bewährung wurde für die Dauer von 9 Monaten
zurückgestellt und bislang vom Amtsgericht nicht getroffen. Der Verurteilung
liegen Autofahrten Mitte April 2008, Ende April/Anfang Mai 2008, am 18.10.2008
und am 20.10.2008 zu Grunde.
3. Am 04.03.2008 beantragte der Angeklagte beim Landrat des Wetteraukreises
die Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B (Bl. 104 der Fahrerlaubnis-Beiakte).
Der Landrat machte die Erteilung der Fahrerlaubnis mit Schreiben vom
12.06.2008, Bl. 71 der Fahrerlaubnis-Beiakte, von der Vorlage eines für den
Angeklagten positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig. Der
Angeklagte unterzog sich der verlangten Begutachtung. Der Gutachter kam in
seinem Gutachten vom 08.09.2008, Bl. 92-77 der Fahrerlaubnis-Beiakte, zu dem
Ergebnis, dass nicht zu erwarten sei, dass der Angeklagte die körperlichen und
geistigen Voraussetzungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der
Gruppe 1 (Klassen B, L, M, S) im Straßenverkehr erfülle; es gebe Anhaltspunkte für
ein hohes Aggressionspotential.
4. Mit Bescheid vom 10.09.2008 (Bl. 95-93 der Fahrerlaubnis-Beiakte) lehnte der
Landrat des Wetteraukreises den Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ab
(Versagung der Fahrerlaubnis), weil der Angeklagte die körperlichen und geistigen
Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfülle. Der
Angeklagte verzichtete mit Erklärung vom 15.09.2008, Bl. 107 der Fahrerlaubnis-
Beiakte, auf Rechtsmittel gegen den Bescheid, der damit bestandskräftig wurde.
5. Am 24.11.2008 erwarb der Angeklagte in der Stadt … in der Tschechischen
Republik einen Führerschein für Kraftfahrzeuge der Klasse B. Nach Mitteilung der
Deutschen Botschaft in … (Bl. 85 d.A.) ist bei der Ausländerbehörde und der
Polizei in … nicht feststellbar, ob sich der Angeklagte um den 24.11.2008 in der
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Polizei in … nicht feststellbar, ob sich der Angeklagte um den 24.11.2008 in der
Tschechischen Republik aufhielt. Bei der Ausländerbehörde liegt nach der E-Mail-
Mitteilung der Botschaft vom 06.10.2009, Bl. 220 der Fahrerlaubnis-Beiakte,
lediglich eine Meldung für die Zeit vom 01.06.2009-01.12.2009 vor. Dort sei der
Führerschein … am 08.06.2009 ausgestellt worden. Ausweislich der Ablichtung des
Führerscheins Bl. 284 der Fahrerlaubnis-Beiakte erfolgte die erstmalige Erteilung
jedoch bereits am 24.11.2008.
6. Am 05.12.2008 befuhr der Angeklagte mit dem PKW BMW, amtliches
Kennzeichen …, die Bahnhofsallee in ….
7. Am 01.03.2009 befuhr der Angeklagte mit dem PKW Mercedes Benz, amtliches
Kennzeichen …, die …-Straße in ….
8. Das Amtsgericht … (…) – Jugendschöffengericht – hat den Angeklagten wegen
dieser beiden Fahrten mit Urteil vom 17.12.2009, …, des Fahrens ohne
Fahrerlaubnis (§§ 2 Abs. 1, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) in zwei Fällen schuldig
gesprochen. Gegen dieses Urteil, in dessen Feststellungen die Fahrt vom
01.03.2009 versehentlich nicht erwähnt wurde, hat der Angeklagte Berufung zur
vorlegenden Jugendkammer des Landgerichts eingelegt.
9. Das Jugendschöffengericht hat gemeint, die tschechische Fahrerlaubnis
berechtige den Angeklagte jedenfalls deshalb nicht zum Führen von
Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland, weil ihm vor ihrem Erwerb
eine Fahrerlaubnis in Deutschland versagt worden sei, § 28 Abs. 4 Nr. 3
Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV)
II.
Die §§ 2 Abs. 1 und 21 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 des deutschen (Bundes-)
Straßenverkehrsgesetzes (StVG) lauten:
§ 2 Fahrerlaubnis und Führerschein
(1) Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf der Erlaubnis
(Fahrerlaubnis) der zuständigen Behörde (Fahrerlaubnisbehörde). Die
Fahrerlaubnis wird in bestimmten Klassen erteilt. Sie ist durch eine amtliche
Bescheinigung (Führerschein) nachzuweisen.
