Urteil des LG Essen vom 09.10.1997

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Landgericht Essen, 6 O 326/96
Datum:
09.10.1997
Gericht:
Landgericht Essen
Spruchkörper:
6. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 O 326/96
Normen:
§§ 823, 847 BGB a. F.
Sachgebiet:
Bürgerliches Recht Zivilrecht
Leitsätze:
Schmerzensgeld, Verwechslung von Gewebeproben
Tenor:
Die unbekannten Erben nach dem am .... verstorbenen Prof. Dr. K. L1
werden verurteilt, an die Klägerin 50.000,-- DM (i. W.: fünfzigtausend
Deutsche Mark) nebst 4 % Zinsen seit dem ... zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß sie darüber hinaus verpflichtet sind, der
Klägerin allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der
ihr aus der fehlerhaften Begutachtung des histologischen Befundes der
Gewebsproben sowohl aus der Brust als auch aus den Lymphen in der
Zeit von ... bis ... noch erwächst, soweit die Ansprüche nicht auf einen
Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 62.000,-- DM vorläufig
vollstreckbar.
Die Sicherheitsleistung kann durch eine selbstschuldnerische
unbefristete Bürgschaft einer dem Einlagensicherungsfonds des
Bundesverbandes deutscher Banken angeschlossenen Bank oder einer
Sparkasse in der Bundesrepublik erbracht werden.
Tatbestand:
Die ...-jahrige Klägerin ist verheiratet und Mutter eines gesunden
Sohnes. Der Beklagte war Facharzt für Pathologie. Er verstarb am .....
Die Ehefrau des Beklagten, Frau S. L1 und sein Sohn L.-K. L1 haben die
Erbschaft ausgeschlagen. Der Nachlaßpfleger hat für die unbekannten
Erben des Herrn Prof. Dr. L1 auf Aufforderung der Klägerseite hin den
Rechtsstreit aufgenommen.
Die Klägerin wirft dem Beklagten Fehldiagnosen im Zusammenhang mit
der Befundung von Gewebeproben vor und begehrt deswegen
Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Am .... ertastete die Klägerin einen kleinen Knoten außerhalb ihrer linken
Brust kurz vor dem Brustansatz. Sie begab sich daraufhin zu ihrem
Frauenarzt, Herrn Dr. L2. Dieser ertastete den Knoten ebenfalls und
überwies sie an Herrn Dr. I1, der den Knoten in einer ambulanten
Operation am .... entfernte. Herr Dr. I1 entnahm bei dieser Operation
Gewebeproben und übersandte sie zur histologischen Befundung an
den Beklagten.
Dieser diagnostizierte in einer sogenannten Schnellschnittuntersuchung
ein bösartiges Karzinom und kam nach weiteren histologischen
Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin ein invasives
lobuläres Mammakarzinom mäßigen Differenzierungsgrades vorliege.
Die Klägerin erörterte den Befund mit Herrn Dr. L2, der den Beklagten
bat, ein Referenzgutachten durch Herrn Prof. Dr. C1 anfertigen zu lassen
Zu diesem Zweck übersandte der Beklagte Herrn Prof. Dr. C1 am ... drei
Objektträger - wie er behauptet, mit Schnittpräparaten zu den
Gewebeproben der Klägerin - zur Nachbegutachtung.
Herr Prof. Dr. C1 bestätigte die Diagnose des Beklagten.
Die Klägerin begab sich daraufhin in das katholische Krankenhaus K in
F, wo im Rahmen eines stationären Aufenthaltes in der Zeit vom ... bis
zum .... eine Tumorextirpation erfolgte. Der behandelnde Chefarzt Dr. S
übersandte weitere Gewebeproben zur Begutachtung an den Beklagten.
Die am ... und ... durchgeführten histologischen Untersuchungen des
Beklagten bestätigte eine Metastase eines invasiven lobulären
Mammakarzinoms. Die Befundung des Beklagten wurde in dem
ärztlichen Entlassungsbericht vom ... aufgenommen.
In der Folgezeit wurde die Klägerin chemotherapeutisch behandelt.
Nach Abschluß dieser Therapie wurden nochmals
Tumoruntersuchungen durchgeführt. Sämtliche weitere
Tumoruntersuchungen blieben ohne Befund.