(2) …
§ 21 Fahren ohne Fahrerlaubnis
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat
oder ihm das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach §
25 dieses Gesetzes verboten ist, oder
2. (…)
(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180
Tagessätzen wird bestraft, wer
1. eine Tat nach Absatz 1 fahrlässig begeht,
2. (…)
§ 28 Absätze 1, 4 und 5 der deutschen (Bundes-) Verordnung über die Zulassung
von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) lauten in der
vom 01.02.2005-15.01.2009 gültigen Fassung:
§ 28 Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedstaaten der Europäischen
Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum
(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen
Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland
haben, dürfen - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im
Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Auflagen zur
ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die
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ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die
Fahrerlaubnisse finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung, soweit
nichts anderes bestimmt ist.
(2) – (3) (…)
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-
Fahrerlaubnis,
1. die lediglich im Besitz eines Lernführerscheins oder eines anderen vorläufig
ausgestellten Führerscheins sind,
2. die zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es
sei denn, daß sie als Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die
Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben
haben,
3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht
oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde
entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist
oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie
zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,
4. denen auf Grund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine
Fahrerlaubnis erteilt werden darf oder
5. solange sie im Inland, in dem Staat, der die Fahrerlaubnis erteilt hatte, oder in
dem Staat, in dem sie ihren ordentlichen Wohnsitz haben, einem Fahrverbot
unterliegen oder der Führerschein nach § 94 der Strafprozeßordnung
beschlagnahmt, sichergestellt oder in Verwahrung genommen worden ist.
(5) Das Recht, von einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis nach einer der in Absatz 4
Nr. 3 und 4 genannten Entscheidungen im Inland Gebrauch zu machen, wird auf
Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr
bestehen. § 20 Abs. 1 und 3 gilt entsprechend.
§ 28 Absätze 1, 4 und 5 der deutschen (Bundes-) Verordnung über die Zulassung
von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) lauten in der
ab 19.01.2009 gültigen Fassung (Änderungen sind hervorgehoben):
§ 28 Anerkennung von Fahrerlaubnissen aus Mitgliedstaaten der Europäischen
Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum
(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen
Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland
haben, dürfen - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im
Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Auflagen zur
ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die
Fahrerlaubnisse finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung, soweit
nichts anderes bestimmt ist.
(2) –(3) (…)
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-
Fahrerlaubnis,
1. die lediglich im Besitz eines Lernführerscheins oder eines anderen vorläufig
ausgestellten Führerscheins sind,
2. die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat
herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren
ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass daß sie als Studierende,
Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines
mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben,
3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht
oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde
entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist
oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie
zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,
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4. denen auf Grund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine
Fahrerlaubnis erteilt werden darf oder
5. solange sie im Inland, in dem Staat, der die Fahrerlaubnis erteilt hatte, oder in
dem Staat, in dem sie ihren ordentlichen Wohnsitz haben, einem Fahrverbot
unterliegen oder der Führerschein nach § 94 der Strafprozeßordnung
beschlagnahmt, sichergestellt oder in Verwahrung genommen worden ist.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 kann die Behörde einen feststellenden
Verwaltungsakt über die fehlende Berechtigung erlassen. Satz 1 Nr. 3 und 4 ist nur
anzuwenden, wenn die dort genannten Maßnahmen im Verkehrszentralregister
eingetragen und nicht nach § 29 des Straßenverkehrsgesetzes getilgt sind.
(5) Das Recht, von einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis nach einer der in Absatz 4
Nr. 3 und 4 genannten Entscheidungen im Inland Gebrauch zu machen, wird auf
Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr
bestehen. Absatz 4 Satz 3 sowie § 20 Abs. 1 und 5 gelten entsprechend.
III.
Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG (anwendbar für beide Fahrten des
Angeklagten) bzw. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG (anwendbar für die
Fahrt vom 01.03.2009) werden die von den Mitgliedsstaaten ausgestellten
Führerscheine gegenseitig anerkannt. Art. 8 Abs. 4 der RL 91/439/EWG sieht vor,
dass ein Mitgliedsstaat es ablehnen kann, die Gültigkeit eines Führerscheins
anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedsstaat einer Person ausgestellt
wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie
genannten Maßnahmen (Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der
Fahrerlaubnis) angewendet wurde. Entsprechende Regelungen finden sich auch in
Art. 11 Abs. 4 der RL 2006/126/EG (gültig ab 19.01.2009), die hinsichtlich
Einschränkung, Aussetzung und Entzug dahingehend verschärft sind, dass die
Nichtanerkennung nun zwingend vorgeschrieben ist.
Vor diesem Hintergrund fragt sich zunächst, ob die vom Jugendschöffengericht
angewandte Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV in den Fällen den
unionsrechtlichen Vorgaben genügt, in denen nicht eine bereits einmal erteilte
Fahrerlaubnis wieder entzogen, sondern bereits die erste Erteilung verweigert
(versagt) wird. So verhält es sich hier. Die tschechische Fahrerlaubnis war die
erste, die dem Angeklagten erteilt wurde, sein früherer Antrag in Deutschland
wurde zurückgewiesen. Nach Einschätzung der vorlegenden Kammer dürfte die
Regelung mit den unionsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sein. Der
Gerichtshof hat bereits in der Rechtssache Kapper (C-476/01) im Urteil vom
29.04.2004 ausgesprochen, dass einer Person nicht auf unbestimmte Zeit die
Anerkennung eines Führerscheins versagt werden dürfe, der ihr möglicherweise
später von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellt wird (Rn. 76). Dies hat der
Gerichtshof im Beschluss vom 28.9.2006, C-340/05, Rs. Kremer, Rn. 29, 34,
nochmals bestätigt.
Wenn die frühere Versagung einer Fahrerlaubnis allein die Nichtanerkennung der
später in einem anderen Mitgliedsstaat erworbenen Fahrerlaubnis nicht
rechtfertigt, fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 sowie Nr. 2 FeV, ob
dies doch der Fall ist, wenn die Fahrerlaubnis früher versagt wurde feststeht,
dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL
91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt. Der Gerichtshof
hat diese Frage, soweit ersichtlich, bislang lediglich für den Fall entschieden, dass
dem Führerscheinerwerb ein Entzug einer frühren Fahrerlaubnis vorangegangen ist
(Urt. v. 26.06.2008, C-329/06 und C-343/06, Rs. Wiedemann und Funk; auch in
dem Beschluss v. 28.09.2006, C-340/05, Rs. Kremer, wurde maßgeblich auf den
Entzug, nicht auf eine ebenfalls vorliegende Versagung abgestellt). Es fragt sich
daher, ob die in den Richtlinien nicht ausdrücklich erwähnte Versagung dem
Entzug gleichsteht.
Dabei fragt sich weiter, ob der Verstoß allein aufgrund von Angaben auf dem
Führerschein und sonstigen vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren
Informationen feststellbar sein muss, worauf das genannte Urteil des
Gerichtshofes vom 26.06.2008 hindeutet, oder auch sonstige unzweifelhafte
Erkenntnisse Berücksichtigung finden können, insbesondere etwaige Angaben des
Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des
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Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des
Aufnahmestaates. Sofern letzteres zu verneinen sein sollte, fragt sich, ob
Informationen auch dann im Sinne der Rechsprechung des Gerichtshofes vom
Ausstellerstaat herrühren, wenn sie nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar in
Form einer auf solche Informationen gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere
der Botschaft des Aufnahmestaates im Ausstellerstaat, übermittelt wurden. Die
nationale Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV n. F. würde bei unionsrechtlicher
Zulässigkeit von der Kammer in diesem Sinne ausgelegt.
Schließlich fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV, ob die Berufung
auf die Regelungen der Richtlinien missbräuchlich und damit unbeachtlich ist, wenn
zwar die formalen Voraussetzungen für den Erwerb eines Führerscheins im
Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch feststeht, dass der Aufenthalt allein dem
Führerscheinerwerb und keinen weiteren vom Unionsrecht, insbesondere den
Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union sowie der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient (Führerscheintourismus), die
Richtlinien der Anwendung nationaler die Anerkennung versagender
Bestimmungen in diesen Fällen also nicht entgegenstehen.
Es ist der vorlegenden Kammer aufgrund der deutschen Strafprozessordnung
nicht möglich, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung vor
Vorlage an den Gerichtshof abschließend zu klären, da die Hauptverhandlung nach
einer Entscheidung des Gerichtshofes ohne Bindung an frühere Feststellungen zu
wiederholen sein wird.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.