Anfang ... forderte Herr Dr. L2, der eine auffällige Häufung von
bösartigen Karzinomen bei gutachterlichen Untersuchungen durch den
Beklagten festzustellen meinte, von dem Beklagten Gewebeproben
seiner Patientinnen heraus, um sie überprüfen zu lassen. Er stieß dabei
auf erhebliche Hemnisse und Ungereimtheiten.
Am ... kam es zu einem Brand im Institut des Beklagten, bei dem
zahlreiche Gewebeproben vernichtet wurden. Gewebeproben der
Klägerin sind seither nicht mehr auffindbar.
Die Klägerin erinnerte sich im Mai ... an die Herrn Prof. Dr. C1
übersandten Gewerbeproben und verlangte ein Identitätsgutachten. Im
Einverständnis mit Herrn Dr. L2 übersandte Herr Prof. Dr. C1 zwei von
den ihm zur Verfügung gestellten Schnittpräparaten an das Institut für
Rechtsmedizin ..., dort eingegangen am .... Herr Prof. Dr. I2 kommt in
seinem Identitätsgutachten zu dem Ergebnis, daß die untersuchten TNA-
Extrakte ein von der Merkmalskombination der Klägerin abweichendes
Ergebnis zeigen. Auch Prof. Dr. C2, der die dritte Gewebeprobe
untersuchte, kommt in seinem rechtsmedizinischen Gutachten vom ... zu
demselben Ergebnis.
Die Klägerin behauptet:
Der Beklagte habe Herrn Prof. Dr. C1 zum Zwecke der
Referenzbegutachtung drei Schnittpräparate übersandt, die nicht aus
dem ihr entnommenem Gewebe stammten, wohl aber die von dem
Beklagten ermittelten histologischen Kriterien erfüllt. Er habe damit seine
fehlerhafte Befundung des ihrem Körper entnommenen Gewebes
verschleiern wollen.
Zur Höhe des geltend gemachten Schmerzensgeldes weist die Klägerin
neben der Schwere der Eingriffe, so die Entfernung sämtlicher
Lymphknoten, darauf hin, daß durch die chemotherapeutische
Behandlung das Immunsystem dauerhaft gestört sei, daß sie
schwerwiegende psychische Schäden erlitten habe und daß sie auch
heute noch unter erheblichen Schmerzen im linken Arm leide.
Wegen der ungewissen künftigen beruflichen und medizinischen
Entwicklung, insbesondere aufgrund ihres geschwächten
Immunsystems, begehrt sie auch die Feststellung einer
Schadensersatzverpflichtung des Beklagten für Folgeschäden.
Die Klägerin beantragt,
die unbekannten Erben nach dem am ... verstorbenen Prof. Dr. med. K.
L1 zu verurteilen, an sie - die Klägerin - 50.000,-- DM nebst 4 % Zinsen
seit dem 10.09.1996 zu zahlen,
festzustellen,
daß sie darüber hinaus verpflichtet sind, ihr allen materiellen und
immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aus der fehlerhaften
Begutachtung des histologischen Befundes der Gewebsproben sowohl
aus der Brust als auch aus den Lymphen in der Zeit von ... bis ... noch
erwächst, soweit die Anspruche nicht auf einen
Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
Die unbekannten Erben des verstorbenen Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte behauptet:
Sämtliche von ihm durchgeführten medizinischen Begutachtungen der
ihm übersandten Gewebeproben hätten den Regeln ärztlicher Kunst und
ärztlichem Standard entsprochen. Die jeweiligen Ergebnisse der
Begutachtungen seien zutreffend gewesen. Herr Prof. Dr. I2 habe nicht
diejenigen Schnittpräparate begutachtet, welche er - der Beklagte - an
Herrn Prof. Dr. C1 übersandt habe. Die überprüften Schnittpräparate
seien jedenfalls nicht aus seinem Institut.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in den Einzelheiten wird
auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst
überreichten Anlagen Bezug genommen.
Die Kammer hat gemäß Beweisbeschluß vom 14.01.1997 Beweis über
etwaige Verwechselungsmöglichkeiten bei den der Klägerin
zuzuordnenden Gewebeproben durch Vernehmung der Zeugen Dr. I1,
Prof. Dr. I2, Prof. Dr. C1 und Frau I. C3 erhoben. Bezüglich des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom
24.03.1997 verwiesen. Ferner ist das von der Staatsanwaltschaft
eingeholte Gutachten des Prof. Dr. C2 vom 07.03.1997 (Bl. 228-237 d.
A.) urkundlich verwertet worden.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet.
Die Klägerin kann gem. §§ 823, 847 i. V. m. § 1922 BGB von den
unbekannten Erben des verstorbenen Beklagten ein Schmerzensgeld in
der zuerkannten Höhe verlangen. Auch das Feststellungsbegehren
hinsichtlich einer Ersatzpflicht für künftige und immaterielle Schäden ist
gerechtfertigt.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, daß die von Prof.
Dr. C1 untersuchten Gewebeproben nicht aus dem der Klägerin
entnommenen Gewebematerial stammten. Insoweit ist das
Identitätsgutachten von Prof. Dr. I2 eindeutig und wird durch das
Ergebnis des rechtsmedizinischen Gutachtens von Prof. Dr. C2 vom ...
indirekt bestätigt.
Es ist sicher davon auszugehen, daß das dem Beklagten am ... von Dr.
I1 zur histologischen Begutachtung zugesandte Gewebe aus dem von
Dr. I1 bei der Klägerin operativ entfernten Knoten entnommen war. Dies
ergibt sich aus der insoweit eindeutigen und
Verwechselungsmöglichkeiten ausschließenden Aussage des Zeugen
Dr. I1. Das von Prof. Dr. C1 untersuchte Gewebe stammte auch aus dem
am ... bei ihm eingegangenen, von dem Beklagten übersandten drei
Schnittproben. Dies hat der Zeuge Prof. Dr. C1 glaubhaft so bekundet.
Er hat bei seiner Vernehmung im einzelnen den Organisationsablauf in
seinem Institut geschildert.
Daraus hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, daß dort jedenfalls
keine Verwechslung vorgekommen ist. Aus den weiteren Bekundungen
des Zeugen Prof. Dr. C1 ergibt sich, daß er von diesem bei ihm am ...
eingegangenen drei Schnittproben zwei an Prof. Dr. I2 zur DNA-Analyse
übersandt hat. Aufgrund der Aussage des Zeugen Prof. Dr. I2 besteht
schließlich keinerlei Zweifel, daß die von ihm untersuchten
Schnittproben mit den von Prof. Dr. C1 übersandten Schnittproben
identisch waren. Dies wird indirekt auch dadurch bestätigt, daß auch die
dritte Schnittprobe, die Prof. Dr. C2 zur Begutachtung vorlag, ebenfalls
nicht der Klägerin zugeordnet werden konnte. Anhaltspunkte, die
Glaubwürdigkeit der vernommenen Ärzte und Professoren anzuzweifeln,
sind weder nachvollziehbar vorgetragen noch sonstwie ersichtlich. Im
Ergebnis ist daher insoweit festzuhalten, daß ausschließlich im
Verantwortungsbereich des Beklagten entweder bewußt oder zumindest
grob fahrlässig anderes als der Klägerin zuzuordnendes Gewebe zur
Referenzbegutachtung an Prof. Dr. C1 übersandt worden ist.
Dieses Beweisergebnis wird auch nicht durch die Aussage der Zeugin
C3 erschüttert, die bekundet hat, sämtliche an Prof. Dr. C1 übersandte
Objektträger auf das Anschreiben vom ... vor der Absendung aufkopiert
zu haben. Da diese Schnittproben -wie Prof. Dr. I2 bekundet hat- nicht
mit den ihm von Prof. Dr. C1 zugesandten Schnittproben identisch sind,
müßte danach -wäre die Aussage der Zeugin richtig- im Institut von Prof.
Dr. C1 eine Verwechselung der Schnittpräparate vorgekommen sein.
Die Kammer halt dies aber nach dem Organisationsablauf in diesem
Institut für ausgeschlossen.
Es bestehen auch gegen Glaubwürdigkeit der Zeugin Bedenken. Sie
will die Fotokopien zu ihrer Sicherheit gefertigt haben, daß aber auch
nur in einigen Fällen. Es fehlt jede nachvollziehbare Begründung dafür,
weshalb sie vor Absendung des Schreibens vom ... gerade die hier in
Rede stehenden Objektträger aufkopiert haben will. Auffällig ist
hingegen, daß sie dies auch in dem Rechtsstreit Q ./. Prof. Dr. L1 - 6 0
374/96 - getan haben will, ohne daß hierzu ein konkreter Anlaß bestand.
Im Hinblick auf das übrige Beweisergebnis und der unstreitigen
Gesamtumstände hält die Kammer diese Aussage für unrichtig und
vermutet, daß die Zeugin ihren damaligen Chef durch eine Manipulation
aus falsch verstandener Loyalität zu entlasten versucht hat.
Unter Zugrundelegung dieses Beweisergebnisses besteht eine
deliktische Haftung des Beklagten gem. §§ 823, 847 BGB.
Zwar ist eine fehlerhafte Diagnose nicht bewiesen. Denn die damals der
Klägerin entnommenen Gewebeproben sind nicht mehr auffindbar.
Insoweit kommt der Klägerin jedoch eine Beweislastumkehr zugute. Es
ist nämlich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, daß in
Arzthaftungsprozessen ein grob fehlerhaftes ärztliches Verhalten zu
einer Beweislastumkehr führt. Dazu zählt auch die Pflicht des Arztes, bei
der weiteren Aufklärung des Krankheitsbildes und der Diagnosestellung
mitzuwirken. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies, daß der
Beklagte verpflichtet war, die angefertigten Schnittpräparate
ordnungsgemäß zu archivieren und sie auf Anforderung zur weiteren
Begutachtung und Überprüfung weiterzuleiten. Gegen diese Pflicht hat
der Beklagte in grober Weise verstoßen, indem er nicht die
Gewebeproben der Klägerin an Prof. Dr. C1 übersandt hat, sondern die
anderer Personen. Nach Auffassung der Kammer trifft daher jetzt den
Beklagten die Beweislast, daß seine Befundung richtig und fehlerfrei
war. Dieser Beweis ist nicht erbracht und kann auch nicht mehr erbracht
werden, weil das der Klägerin zuzuordnende Gewebematerial fehlt.
Festzuhalten ist daher, daß der Beklagte, nach seinem Tode die
unbekannten Erben, der Klägerin auf Schadensersatz und
Schmerzensgeld haften.
Bei der Höhe des zuerkannten Schmerzensgeldes war zu
berücksichtigen, daß die Klägerin sich aufgrund der Diagnose des
Beklagten einer schweren Brustoperation unterziehen mußte. Darüber
hinaus wurde die gesamte Achsel aufgeschnitten und sämtliche
Lymphknoten entfernt. Seit dieser Zeit leidet die Klägerin unter
Schmerzen im linken Arm. Darüber hinaus wurde die Klägerin
chemotherapeutisch behandelt. Wegen sechs Zyklen war sie insgesamt
12 mal im Krankenhaus stationär untergebracht. Die Einzelbehandlung
war psychisch und physisch belastend, was keiner weiteren
Ausführungen bedarf. Schließlich solI die erhebliche psychische
Belastung infolge der unsicheren Diagnose eines bösartigen
Brustkrebses nicht unerwähnt bleiben. Seit dem ... hat die Klägerin einen
Schwerbehindertenausweis, wonach sie aufgrund ihrer Erkrankung zu
60 % behindert ist. Die mit der Erkrankung weiteren nachteiligen Folgen
für das gesamte Familienleben sind erheblich.
Unter Würdigung aller dieser nachteiligen Folgen für die körperliche und
seelische Verfassung der Klägerin hält die Kammer, auch unter
Heranziehung vergleichbarer Fälle, ein Schmerzensgeld in Höhe von
50.000,-- DM für gerechtfertigt.
Der Feststellungsantrag ist ebenfalls begründet, weil derzeit künftige
möglicherweise noch auftretende materielle und immaterielle Schäden
noch nicht vorhersehbar sind.
Der zuerkannte Zinsanspruch beruht auf § 291 ZPO.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.